13. Februar 2022

"Wippchen's ukrainischer Krieg"





(Die deutsche Force de Frappe im Fronteinsatz)

Trotz ihrer Weiblichkeit ist die Mandschurei der Zankapfel der Neuzeit. Wer mir dies vor zehn Jahren gesagt haben würde, den hätte ich ausgelächelt, daß er mir das Mitleid angesehen hätte. Wer bekümmerte sich um die Mandschurei? Du etwa, lieber Leser? Deine Wangen wären dir eher eingefallen, als dies. Du magst es mir glauben. Kaum wußte man in Europa, wo die Mandschurei liegt, und man hatte die Empfindung, sie wisse es selber nicht. Die Mandschuren waren uns ein völlig fremdes Volk. Während viele Völker bei uns öffentlich auftraten, um sich uns gegen Entree zu zeigen, blieben uns die Mandschuren völlig fern, obschon sie doch gewiß gern Geld verdienten. Wir kannten, wenn nichts weiter, von den Chinesen den Tee, von den Buren die reisenden Generäle, von den Japanern die Operette Mikado, von den Lappen die Flicken, von den Isländern das Moos, von den Eskimos die Kälte, von den Tartaren die Nachricht. Wer hat jemals einen lebenden Mandschuren gesehen? Die Frage nach dem kleinen Kohn wäre rascher bejaht. Und plötzlich liegt die Mandschurei als Zankapfel vor uns!

Ich wohne im Mikadohof, in dessen Speisesaal allabendlich Versammlungen stattfinden, welche die Regierung zwingen wollen, den Russen die Zähne zu zeigen. »Diese Regierung« sagte ein gestriger Volksredner, »will das nicht. Aber warum denn nicht? Wir sind mit China fertig geworden und werden mit Rußland noch fertiger werden. Aber wenn wir uns hüten, mit ihnen – verzeihen Sie das harte Wort! – zu brechen, so werden sie fortfahren, uns auf der Nase herumzutanzen, und das ist ein Tanz, den ich la Décadanse nennen möchte, weil wir zugrunde gehen, wenn wir es uns gefallen lassen. Wir müssen die Russen aus der Mandschurei treiben. (Rufe: Raus! Raus!) Wenn sie sich erst eingenistet haben, dann kriegen sie keine zehn Pferde heraus, genau wie die Rebläuse, die Ratten, die schweren Rätsel. Also: Krieg! Krieg mit Moskau!« Und nun folgte ein Durch und Durcheinander von Stimmen: Krieg! Krieg mit Moskau! daß ich glaubte, in Laubes Demetrius von Schiller zu sein, ein wüstes Schreien, das sich wie ein Kaninchen auf die Straße fortpflanzte, so daß niemand mehr imstande war, sein eigenes Schreien zu hören.

Julius Stettenheim, "Wippchens Russisch-Japanischer Krieg" (1904)


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(Doch: "Frontlinie")

Ich nehme an, daß den meisten Lesern dieses Netztagesbuchs nicht erklärt werden muß, was unter einem „Potemkinschen Dorf“ zu verstehen ist. Aber - ich weiß es eben nicht. Das 21. Jahrhundert zeichnet sich durch einen rapiden Abbau des Wissens um Zitate, Namen, signifikante historische Ereignisse außer den Merkdaten 1933, 1945, 1989 und vielleicht noch 1789 aus, und Gedichtzeilen und Wendungen, mit denen man seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine „humanistische Bildung“ bekunden (oder doch zumindest vorschützen) konnte. Politiker und Medienmenschen würden heute nicht mehr im Traum daran denken, ihren Wählern und Quotenlieferanten mit einer lateinischen Sentenz zu schockieren. In Abwandlung einer der einmal bekanntesten solchen Wendung, „Habent sua fata libelli“ läßt sich feststellen: nicht nur Bücher (oder „Büchlein“, wie das Original sagt) haben ihr Schicksal, sondern auch Begriffe und Namen. Obwohl das Zitat bei Terenz vollständig lautet: „pro captu lectoris habent sua fata libelli“ – das Schicksal, das einem Buch zuteil wird, hängt von der Auffassungsgabe seines Lesers ab; es handelt sich also um eine um gut 1600 Jahre verfrühte Vorwegnahme der Erkenntnis, die Georg Christoph Lichtenberg 1775 notierte: „Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“ (Sudelbuch D399). In die Überlieferung ist der Satz aber nur in seiner verkürzt-entstellten Form eingegangen: auch Bücher fallen dem Vergessen anheim. (Der andere lateinische Eintrag in dieser Chronik der „stillen Post“ ist das „mens sana in corpore sano“ – daß ein gesunder Geist einen gesunden, durchtrainierten, fitten Körper zur Voraussetzung hat. Dabei heißt es in Juvenals 10. Satire angesichts athletischer Muskelprotze: „Orandum es tut sit mens sana in corpore sano“ – „man kann nur beten, das in solche einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist wohnt.“)

