21. September 2013

Nichtwähler


Am Sonntag ist Bundestagswahl.
Das hat sich herumgesprochen, möchte man meinen. Aber danach sieht es nicht aus.
TV-Stationen, ob öffentlich-rechtlich oder privat, vermitteln den Eindruck, es ginge um die Wahl einer Kanzlerin – oder eines Kanzlers.
Da treten die amtierende Regierungschefin und ihr sogenannter Herausforderer an, als wählte Deutschland am 22. September so eine Art Präsidenten.

Als wäre dies nicht genug der Verzerrung, wird zum Ende des Wahlkampfes immer öfter von einer Wahlpflicht gesprochen.
Im Grunde scheint es nicht von Bedeutung zu sein, aus welchen politischen Beweggründen jemand wählen geht – ob er es tut, ist das, was allein zählt.
In diesem Punkt sind sich aufrechte Demokraten und unaufrichtige Systemwechsler einig.

Ich wurde das erste Mal in der DDR zu der letzten Wahl aufgerufen, die keine war. Dort gingen viele schon vor 10:00 Uhr zur Wahl, um nicht Besuch von den Wahlhelfern der Nationalen Front zu bekommen. Die kamen am späten Nachmittag auch mal mit der ganzen Urne vorbei. 
Nicht wählen zu gehen, machte einen in der DDR zum Staatsfeind.
Seinerzeit hatte ich einen Ausflug der Abgabe meiner Stimme vorgezogen, erst später, bei der Einsicht in meine „Unterlagen“, wurde mir klar, welche Bedeutung die Wahlbeteiligung für das Regime hatte. Der erste Punkt in dem Dossier über mich lautete:
Nichtwähler.

Diese Zeiten sind lange her und vorbei. Zur Freiheit gehört in einem freien Land die Wahlfreiheit nicht wählen zu gehen, ohne stigmatisiert zu werden, oder?

So sollte es sein, denke ich. Es gibt aber Ausnahmen, Australien zum Beispiel.
Dort herrscht Wahlpflicht. Die Verletzung dieser Pflicht wird mit einer milden Geldstrafe von 20,-$ sanktioniert und im Wiederholungsfall sogar mit einer Gefängnisstrafe.
In anderen Staaten der westlichen Demokratien, wie Belgien, Luxemburg und Italien besteht eine formelle Wahlpflicht, die aber nicht durchgesetzt wird.
Ansonsten gibt es auch Staaten, die die Wahlpflicht wieder abgeschafft haben, wie zum Beispiel Österreich und die Niederlande.
Es erfüllt mich mit Genugtuung Bürger eines Staates zu sein, der seine Bürger nicht zur Wahl zwingt.

Vor einer jeden Wahl jedoch, besonders einer Bundestagswahl, formiert sich eine Phalanx der Mahner und an das „demokratische Gewissen“ Appellierenden, die den Begriff der Pflicht in seiner moralischen, kantischen Bedeutung auch auf das Wahlrecht beziehen. 
Sie reden von einer demokratischen Pflicht wählen zu gehen oder einfach von einer Wahlpflicht die es in Deutschland aber gar nicht gibt, wie Peer Steinbrück. Dass dabei das Recht unter die Räder gerät, ficht sie nicht an. Auch nicht, dass sie den erheblichen Teil der Bevölkerung, welcher der Wahl fernbleibt, im Umkehrschluss unmoralisches und undemokratisches Verhalten vorhalten.

