13. Juni 2011

Zitat des Tages: Josef Joffe erklärt seinen "Freunden da draußen", warum die Deutschen spinnen. Der Esel auf dem Eis

Wer wenig Sorgen hat, hat umso mehr Angst – das ist ein Naturgesetz. Oder so: Die Summe aller Ängste ist konstant. Da Deutschland ein gesegnetes Land ist, bleiben kaum noch Gründe für die Panik übrig, und umso größer wird das Grausen vor dem Atomaren – plus, je nach Saison, Ehec, Vogelgrippe, Feinstaub… Das, liebe Freunde da draußen, ist die Erklärung: German angst comes from German glueck.

Josef Joffe in der von ihm herausgegebenen "Zeit" (24/2011 vom 9.6.2011) über das Motiv für den deutschen "Ausstieg".


Kommentar: "Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er auf's Eis tanzen" sagt der Volksmund. Joffe sagt das in etwas anderen Worten über die deutsche Befindlichkeit dieser Tage.

Immerhin: Er versucht keine rationale Erklärung für das, was ich die deutsche kollektive Besoffenheit nenne ("Was dann?" - Aussteigernation Deutschland. Gebt Raum, ihr Völker, unsrem Schritt; ZR vom 28. 5. 2011). Damit liegt Joffe im Trend. Nach einem Vierteljahr scheint sich allmählich der Kater einzustellen.

Die Vernünftigen und Skeptischen wurden zunächst von dieser Welle des deutschen Wir-Gefühls überrollt. Jetzt reibt man sich verwundert die Augen und fragt, was denn in dieses Volk gefahren ist. In der "Welt" beispielsweise hat deren Chefredakteur Thomas Schmid die Frage gestellt, was bei diesem "größte(n) energie- und damit industriepolitische(n) Abenteuer in der Geschichte der Bundesrepublik" denn wohl "ins Rutschen und Fallen kam".

Tja, warum tanzt er auf dem Eis, der Esel mit der Zipfelmütze des Deutschen Michel? Mit Vernunft kann man das nicht erklären. Da hilft nur noch das Psychologisieren.

Joffe hat schon Recht: Diese deutsche Angst vor dem eingebildeten GAU würde es so vermutlich nicht geben, wenn wir Grund zu begründeter Angst hätten, zu "Realangst", wie Freud das im Unterschied zur neurotischen Angst nannte. Wenn keine realen Probleme drängen, wendet man sich Scheinproblemen zu. Ich habe den Aufstieg der Grünen, begleitet vom Abstieg der FDP, im September letzten Jahres ähnlich erklärt (Noch nie hatte sich ein Jahr nach einer Wahl die Parteienlandschaft so grundlegend verändert wie jetzt. Versuch einer Erklärung; ZR vom 27. 9. 2010).

Nur ist nicht jeder, dem es gut geht, ein Esel; und nicht jeder Esel, dem es gut geht, muß gleich auf dem Eis tanzen. Die gute Lage Deutschlands ist vielleicht eine Voraussetzung dafür, daß wir uns aufs Glatteis des Ausstiegs begeben haben; eine hinreichende Erklärung ist sie nicht.

Joffe drückt sich um die entscheidende Frage: Warum benehmen denn gerade wir Deutschen uns derart irrational? Schließlich geht es auch anderen heutzutage gut; und schließlich ging es Völkern zu allen Zeiten gut, ohne daß sie gleich einer solchen kollektiven Besoffenheit verfallen wären.

Es ist ja nun nicht das erste Mal, daß man im Ausland verwundert, wenn nicht fassungslos den Kopf über die Deutschen schüttelt. Im Vergleich zu früheren Kostproben des furor teutonicus ist es diesmal harmlos; Besoffenheit ist immer noch besser als ein Tobsuchtsanfall. Aber ohne den Blick in die deutsche Geschichte, ohne die Einbeziehung dieser spezifisch deutschen Mischung aus Selbstunsicherheit, daraus resultierender Angst und daraus resultierender Überheblichkeit wird man das, was sich gegenwärtig bei uns zuträgt, wohl nicht erklären können.

Um das zu verstehen, wird man bis ins 19. Jahrhundert, vielleicht ins 18. Jahrhundert zurückgehen müssen. Als Frankreich und England aufstiegen, war Deutschland zersplittert und schwach. Er fühlte sich unterlegen, der deutsche Michel. Er kompensierte das erst durch Romantisches im Kopf und den Rückzug in die Innerlichkeit des Biedermeier. Dann - nach der Reichsgründung 1871 - wuchsen ihm Muskeln; hinter Wilhelms Großsprecherei lugte freilich deutlich die alte Unsicherheit hervor. Das Romantische mutierte ins Verstiegene.

So sind wir wohl geblieben, wir Deutschen. Vielleicht wird unser neuer Wilhelm ja in ein paar Jahren Norbert Röttgen heißen.
Zettel



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