Um auf Nummer Sicher zu gehen: bei den „potemkinschen Dörfern“ handelt es sich um eine Anekdote, die dem Feldmarschall und Liebhaber der Zarin Katharina der Zweiten, Grigori Alexandrowitsch Potjomkin zugeschrieben wird: er soll ihr bei den Inspektionsreisen in den neu eroberten Süden des Landes durch eilig zusammengezimmerte Kulissen und Fassadenattrappen eine erfolgreiche Neubesiedlung und -kolonisierung entlang der Flüsse vorgegaukelt haben. Insbesondere eine Fahrt auf dem Dnjepr in Jahr 1787 zur Besichtigung der Krim wird oft genannt, die 1774 im Frieden von Küçük Kaynarca, der den seit 1768 andauernden Krieg mit dem Osmanischen Reich beendete, an das Zarenreich abgetreten worden war. (Daß die Zarin in dem von Potjomkin verfaßten Dekret „О принятии полуострова Крымского, острова Тамана и всей Кубанской стороны под Российскую державу“ – „Über die Aufnahme der Halbinsel Krim, der Insel Taman und des gesamten Küstenstreifens von Kuban unter russische Herrschaft,“ das sie am 8. April 1783 – dem 19. Nach der alten Zeitrechnung – unterzeichnete, feierlich erklärte, die Krim sei „von nun an und für alle Zeiten russisch,“ wird im Folgenden noch eine Rolle spielen.) Die Kulissen seien dann über Nacht demontiert, auf Flachkähnen den Fluß hinab transportiert und vor Morgengrauen als weitere „neue Dörfer“ wieder in der Nähe des Ufers plaziert worden. Die historische Forschung hat dieses Döneken seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ins Reich der Legenden verwiesen. Es stimmt ebensowenig wie die Legende, im Mittelalter seien „97 Prozent aller Gelehrten“ davon überzeugt gewesen, daß die Erde eine Scheibe sei oder daß Isabella von Kastilien ihren Schmuck versetzt habe, um Kolumbus die Suche nach dem direkten Seeweg nach Indien zu finanzieren. Aber wie John Wayne in „The Man Who Shot Liberty Valance” sagt: “when the legend becomes truth, print the legend.” In dieser Form sind die Потёмкинские дере́вни, die Potjomkinskije derewnij, in den „allgemeinen Wissensschatz“ eingegangen.

Zwei historische Adnoten: eine solche „wunderbare Vermehrung“ hat es dafür an anderen Orten, zu anderen Zeiten, gegeben. Viele ausländische Beobachter haben bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Staatsbesucher in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang hofiert werden, berichtet, daß die „Massen der Werktätigen,“ die aus Bahnhöfen, U-Bahn-Stationen und Kaufhäusern strömen und in die Nebenstraßen der Magistralen abbiegen, sich nach kurzer Zeit zu wiederholen scheinen. Und abseits des Anekdotischen gab es, verbrieft, tatsächlich, die Vorstellung, die Mitte der 1950 zur vermeintlichen „Bomberlücke“ zwischen den wettrüstenden Supermächten im Kalten Krieg führte. Im Westen war seit Anfang 1954 bekannt, daß die Sowjetunion an der Entwicklung eines düsengetriebenen Langstreckenbombers arbeitete, der in der Lage sein würde, von russischem Territorium aus die Vereinigten Staaten mit Atombomben zu bedrohen. Am jährlich abgehaltenen „Tag der Luftstreitkräfte“ (День Воздушного Флота) im Juli 1955 donnerten 10 Maschinen des neuen Typs Mjassischtschew M-4 (Мясищев М-4), im Westen in der Folge mit der Bezeichnung „Bison“ belegt, im Russischen als „Молот“, der Hammer, bekannt, über den Moskauer Flughafen Tuschino, drehten außer Sichtweite ab und wiederholten den Überflug zweimal. Bei den Zuschauern – und den westlichen Zeitzeugen, die die russischen Zeitungsberichte lasen und die Radionachrichten verfolgten, entstand so der Eindruck, die UdSSR habe es geschafft, in diesem kurzen Zeitraum 28 Maschinen in Dienst zu stellen. Hochrechnungen ergaben, daß die Zahl bis 1960 auf 800 stiegen würde. Bei einem der ersten Überflüge mit einer U-2 im Juli 1956 wurden auf einem Militärflughafen in der Nähe Leningrads allein 30 Maschinen dieses Typs photographiert. Malgenommen mit der Zahl der bekannten Militärflughäfen kamen die Experten auf eine Gesamtzahl von 150 bis 250 Maschinen. In dem Bemühen, mit einer solchen vermuteten Schlagkraft gleichzuziehen, bauten die Amerikaner in den Folgejahren mehr als 2000 Maschinen des Typs B-47 „Stratojet“ und fast 750 des Typs b-52, der „Stratofortress.“ In Wirklichkeit hatte der Pilot Martin Knudson bei dem dritten Flug einer U-2 über sowjetisches Territorium von der Wiesbaden Air Base aus (von der acht Jahre vorher die „Rosinenbomber“ während der Berliner Luftbrücke gestartet waren) die gesamte Flotte an „Bisons“ photographiert. Erst die Wiederaufnahme der U-2-Missionen Ende 1959 vom Gebiet der Türkei aus erbrachte den Nachweis, daß der angenommene „Bomber Gap“ gar nicht existierte. Der „Hammer“ war den Planungsvorgaben nicht gerecht geworden; seine Reichweite blieb auf 8000 Kilometer beschränkt, und bis Ende 1963 wurden nur 93 Exemplare gebaut.