Wenn am Sonntag gewählt wird, werden einige dieser Politiker ganz selbstverständlich neben ihrem Bundestagsmandat auch ein Amt als Minister anstreben, und dies auch parallel wahrnehmen wollen.
Das heißt, sie vertreten dann Legislative und Exekutive in Personalunion.
So wie jeder Landespolitiker im Bundesrat.
Das verstößt nicht gegen das Grundgesetz (ganz so wie das Nichtwählen übrigens) weil Deutschland keine Gewaltenteilung, sondern eine Gewaltenverschränkung kennt.
Doch es stärkt die Dominanz der politischen Parteien.
Wäre die Wahlbeteiligung gering, würde diese Dominanz vermutlich mehr in Frage gestellt werden. 
Nicht die Legitimität des Parlaments leidet also unter einer geringen Wahlbeteiligung, sondern die Legitimität der Parteien und ihr Einfluss auf den Staat. Dieser Einfluss macht aus beiden Kammern unseres Parlaments parteipolitische Hinterzimmer.
Der Bundesrat wird immer wieder genutzt um Gesetze aus parteipolitischem Kalkül zu blockieren, nicht aus landespolitischem. Und der Bundestag kennt nur Parteimitglieder und keine ihren Wählern verpflichtete Abgeordnete.

Hier liegen die Gründe für eine niedrige Wahlbeteiligung. Die Wähler dienen nur als Alibi, ihre Stimmen als Bestätigung zur Fortführung einer Parteiendemokratie, welche die Gewaltenteilung mittels Verschränkung aufzuheben bemüht ist.

Weiterhin wird den Nichtwählern in diesem Land, neben ihrem demokratischen Pflichtbewusstsein, auch ihr politisches Interesse abgesprochen, u.a. vom Bundespräsidenten
Dabei ist gerade eine starke Ausprägung dieses Interesses einer der Gründe dieser Wahl fernzubleiben und seine Stimme eben nicht wegzugeben und das "weniger Schlechte" zu wählen.
Auch bei einer sich abzeichnenden Großen Koalition sind Stimmen von politisch eher uninteressierten Wählern zu erwarten, denn von Wählern die Konturenschärfe durch klare Programmatik bevorzugen.

Der Hauptgrund nicht wählen zu gehen sind jedoch Abgeordnete, die sich von ihrer Partei führen und nur wenig eigenes Profil erkennen lassen.
Eine Partei zu wählen, welche Kompromisse eingeht, die vor der Wahl nicht mal im Ansatz abzusehen waren, weil sie für unmöglich gehalten wurden, ist für manch einen Wähler nicht akzeptabel.

Die Abgeordneten selbst sind der Schlüssel für eine hohe Wahlbeteiligung, denn ihre Prinzipienfestigkeit entscheidet letztlich über die Kompromissfähigkeit der Parteien, die ein Ende kennen muss. Nicht nur in einer Koalition, auch in der Partei selbst. In diesem Zusammenhang möchte ich das Abhalten des Mitgliederentscheides über den ESM in der FDP ausdrücklich als vorbildlich werten.

Dem Bürger wird aus Mangel an Programmatik suggeriert, es ginge um eine Kanzlerwahl. Das Parlament, die Legislative wird hinsichtlich der Wahl auf eine Bedeutung reduziert:
Der Wahl des Regierungschefs.
Ist dies getan, wird regiert und der Wähler wendet sich ab von den leeren Sitzen unseres Arbeitsparlaments.

Die Stimme des Wählers ist eine Verpflichtung, um nicht zu sagen eine Ehre, für denjenigen der sie erhält. Sie zu verlangen oder zu beanspruchen, stellt die Beziehung vom Souverän und den Dienern des Staates auf den Kopf.
Deutschland würde mehr Gewaltenteilung gut tun. Und nicht nur Deutschland.
In Europa wird ein Überstaat aufgebaut, der in seinem aktuellen Zustand die Gewaltenteilung zu einem für die Demokratie anschaulich essentiell Notwendigem werden lässt.

Kein einziger Nichtwähler benötigt von Politikern demokratischen Nachhilfeunterricht, die einen zukünftigen Europastaat aufstellen und verteidigen, dem die demokratischen Grundlagen fehlen, welche für eine Aufnahme in die EU notwendig wären.
Wer meint dazu berufen zu sein, Wählern Belehrungen im demokratischen Verhalten angedeihen zu lassen, nur weil sie die Möglichkeit an einer Wahl teilzunehmen, nicht nutzen, spricht ihnen ihre Mündigkeit ab.

Und genau hier wächst zusammen, was nicht zusammengehört.



Erling Plaethe


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