2. Juni 2011

Marginalie: Russisches Erdgas statt deutscher Kernenergie. Wie der "Ausstieg" die geopolitische Lage verändert. Deutsche Ethik

Unter dem Titel "Russian gas and Germany's nuclear gamble" (Russisches Erdgas und das deutsche nukleare Lotteriespiel) hat Stratfor gestern einen bemerkenswerten Artikel publiziert (nur Abonnenten zugänglich).

Einen Tag nach der Entscheidung der Regierungskoalition über den "Ausstieg" sei Wirtschaftsminister Rösler nach Moskau geflogen, schreibt Stratfor - weil Deutschland künftig dringend auf Erdgas aus Rußland angewiesen sein werde; jedenfalls in diesem Jahrzehnt, bis möglicherweise "alternative" Energien den Bedarf decken könnten. Die neue Pipeline unter der Ostsee ("Nord Stream") werde dabei eine entscheidende Rolle spielen.

Deutschland hat sich bewußt entschieden, schreibt Stratfor, innenpolitische Gründe über erheblich geopolitische Bedenken zu stellen: "This means Berlin is consciously placing a domestic political issue (opposition to nuclear power) over a considerable geopolitical strategic concern (increased dependency on Russian natural gas)".

Das wecke Sorgen in Osteuropa. Man sehe Deutschland nicht mehr als einen Verbündeten an, auf den man sich als Gegengewicht gegen Moskau noch verlassen könne. Und mehr noch: Mittelfristig könne seine jetzige Politik Deutschland in eine Konfliktsituation mit Nato-Verbündeten bringen ("could put Germany at odds with NATO allies").



Es gibt ein Wort, das besser als jedes andere den Wahnwitz des "Ausstiegs" kennzeichnet: "Ethikkommission".

Kein Land auf der Welt außer Deutschland käme auf den Gedanken, die Frage seiner Energieversorgung als eine primär ethische Frage zu sehen. Die Deutschen in ihrem Wolkenkuckucksheim, in ihrer Mischung aus Angst, Arroganz und Unvernunft tun das (siehe Zitat des Tages: "Was dann?" - Aussteigernation Deutschland. Gebt Raum, ihr Völker, unsrem Schritt; ZR vom 28. 5. 2011).

Und wo die Ethik entscheidet, da müssen natürlich alle kleinkarierten politischen, geostrategischen, auch alle klimapolitischen Überlegungen zurückstehen. Die bis zum 11. März verteufelte Stromgewinnung aus fossilen Brennstoffen ist auf einmal wieder PC. Die Wahnvorstellung von einem "explodierenden" deutschen KKW hat die Klimakatastrophe in der Rolle des Sinnbilds für die apokalyptische German angst abgelöst. Unsere Ängste sind jetzt woanders angedockt.

Wenn schon das Klima nicht mehr interessiert, dann natürlich erst recht nicht etwas so Banales wie das strategische Gleichgewicht in Europa. Deutschland wird, indem es sich vom russischen Erdgas abhängig macht, nolens volens zum Verbündeten Rußlands. Rußland hat am Beispiel der Ukraine vorexerziert, wie man ein Land kirre macht, das auf russisches Erdgas angewiesen ist. Man muß den Hahn im Fall Deutschland gar nicht zudrehen; die Möglichkeit, daß Rußland das jederzeit kann, genügt, um die Machtverhältnisse entscheidend zu beeinflussen.

Aber was sind Machtverhältnisse, was ist so etwas wie schnöde Außenpolitik, wenn es doch um Ethik geht.
Zettel



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