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Bernau, 3. Mai 1877

Daß der Halbmond ein kranker Mann ist, kann ich nicht zugeben. Im Gegentheil glaube ich, daß er gesund ist wie ein Karpfen in Bier, - würde er wohl sonst die Vielweiberei bis zur Bigamie treiben können?

Freilich, freilich, Rußland behauptet nicht, der Bart des Propheten müsse vom Erdboden rasiert werden, weil die Türkei die Christen verfolge und quäle. Wie aber, wenn nun plötzlich die Türkei sagte, auch in Rußland seufzten die Christen unter dem Prokrustesbette, und es müßte deshalb den Russen die Cultur auf die Brust gesetzt werden, - was dann?

Und England! Es wird, das steht fest, nicht dulden, daß sich Rußland nach Außen vergrößert. Aber eine Erweiterung im Innern wird es doch mit seiner Armada nicht verhindern können.

Wo ist der Ariadnefaden, der uns aus der Scylla dieses Augiasstalles herausleitet?

"Der Orientalische Krieg," Wippchen's sämmtliche Berichte, A. Hoffmann & Co.: Berlin, 1886, S. 3




(Julius Stettenheim, 1831-1916)

Wenn aber „potemkinsche Dörfer“ wahrscheinlich noch „ein Begriff“ sind, dürfte der Name des Berliner Schriftstellers und Satirikers Julius Stettenheim und seiner vor 130 Jahren bekanntesten, dem „rasenden Reporter“ Wippchen – gut ein halbes Jahrhundert, bevor dieser Begriff im Zusammenhang mit den Berichten von Egon Erwin Kisch in Schwang kam – tatsächlich verschollen sein. Auch mir waren beide Namen bis vor zwei Tagen nur angelegentlich in Literaturgeschichten untergekommen, als Zeitgeistflaneure der Gründerzeit im Umfeld des „Kladderadatsch.“ Bruno Preisendörfer widmet ihm in seiner „Reise in die Bismarkzeit“ „Als Deutschland erstmals einig wurde“ (2021) im Kapitel „Errungenschaften“ knapp eine Seite. Stettenheim, 1831 in Hamburg geboren, hatte 1861 das Hamburger Pendant zu dem seit 1848 erscheinenden Wochenblatt gegründet, die „Hamburger Wespen,“ die ein Jahr nach seinem Umzug in die künftige Reichshauptstadt in „Berliner Wespen“ umbenannt wurden. Stettenheim brachte seine scharfe Zeitsatire regelmäßige Rechtshändel ein, und sein Wegzug aus der kleinbürgerlichen hanseatischen Enge erfolgte erst, nachdem 1866 der drei Jahre zuvor erlassene Haftbefehl aufgehoben worden war, der ihn bei Betreten preußischen Territoriums für fünf Monate hinter schwedische Gardinen verbannt hätte.

