Gib mir Sonne
Gib mir Wärme
Gib mir Licht
All die Farben wieder zurück
Verbrenn den Schnee
Das Grau muss weg
Schenk mir' n bisschen Glück (Rosenstolz, 2008)
Gib mir Wärme
Gib mir Licht
All die Farben wieder zurück
Verbrenn den Schnee
Das Grau muss weg
Schenk mir' n bisschen Glück (Rosenstolz, 2008)
Wenn es ein Schlagwort gibt, das den politischen Arm der "Generation Facebook" passend beschreibt, ist es "jung und naiv". Ganz Deutschland staunte über den Auftritt der jungen Grünen Theresa "Terry" Reintke, Franziska "Ska" Keller und Jan-Philipp "Jan" Albrecht.
"Jung und Naiv" heißt passend dazu auch ein ziemlich erfolgreiches Online-Videoformat. Es wurde von Redaktionsleiter Hans Hütt und Interviewer Tilo Jung entwickelt, hat mittlerweile über 200 Folgen und erreicht fünfstellige Klickzahlen Ein Grimme-Onlinepreis ist ihm auch schon zuteil geworden.
Das Prinzip besteht darin, dass der Interviewer entsprechend der alten Devise "Da stelle mer uns mal janz domm" auf jugendlich-rotzige Art von vorgeschobener Unwissenheit und Naivität geprägte Fragen stellt. Die Interviewpartner sind in der Regel bekannte Politiker, allerdings gibt es auch aus mehreren Beiträgen bestehende Reportagen - z. B. aus Israel und Palästina oder der Ukraine. Die Beiträge werden ungeschnitten ins Netz gestellt.
Aufmerksam geworden bin ich auf das Format durch Forenbeiträge des Kollegen Elkmann sowie des Stammforisten adder und die sich anschließende Diskussion, die unter anderem die Frage nach der Qualität des Journalismus sowie nach der Interviewtechnik aufwirft. Auslöser war dieses Interview mit Bundesumweltministerin Hendricks.
Daraufhin habe ich mir eine Menge Videos angeschaut und war erst mal ziemlich überrascht. Denn es ist etwas passiert, womit ich als durchaus ausdauernder und leidensfähiger Medienkonsument nun als allerletzes gerechnet hätte: Das Format regt dazu an, sich Gedanken zu machen. Und das mache ich jetzt.
Der Untertitel des Formats lautet "Politik für Desinteressierte" und ist weitgehend Koketterie. Zwar fragt Jung wirklich jede Grundlage ab - "Was ist ein Parteitag", "was ist ein Parlament", "wer ist Oskar Lafontaine" - aber gerade die Tatsache, dass letzte Frage ausgerechnet an Sahra Wagenknecht gerichtet wurde, zeigt schon, dass eine ganz andere Strategie dahintersteckt. Es geht darum, die Interviewpartner einerseits mit unerwarteten Fragen aus der Reserve zu locken, andererseits aber durch die sehr offene Art der Fragen und das ungeschnittene Format ihnen Entfaltungsspielraum zu geben. Hans Hütt erklärt das Prinzip in diesem Interview im DLF (ab ca. 3:20).
Martins Vermutung im Forum hat also durchaus ihre Berechtigung:
Vielleicht ist das auch nur ein besonders perfider Stil des Interviews, ein bisschen auf Kuschelkurs, ein junger Mann, dem man die Welt erklären kann und dabei seine grenzenlose Naivität offenbart? Vermutlich wäre die Dame einem professioneller auftretenden Interviewer gegenüber viel reservierter begegnet, so haben aber wohl auch ihre Alarmglocken nicht angeschlagen.Diese Beobachtung bestätigt sich auch, wenn man andere Interviews, die in ähnlicher Weise geführt wurden, zum Vergleich heranzieht. Ein Steffen Seibert ist trotz der ungewöhnlichen Interviewform wie gewohnt lupenreines Teflon. Der zieht einfach sein gewohntes Ding durch. Anders dagegen die Vertreter der Rot-Grünen: Trittin und Hofreiter, dazu die schon erwähnte Hendricks - in geringerem Maße auch Göring-Eckardt und Steinbrück - geben der Versuchung nach, die als jugendlich bezeichnete Zielgruppe mit geradezu schamlosen Vereinfachungen einzufangen. Sie wanzen sich ran.
Die Leistung von "Jung und Naiv" besteht also unter anderem darin, Politikern tatsächlich die Maske vom Kopf zu reißen, was ihren Umgang mit Medien angeht. Und gerade dadurch, dass er sie nicht - wie klassische Journalisten - von sich aus mit Inhalten konfrontiert, auf die sie nur im Sinne einer definierten Sprachregelung antworten müssen, entsteht Spannung, unter der die Person ans Tageslicht kommt. Nicht in jedem Gespräch, aber ich gebe offen zu: es wird nicht langweilig.
Macht das alles "Jung und Naiv" zu gutem Journalismus? Ist Tilo Jung ein guter Journalist? Hat es überhaupt mit Journalismus zu tun, oder ist es nicht eher Satire, wie das legendäre Interview von Ali G. mit "Boutros Boutros Boutros Boutros Ghali" oder Hape Kerkelings Frage "Wo bleibt die Mark?" in der Bundespressekonferenz?
Zunächst lohnt es sich, in einem derart selbstreferentiellen Bereich wie dem politischen Journalismus mal die Meinung anderer Medien einzuholen. Und die sind sich gar nicht einig. Der Tagesspiegel und die Süddeutsche kommen zu diametral entgegengesetzten Beurteilungen, die deutlich mehr über das jeweils eigene Journalismusverständnis aussagen als über das Rezensionsobjekt an sich. Wenn so etwas bei zwei Blättern passiert, die ja die gleiche Zielgruppe einmal aus Berlin und einmal aus München bedienen, scheint es tatsächlich ein komplexes Phänomen zu sein.
