22. Juni 2011

"Zwischenfall in Uran-Anreicherungsanlage in Gronau". Eine Meldung aus dem Land der kollektiven Besoffenheit und ihr Hintergrund


In der Uran-Anreicherungsanlage in Gronau (Kreis Borken) ist am Montag (20.06.11) ein Behälter mit abgereichertem Uran aus etwa 30 Zentimetern Höhe von einem Gabelstapler gefallen. Zwar wurde keine Radioaktivität freigesetzt und es gab keine Verletzten, wie die Landesregierung mitteilte. Dennoch handele es sich um ein "meldepflichtiges" Ereignis. Die NRW-Atomaufsicht habe mit Untersuchungen begonnen, hieß es. Die Betreiberfirma müsse nun "detailliert" zu dem Vorfall und den Konsequenzen Stellung nehmen.

Dies meldete gestern der WDR, der die Meldung von der Presseagentur dapd übernommen hat. Dort wird der Zwischenfall ausführlich geschildert.

Was hat sich zugetragen? Dies:
Der Uranbehälter wurde den Angaben zufolge am Montagvormittag mit einem 25-Tonnen-Gabelstapler aus der Anlage in Richtung Freilager transportiert. Aus ungeklärter Ursache musste der Stapler bremsen. Dabei fiel der Behälter zu Boden. Laut Regierung wurde keine Strahlung frei.
Das wollen wir gern glauben, daß keine Strahlung frei wurde. Denn in dem Behälter war ja gar kein gefährlich radioaktives Material, sondern abgereichertes Uran. Dieses (englisch depleted uranium) strahlt noch weniger als das natürliche Uran, welches laut Welt-Gesundheitsorganisation (WGO) "in der Umwelt allgegenwärtig" ist ("Metallic uranium (U) ... is ubiquitous throughout the natural environment, and is found in varying but small amounts in rocks, soils, water, air, plants, animals and in all human beings").

Abgereichertes Uran enthält nur noch 2 Promille des radioaktiven Isotops U235 und ist entsprechend ungefährlich. Sofern es überhaupt Gesundheitsschäden verursachen könnte, würde es dies auf dem Weg über Nahrungsaufnahme oder Einatmen tun. Nun hat der Fahrer des Gabestaplers allerdings weder vom Inhalt des herabgefallenen Behälters genascht, noch konnte er etwas davon einatmen.

Des weiteren müßten laut WHO große Mengen Staubs von abgereichertem Uran eingeatmet werden, um möglicherweise eine meßbare Gesundheitsgefährdung (Lungenkrebs) hervorzurufen. Daten, die eine solche Gefährdung belegen, gibt es laut WHO aber nicht; ebenso wenig wie über mögliche Schädigung der Nieren, bevor es wieder ausgeschieden ist. Sonstige Schädigungen sind weder bekannt, noch werden sie vermutet.

Die Strahlung von abgereichertem Uran ist laut WHO derart gering, daß selbst dann, wenn dieses wochenlang auf der Haut aufliegt, noch nicht einmal eine Hautrötung (Erythem) entsteht. Wirkungen von abgereichertem Uran auf andere Organe (Leber, Knochen, Nervensystem) sind nicht bekannt.

Dieses abgereicherte Uran also - weit weniger strahlend als natürliches Uran - befand sich in einem geschlossenen Behälter, der aus einer Höhe von 30 cm zu Boden fiel. Natürlich ging dabei nichts zu Bruch, und natürlich trat nichts von der ohnehin kaum vorhandenen Radioaktivität aus. Das Rauchen einer Zigarette nach dem "Zwischenfall" dürfte der Gesundheit des Gabelstapler-Fahrers mehr geschadet haben als dieser "Zwischenfall".



Daß dieses harmlose und banale Ereignis überhaupt den Weg in eine Meldung fand, ist so absurd, daß ich diesen Artikel eigentlich in die Rubrik "Kurioses, kurz kommentiert" hätte stellen sollen. Aber es kommt noch absurder. Denn die Meldung von dapd ist noch nicht zu Ende:
Der Vorfall wurde nach Angaben der Atomaufsicht im nordrhein-westfälischen Energie- und Wirtschafts-ministerium als "sicherheitstechnisch relevantes Ereignis beim Transport, der Handhabung oder der Lagerung radioaktiver Stoffe auf dem Betriebsgelände" eingestuft.

Die Atomaufsicht des Landes hat eigenen Angaben zufolge mit den Untersuchungen des Ereignisses vor Ort unverzüglich begonnen und als Sachverständigen die TÜV-Arge Kerntechnik West hinzugezogen.

"Die Betreiberfirma muss nun detailliert zu dem Vorfall berichten und zu daraus resultierenden Konsequenzen Stellung nehmen", teilte die Landesregierung weiter mit. "Der Vorfall wird, ebenso wie weitere meldepflichtige Ereignisse der letzten Monate, in die laufende Sicherheitsüberprüfung einbezogen", hieß es. Nach Fukushima hatte NRW diese Überprüfung gestartet.
Man könnte darüber lachen und die Reaktion des Ministeriums als einen verfrühten Beitrag zum rheinischen Karneval abtun, wenn die Sache nicht ihren ernsten Hintergrund hätte.

Denn daß dieses Ministerium - mit vollem Namen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Bauen, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen - aus einer Mücke einen Elefanten macht, das dient ja weder der Belustigung des Publikums, noch geschieht es aus Unkenntnis. In der Meldung von dapd heißt es weiter:
Die Uranfabrik ist auch politisch umstritten. Bei den laufenden Gesprächen über Details des Atomausstiegs zwischen Bund und Land NRW ist bisher unklar, ob ein fester Stilllegungs-Termin für die Anlage wie etwa bei den Atomkraftwerken festgeschrieben wird. Die Grünen wollen eine schnelle Abschaltung von Gronau erreichen.
Der Elefant, zu dem da eine Mücke aufgeblasen wird, ist also eine Nachtigall. Die man trapsen hört.

Wenn Sie diese Metapher blöd finden, dann haben Sie Recht. Aber ehrlich - soll ich mir denn zu diesem Vorgang etwas Intelligentes einfallen lassen?



Finden Sie es immer noch unangemessen, wenn ich das, was sich in Deutschland in diesen Wochen um den "Ausstieg" herum abspielt, mit einer gewissen Perseveration als kollektive Besoffenheit bezeichne?
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Ein von der Internationalen Agentur für Atomenergie (IAEA) am 15. April 2007 vorgestelltes neues Warnsymbol. In der Public Domain. Mit Dank an Reiner aus dem Saarland. - In der ersten Version dieses Artikels hatte ich die Atomaufsicht in NRW irrtümlich dem Umweltministerium zugeordnet. Tatsächlich ist sie in diesem Bundesland aber beim Wirtschaftsministerium angesiedelt. Dank an Gorgasal, der mich auf den Irrtum aufmerksam gemacht hat.