In seinen „heiteren Erinnerungen“ von 1896 berichtet er über diese Episode Folgendes:

…wenn sich in einem bis dahin in stiller Zurückgezogenheit existirenden Landstädtchen ein Polizeidiener einen Uebergriff erlaubt hatte, so trat gegen den unglückseligen Beamten ein Heer von Tages- und Wochenblättern auf, wie heute etwa gegen den Volksschulgesetzentwurf. Dazwischen bildeten der Bundestag und der Kaiser Napoleon unerschütterliche Zielscheiben für die Geschosse der Satire, und ihnen gegenüber bestand das ganze deutsche Volk aus mehr oder weniger unverbesserlichen Nörglern. Erst, als in Preußen der Kampf zwischen Regierung und Volksvertretung entbrannte und sich im Reiche die ersten Wehen der großen Wiedergeburt Deutschlands einstellten, da vertiefte sich die Opposition, das mächtige Streben der Parteien nach der Herrschaft trat lärmend hervor, und die Spielerei des Nörgelns wurde von dem Ernst einer gewaltigen Agitation verdrängt.

Die Staatsanwälte waren rabiat. Sie verstanden keinen Spaß. Die Witzblätter wurden verwarnt, confiscirt und angeklagt. Zum 26. September 1863 lud mich das Königliche Kreisgericht in Perleberg ein. Da man mich in Hamburg nicht zwingen konnte, der Einladung Folge zu leisten, so lehnte ich höflich, aber unstatthaft lustig ab. In einem offenen Brief an das Königliche Kreisgericht, abgedruckt in den Wespen vom 11. September, heißt es u. A.: »Wir kommen nicht – dahinter, was wir in Perleberg machen sollen . . . . Daher erscheinen wir nicht – undankbar, wenn wir uns entschließen, lieber in Hamburg zu bleiben.« In diesem ungeziemenden Ton ging es weiter. Ich wurde verurtheilt. Andere Vorladungen trafen ein, denen ich ebensowenig, denen aber die Verurtheilung folgte, und so hatte ich mir bald fünf Monate Gefängniß gespart. Es war ein billiger Muth, mit dem ich die Urtheile empfing, die von Preußen nicht vollstreckt werden konnten und von Hamburg nicht vollstreckt wurden. Segen der deutschen Uneinigkeit!

Die Herren Flaminius, Beyrich und Baehr, welche die erste Perleberger Vorladung unterzeichnet haben, bitte ich nachträglich um Vergebung, wenn ich ihr Dokument so wenig ernst nahm. Es sind nun fast 30 Jahre seitdem verflossen, und die drei Herren haben mir gewiß längst verziehen, wie ich ihnen heute längst verziehen hätte, wenn ich fünf Monate – wahrscheinlich, ohne mich zu bessern – im Gefängniß zugebracht haben würde. Ein ganz kleines Sträfchen habe ich allerdings vier Jahre später als Folge der Perleberger Verurtheilungen einkassirt. Als ich, durch die 1866er Amnestie längst entlastet, im Dezember 1867 nach Berlin übersiedelte, trat gleich nach meiner Ankunft ein kolossaler Schutzmann bei mir ein, der mir zwar sehr freundlich einen guten Morgen wünschte, aber gleich hinzufügte, daß er komme, mich zu verhaften. »Sie haben fünf Monate abzumachen«, sagte er mit trockenem Amtston. »Aber ich bin doch amnestirt«, entgegnete ich. »Wo ist Ihr Amnestiedekret?« fragte er. Das hatte ich nicht mitgebracht. »Also sputen Sie sich«, ermunterte mich der Schutzmann. Während ich mich sputete, bot ich dem Abgeordneten des Molkenmarkts eine Cigarre an, die er mit der Bemerkung ablehnte, das sei ein Bestechungsversuch, woran ich sah, daß er meine Cigarre überschätzte, denn dieselbe hatte wirklich nichts Bestechendes.

Nun fuhren wir nach der Bastille auf dem Molkenmarkt. Unterwegs berechnete ich, wie viel von den fünf Monaten ich wohl absitzen würde, bis das Amnestiedekret aus Hamburg eingetroffen sein könne. Aber ich hatte meine Rechnung ohne den liebenswürdigen Polizeirichter gemacht, der mich nach etwa zweistündigem Warten zwischen den Passagieren des grünen Wagens mit der Frage empfing: »Was wollen denn Sie hier?« Ich erzählte ihm, wie ich nach dem Molkenmarkt gekommen sei. »Aber Sie müssen ja amnestirt sein« rief er, »machen Sie, daß Sie fortkommen.« Ich empfahl mich und verschwand, ganz befriedigt von dem »Tropfen Fegefeuer«. Dann ließ ich mir schleunigst das Amnestiedekret kommen. Man konnte doch nicht wissen.