Ich bin der Meinung, dass "Jung und Naiv" ein sehr informatives Format ist. Wenn man allerdings das zugrunde liegende Konzept mitbedenkt, kann man sich den Zusatz nicht verkneifen: aller Wahrscheinlichkeit nach unfreiwillig.
Die Tatsache, dass Jung sich in den einzelnen Gesprächen weitgehend einer Bewertung enthält (immer gelingt es ihm auch nicht), ist für denjenigen Zuschauer, der von der politischen Voreingenommenheit der Journalisten die Nase voll hat und in der Lage ist, die Aussagen der Gesprächspartner selbst einzuordnen, eine wahre Wohltat. Der Lackmustest ist die 23-teilige Serie über den Nahostkonflikt, in der er vom Hamas-Führer bis zum IDF-Pressesprecher Stimmen aus dem gesamten Spektrum relativ ungefiltert zu Wort kommen lässt.
Das ist natürlich in unserer vom Impetus des Weltenerklärens getragenen Medienlandschaft ein Unding, und er hat die geziemenden Prügel dafür bezogen. In gewisser Weise zu Recht; denn wer sich auf die Fahnen schreibt, "Politik für Desinteressierte" zu erklären, sollte davon Abstand nehmen, dieses Format zu wählen. Denn wer sich nicht die gesamte Serie anschaut, was mindestens einen ganzen Tag dauert, sondern nur z. B. das äußerst widerliche Hamas-Interview ohne das großartige Schueftan-Interview, bei dem kann man nur hoffen, dass das Desinteresse für Politik auch weiterhin anhält.
Wenn der Tagesspiegel also behauptet, "Jung und Naiv" revolutioniert den Journalismus, so hat er in einem Punkt recht: Der gängige Journalismus in Deutschland gibt vor zu informieren, will aber Meinungen bilden. "Jung und Naiv" gibt vor, meinungsbildend wirken zu wollen, ist aber ein großartiges Informationsmedium für diejenigen, die an ungefilterte Informationen kommen wollen.
Ich habe zu Beginn der Rezension die Frage nach der Qualität zweigeteilt: Format und Moderator. Ist also Tilo Jung ein guter Journalist? Eher nicht.
Die Qualität seiner Interviews schwankt mit dem Gesprächspartner. Gehen die nämlich ins Detail, gibt er sein Konzept auf und führt eher klassische Interviews.
Auch an seiner Selbsteinschätzung kann er noch arbeiten. Wenn er sagt, „Ich suche Themen aus, die falsch, gar nicht oder viel zu wenig besprochen werden“, ist das angesichts seiner tatsächlichen Schwerpunkte ebenso wenig zutreffend wie seine Aussage, er wolle "Rechtsextremen keine Bühne bieten", sobald er seinen "friend from Hamas" begrüßt.
Außerdem gibt es bei anderen Themen (z. B. Schweiz) durch eine nicht ausgewogene Auswahl der Interviewpartner eine Einseitigkeit, bei der man eigentlich nicht am "ungefilterten" Konzept festhalten dürfte.
Was aber trotz allem wirklich eine hoch anerkennenswerte Leistung ist, ist seine relative Unvoreingenommenheit bei Interviews. Dazu muss man wissen, dass Tilo Jung, was seine eigenen politischen Überzeugungen angeht, fest im antiwestlichen Mainstream verortet ist. Kostproben aus seinem Facebook-Account:
Die israelische rechtsaußen Regierung ist sauer auf EU-Parlamentspräsident, weil er die herrschende Apartheid auch nur angedeutet hat... (12.2.2014)Das macht ihn zwar nicht sympathischer, aber wenn man bedenkt, wie die Hüter des unabhängigen, objektiven ÖR-Journalismus bereits mit weniger brisanten Gästen als Schueftan umspringen - Chapeau.
Dear American friends in those ten Swing States, since this is what you call democracy it's basically up to you today to decide on who is to become the world's most powerful & feared man... I urge you not to vote with your heart or your gut - make a rational decision instead. That means unless you are a misogynistic millionaire your vote simply cannot go to the Human Robot Mitt Romney. When in doubt, ask your friends. And they tell you: Vote Obama! He's the lesser of two evils. (6.11.2012)
Wie schon eingangs erwähnt ist ein großer Mehrwert der Sendung - der laut Hans Hütt diesmal sogar beabsichtigt ist - dass man als Zuseher dazu kommt, seine eigene Mediennutzung zu reflektieren. Für mich ist die Frage, ob ein solches Format guter oder schlechter Journalismus ist oder ob Tilo Jung ein toller Kerl oder ein Vollpfosten ist, ist überhaupt nicht relevant dafür, dass ich eine Menge lerne und oft gut unterhalten werde.
Unterhalten nicht zuletzt deswegen, weil sich bisweilen bei mir - je nach Sympathie für den Interviewpartner - auch ein gewisser Schlag-den-Raab-Effekt einstellt. Dann will ich, dass der "Typ zum Kuscheln" (FAZ) die ganz Harten kassiert.
Wie man mit ihm umgeht, ohne einen Meter Boden preiszugeben, zeigt ausgerechnet Christian Lindner. Eine weitere Überraschung.
Meister Petz
© Meister Petz. Titelvignette: Girl blowing bubbles. Von Fir0002/Flagstaffotos unter CC-BY-NC lizenziert. Mit Dank an alle Forumskollegen, die das Thema andiskutiert haben. Für Kommentare bitte hier klicken.