In Berlin schrieb Stettenheim nicht nur für die „Wespen“ (die 1891 zu „Deutschen Wespen“ mutierten), sondern auch für das Konkurrenzblatt „Kladderadatsch“ und für das „Kleine Journal“, für das ab dem Frühjahr 1877 sein Kriegskorrespondent Wippchen (der nie einen Vornamen erhielt) von allen Kriegsschauplätzen der Zeit – die freilich gemäß den Ortangaben über jeder gedrahteten Depesche im „idyllischen Bernau“ entstanden waren; so zuerst vom türkisch-russischen Krieg von 1878 (der 1880 mit dem Berliner Congreß unter der Leitung von Bismarck endete), dann über den „Krieg zwischen England und Afghanistan“, den „Kaffernkrieg,“ den „deutsch-chinesischen Conflict,“ den „russisch-chinesischen Krieg,“ und den „Feldzug im Ostsudan“ und so weiter und so fort. In der Wikipedia heißt es dazu: „Berühmt ist sein Redakteur Wippchen, der aus dem idyllischen Bernau bei Berlin fiktive Kriegsberichte von den realen Kriegsereignissen der Zeit liefert – daher rührt die noch heute gängige Berliner Redensart Mach keine Wippchen!, wenn jemand gar zu offensichtlich aufschneidet.“ In Buchform erschienen diese Relotiaden zwischen 1887 und 1903 als „Wippchen sämmtliche Berichte“ in 16 Bänden bei den Berliner Verlagen Hoffman und Paetel. Den Abschluß bildete 1904 „Wippchen’s Russisch-Japanischer Krieg“ beim Verlag Lehmann. (Völlig vergessen wurde der Autor nach seinem Tod 1916 nicht: 1983 erschien eine Auswahlausgabe von „Wippchens charmanten Scharfmützeln,“ die Siegfried Lenz zusammengestellt hatte.)

Und was ich auf dem Journalistentag wollte? Eine Rede, die ich bereits zu Papier gebracht, wollte ich aus dem Stegereif schütteln. Ich wollte wetteifern gegen die eingerissene Unsitte der Journale, Berichte vom Kriegsschauplatz von Correspondenten zu bringen, welche nicht Augen- und Ohrenzeugen der Ereignisse sind. Es ist dies unverantwortlich, es entsteht hieraus ein Irreleiten der Journalzirkel, welches bald den Glauben an die Gewissenhaftigkeit der Blätter um jeden Credit bringen muß. Zwar sagt ein Sprüchwort: Die Enten haben kurze Beine. Aber es muß hier doch Wandel geschafft werden. Und mit den Worten wollte ich schließen: Wer sich frei von Schuld fühlt, der werfe mich auf den ersten Stein!

- Wippchen's sämmtliche Berichte, Band 1


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Aber Sie werden auch zugeben müssen, daß ich die furchtbare Macht Rußland's nicht über's Knie brechen kann. Eine Schlacht will geschrieben sein. Ich hatte auch mehrere Gemetzel zu Papier gebracht, aber sie gefielen mir schließlich nicht, weil ich sie nach einem Bericht über die Erstürmung der Düppeler Schanzen verfertigt hatte und nicht recht wußte, wie ich die Insel Alsen placieren sollte. Unmögliches dürfen Sie nicht von mir verlangen: ich kann mich nicht wie Leda in einen Schwan verwandeln und einen Stier entführen. Wir sind Alle nur mehr oder weniger sterbliche Menschen, und Romulus und Remus wurden auch nicht an einem Tage erbaut.

(„Der orientalische Krieg,“ in: Wippchen’s Sämmtliche Berichte, Band 1, S. 7)


Wozu aber nun dieser ausführliche Vorlauf? Der oben zitierte Wikipedia-Eintrag gibt keinen kleinen Fingerzeig: „die noch heute gängige Berliner Redensart Mach keine Wippchen!, wenn jemand gar zu offensichtlich aufschneidet.“ Und die Scharade, die die deutsche Außenministerin Baerbock vor drei Tagen im ostukrainischen Dorf Schyrokyno inszeniert hat und die mit ihr in Szene gesetzt worden ist, hat sie als würdigen Nachfolger nicht nur Wippchens und des russischen Großfürsten, sondern auch des Freiherrn Hieronymus Carl Friedrich Münchhausen aus dem Kurfürstentum Hannover, der bekanntlich einige seiner Aventiuren im Zarenreich erlebte (etwa das mit dem an der Kirchturmspitze angeleinten Pferd oder den in der sibirischen Kälte im Posthorn eingefrorenen Tönen – ein Phänomen, von dem schon Rabelais in seinem „Pantagruel“ zu berichten wußte), der seinen Flug auf einer Kanonenkugel bekanntlich in russischen Diensten zur Luftaufklärung über das türkische Lager unternahm und zu dem die Belagerung der Festung Otschakow auf der Krim im Juli 1737 durch den im Erich Karl Raspes Text namentlich genannten Generalfeldmarschall Burkhard Christoph von Münnich (1683-1767) Anlaß gegeben hat. (Der kleine Zyniker, der hier stets mitschreibt, meint: „Namenswitze sind infam,“ fügt an: „machen aber Spaß: Pannalena Trampolina Völkerrechtla Schwegewarastochter Baerbock.“ Nicht ohne hinzuzusetzen: daß die Parallelführung zur notorischsten Göre aus Schweden ante Gretam nur metaphorisch zu verstehen ist und nicht wörtlich wie beim kanadischen Premierminister Justin Trudeau, dem ein hartnäckiges Ondit nachsagt, der leibliche Sproß des kubanischen Maximo lider Castro zu sein.) Nein, hier soll nicht darauf abgehoben werden, daß sie nach dem Ortstermin vor der Weltöffentlichkeit – oder zumindest den Kamerateams von ARD und ZDF - in die Mikrophone erklärte: "...und zwar nicht, indem sie mit gefanzerten Pahrzeugen durch die ... mit gepanzerten Fahrzeugen durch die Straßen fahren. Soweit steh' ich hier in einem zerstörten Haus, weil ebent die Spuren des Kriegs nach wie vor nicht nur sichtbar sind, sondern der Krieg nach wie vor hier vor Ort präsent iss." Der kleine Zyniker fragt sich nur, welcher Schalk die Zuständigen dazu gebracht hat, dieses Land vor der Weltöffentlichkeit von einer Person repräsentieren zu lassen, von der seit langem bekannt ist, daß sie über mehrere schwere Sprachfehler verfügt – und unter anderem zu solchen Anlautvertauschungen neigt, die als „Spoonerismus“ bekannt sind – die Sprachwissenschaft spricht von „Metathese“ – nach dem Dekan von Oxford William Spooner (1844-1930), dessen Lapsus in dieser Hinsicht notorisch waren, etwa wenn er einem Studenten vorhielt „You have hissed the mystery lectures!“ (statt: „you have missed the history lectures“) und einem Zwangsexmatrikulierten befahl: “You will leave Oxford by the town drain!” statt “by the down train.”

Besonders wippchenhaft apart wird die Sache, wenn man um Frau Baerbocks Jugendtraum weiß, einmal Kriegsberichterstatterin zu werden, „wenn sie einmal groß ist,“ wie sie dem „Radiosender Hitradio FFH“ vor einem halben Jahr beichtete.

Baerbock wollte früher Kriegsreporterin werden

Veröffentlicht am 15.09.2021

Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hatte früher ganz andere berufliche Ziele. Dem Radiosender Hitradio FFH verriet die 40-Jährige am Mittwoch, dass sie einst Gärtnerin und dann Kriegsreporterin werden wollte. «Als ich Jugendliche war, in den 90er Jahren, hatten wir gerade die furchtbaren Balkankriege», erzählte sie. «Das hat mich stark immer auch beschäftigt. Darüber zu berichten, darüber zu schreiben, das war eigentlich das, was ich machen wollte. Heute versuche ich nicht nur darüber zu berichten, sondern solche Situationen besser zu machen.»

Die Grünen-Vorsitzende verriet FFH auch, was ihr peinlich ist: «Zurzeit ziehe ich immer so hohe Schuhe an, und da bleibe ich gerne im Kopfsteinpflaster stecken. Und das sieht nicht so cool aus, wenn man weitergehen will und der eine Absatz steckt noch so im Kopfsteinpflaster fest. Gibt's auch viele lustige Fotos von.» ("Die Welt," 16.9.2021)


Nein – schon die ganze Inszenierung des „spontanen Frontbesuchs“ am Mittwoch, den 8. Februar 2022 trägt das Stigma des Lächerlichen, des Grotesk-Absurden – eben der Wippchen‘schen Frontberichterstattung. Nach den Meldungen der deutschen Medien ist die Visite spontan auf Initiative des Berichterstatters der BILD-Zeitung erfolgt, nachdem es mit dem Amt des ukrainischen Präsidenten Zelesnki „Terminschwierigkeiten“ gegeben habe. Der amerikanische Fernsehsender CNN berichtete allerdings, Selesnki habe sie nicht vorgelassen, weil es sinnlos sei, mit dieser Person zu reden und ein Austausch von Standpunkten genausogut via Telefon und Email erfolgen könne. Sowohl Kiew wie Berlin haben diese Version umgehend dementieren lassen. Was die Sache nicht besser macht: Was sagt es über das deutsche Außenministerium, wenn man dort offenbar unfähig oder zu saumselig ist, solche Termine im Vorfeld abzuklären und sich darüber eine Bestätigung geben zu lassen? Dies mag zynisch klingen, ist es aber keineswegs: dies ist ein Land, in dem es aus Anlaß der größten Epidemie, die es seit dem Ausbruch der Cholera 1833 gegeben hat, mehr als 18 Monate gedauert hat, bis das Meldewesen der wöchentlichen Fallzahlen vom Faxgerät auf Email umgestellt worden ist – im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. (Der Kleine Zyniker meint: dieses Land und seine Regierungsvertreter passen ausgezeichnet zueinander.)



Aber was da als Delegation 40 Minuten lang über Dorfstraßen stolperte, die von zerschossenen Hausruinen gesäumt wurde, spottete jeder Beschreibung: ausstaffiert mit Schutzwesten, die für angreifende Spezialkommandos gedacht sind, die beim Laufen keine ruhigen Zielflächen bieten, bei Flaneuren aber eine Einladung für jeden Scharfschützen darstellen, mit Helmen auf dem Kopf, deren justierbares Innenteil offenkundig nicht passend eingestellt wurde und die Träger:Innen wie Komparsen aus der Blechbüchsenarmee wirken ließ, neckisch im knallrotem Mantel. Natürlich bestand nicht eine Sekunde ein wirkliches Risiko für diese Truppe von Laiendarstellern. Das ukrainische Militär wäre niemals das Risiko eingegangen, hier in einen Hinterhalt von russischen „Snipern“ zu geraten. Tatsächlich liegt das Dorf Schyrokyni, (Ukrainisch: Широкине, Russisch: Широкино) gut 20 Kilometer von jener umkämpften „Front,“ dem Randstreifen des von russischstämmigen Aufständigen besetzten Gebietes entfernt, in dem im vorigen Jahr von 80 Zivilisten und 20 Soldaten ums Leben kamen. Das Dorf, im Oblast Donezk gelegen, lag nach dem Ausbruch der Kämpfe im Februar 2014 in der Frontlinie zwischen den beiden Lagern; in den 12 Monaten darauf flohen die meisten der gut 2000 Bewohner bis auf 40. Nach dem Minsker Vereinbarungen vom Sommer 2015 gehört der Ort, in dem während der Kampfhandlungen 80 Prozent der Gebäude zerstört worden sind, zu der in „Minsk 2“ vereinbarten „Grauen Zone,“ die im Juli 2015 geräumt wurde und in der sich seither keine Truppen mehr aufhalten dürfen. Schon die Rückkehr des ukrainischen Militärs im Jahr darauf stellt einen Bruch dieses Abkommens dar. (Bei der Dame rechts neben Frau B. handelt es sich übrigens um die stellvertretende Außenministerin der Ukraine, Elena Dschaparowa / Еміне Джапарова.)

Immerhin ist ein Teil von Frau B.s Jugendtraum in Erfüllung gegangen. Um es mit ihren Worten zu sagen: „Gibt’s viele lustige Fotos von.“

Ich will nun nicht abstreiten, daß die gegenwärtige Situation in der Krise um die Ukraine potentiell durchaus das Zeug dazu hätte, sich zu einer wirklichen militärischen Konfrontation auszuweiten. Auch wenn ich, um es mit Wippchen zu sagen, meinen letzten roten Hellas dafür in die Bresche schlagen würde, daß die Trompete des Kriegergeschreis ausgehen wird wie das Hornberger Schießen. Sowohl die russische Seite wie die ukrainische haben in den letzten drei Tagen auf eine erstaunliche verbale Deeskalation gesetzt und erklärt: keinerlei Anzeichen für die von der CIA heute für den 16. Februar angekündigte Invasion der „eines Großteils der Ukraine“ und, so wörtlich: „einen schnellen Angriff auf die Hauptstadt Kiew“ ausmachen zu können. Es ist hier aber nicht der Ort, um eine Abwägung der Risiken und der Optionen aller drei Seiten zu versuchen. Hier geht es nur darum, festzustellen, daß die Chance, daß sich Deutschland in den Augen wirklicher Militärs und der Öffentlichkeit sowohl der Ukraine wie auch Russlands unsterblich blamiert hat, mit exakt NULL anzusetzen ist. Daß die deutsche Militärhilfe für die Ukraine darin bestanden hat, statt der erbetenen 100.000 Helme für einberufenen Reservisten nur 5000 zu schicken – und zudem ein (!) Feldlazarett in Aussicht zu stellen, fügt sich nahtlos in dieses triste Bild. Zumal, wenn der Verdacht im Raum steht, bei diesen Helmen handele es sich um eben jene, die 2019 als erste Probestücke für eine Neuausstattung der Bundeswehr ausgeliefert worden sind und sich in der Praxis aufgrund von Mängeln an Kinnriemen und Innenfutter als nicht einsatzfähig erwiesen. Ansonsten bestand der Beitrag unserer Heldenregierung zur Verhinderung des Dritten Weltkriegs bislang darin, die Lieferung von Panzerabwehrgeschützen, die Estland aus der Konkursmasse der NVA erworben hat, zu blockieren. Dabei handelt es sich im neun Haubitzen des Kalibers 122 mm, des Type D-30, die, quelle ironie, ab 1960 in der Sowjetunion entwickelt und gefertigt, als гаубица Д-30, wurde und seither in vielen Kriegen, etwa dem Golfkrieg, dem Bürgerkrieg in Somalia 1992 oder dem Krieg in Syrien, zum Einsatz kommt.



(Verlauf des Dnjepr)



(Schyrokyno in der Ostukraine)

Daß andere Länder hier keineswegs besser gestellt sind, kann nur dem Kleien Zyniker ein Trost sein. Die britische Außenministerin, Liz Truss, blamierte sich zwei Tage nach Frau Baerbocks Bockshorniade nicht weniger, diesmal auf dem Moskowiter Pflaster. Ihr russischer Amtskollege Lawrow, der anschließend befand, „es hat keinerlei Zweck, mit dieser Person zu reden. Es ist, als ob man auf jemanden einredet, der taub ist,“ stellte ihr eine böse Fangfrage. Um den Bericht der Zeitschrift „Komersant“ zu zitieren:

После этого он сам обратился с вопросом к британской коллеге: «Вы же признаете суверенитет России над Ростовской и Воронежской областями?»

«Великобритания никогда не признает суверенитета России над этими регионами»,— после короткой паузы ответила глава МИДа.

Вмешаться в ситуацию пришлось послу Великобритании в РФ Деборе Боннерт, которая деликатно объяснила госпоже Трасс, что речь действительно идет о российских регионах.


Er (Lawrow) fragte seine Amtskollegin: „Erkennen Sie an, daß Rostow und Woronesch unter russischer Kontrolle stehen?“

„Großbritannien wird die russische Herrschaft über diese Gebiete niemals hinnehmen,“ gab die Außenministerin nach kurzer Pause zurück.

Die Botschafterin Englands in Russland, Deborah Bennet, mußte in diesem Augenblick eingreifen und Ms. Truss sachte darauf hinweisen, daß es sich dabei um Oblaste der russischen Föderation handelt.

Nun erwartet selbst der kleine Zyniker nicht, daß eine „Außentante“ die Feinheiten der russischen Geographie auswendig hersagen kann. Aber bei den umstrittenen Gebieten an der Ostgrenze der Ukraine geht es allein um die Oblaste Donetsk und Luhansk, und daß Rostow und Woronesch, die am Ostufer des Schwarzen Meers der Halbinsel Krim „gegenüber liegen“ und seit Jahrhunderten unumstritten Teil Russlands sind, sollte bei der Vorbereitung auf solche Treffen Teil des Briefings gewesen sein.

Es sei jedem Staat im Westen gegönnt, sich von solchen Schießbudenfiguren repräsentieren zu lassen. Schon um der Diversität, der Inklusion und der Damenkränzchenquote Rechnung zu tragen. Wenn aber Gefahr droht, daß tatsächlich geschossen wird, sollten sie ihre Münchhausiaden doch lieber aus dem „idyllischen Bernau“ in die Welt entlassen.

Um die Zulassung der Griechen, Bulgaren, Serben, Rum-, Arm- und Montenegriner durchzusetzen, hatte Bismarck gedroht, im anderen Falle die Zulassung seines Hundes Sultan zu verlangen. Natürlich zogen die Congreßmitglieder von zwei Uebeln den kürzeren. Eine halbe Stunde traten denn auch die Vertreter der genannten Völker ein, nachdem ihnen das Wort abgenommen war, im Saale weder Nasen noch Ohren abzuschneiden. Ich fand diese Bedingung durchaus billig.

Was ihnen bewilligt werden wird, steht noch nicht fest. Wie mir heute Herbert von Bismarck, ein junger Staatsmann, der die Diplomatie mit der Vatermilch eingesogen hat, sagte, sei Rußland nicht in der Geberlaune, da dasselbe von seinem Beati kein Possidentes missen wolle. Indes sei doch anzunehmen, daß ihnen schließlich eine Pferdebahn, Straßenbeleuchtung, Droschken erster Classe, Asphaltpflaster und vielleicht auch ein Rieselfeld bewilligt werden würde.

(„Der Orientalische Krieg,“ Wippchen’s sämmtliche Berichte, I, S. 39)




(Und das ist die Reserve)
U.E

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