Als ob es dieser Probe
aufs Exempel bedurft hätte, fanden in einem Interview (hinter der Bezahlschranke), welches ein Filmredakteur der WELT mit dem chinesischen Künstler Ai Weiwei führte, dessen das
Gespräch einleitenden Äußerungen zu seinem bevorstehenden Wegzug aus
Deutschland die größte Resonanz bei den Multiplikatoren dieser Republik.
Deutschland sei „keine offene Gesellschaft“, sondern „eine Gesellschaft, die
offen sein möchte, aber vor allem sich selbst beschützt“. Es gebe „kaum Raum
für offene Debatten, kaum Respekt für abweichende Stimmen“, so der Dissident weiter.
Eine schlüssige
Begründung für seinen Befund bleibt der bald 62-Jährige schuldig. Denn
die von Ai Weiwei als Beispiel für seine Beobachtung angeführten Rauswürfe aus
Berliner Taxis – einer davon als Klimax eines Streits über ein geöffnetes
Fahrzeugfenster – lassen einen Bezug zu einer Verengung des Meinungskorridors
vermissen und könnten nur dann als Beleg für eine mangelnde Offenheit der
deutschen Gesellschaft dienen, wenn sie von Ressentiments getragen wären. Der
Schluss, dass Ai Weiwei das Verhalten der Taxi-Chauffeure auf Rassismus zurückführt,
liegt aufgrund seiner Erwähnung einer Befassung der Antidiskriminierungsstelle
nicht allzu fern.
Eine andere Einlassung des Mannes aus dem Reich der Mitte, zu der er keinerlei Argumentation angibt, verdient indessen eine etwas längere Stellungnahme:
Während eine Debatte über den ersten Halbsatz dieses Zitats müßig sein dürfte, ist die Bemerkung über die Selbstzentriertheit Deutschlands schwer von der Hand zu weisen.Dieses Land braucht mich nicht, weil es so selbstzentriert ist.
Immerhin ist es der Staat
im Herzen Europas, der sich seit etwa zweihundert Jahren immer wieder in Debatten über Patriotismus und Nationalstolz ergeht, ohne dabei zu einem Ergebnis zu gelangen.
Die öffentliche Auseinandersetzung mit der Hitler-Diktatur ist geprägt von
einem Sünden- oder richtiger formuliert: Sühnestolz darauf, dass es uns keiner
nachmacht, wie wir mit der dunkelsten Epoche unserer Geschichte aufgeräumt
haben. Dies ist freilich viel bequemer, als tatsächliche Lehren aus dem
sogenannten Dritten Reich zu ziehen, die noch dazu den unangenehmen Effekt
hätten, dass wir dabei gewisse fortwirkende Defizite der hiesigen
Politiktradition freilegen würden.
Zum Beispiel müssten wir
uns dann mit der Frage beschäftigen, weshalb die anderen uns nicht unbedingt
für das lieben, was wir an uns selbst so gut finden. Bei solcher Dissonanz
zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung sind die um ihr Ansehen im Ausland sehr
besorgten Deutschen äußerst schnell beleidigt.
Symptomatisch dafür war
in jüngster Zeit die mediale Würdigung eines Artikels des NZZ-Chefredaktors Eric Gujer. Darin bescheinigte der Schweizer
Journalist aus Anlass von Carola Racketes Eindringen in den Hafen von Lampedusa
dem „hässliche[n] Deutsche[n]“, dass dieser „nicht mehr Stahlhelm und
Wehrmachtsuniform“ trage, sondern „in allen Lebenslagen eine gesinnungsethische
Lektion bereit[hält]“. Im Bayerischen
Rundfunk wurde dieser Passus im Rahmen eines Beitrages über den angeblichen Rechtsruck der eidgenössischen Tageszeitung als „provokante Formulierung[en]“
bezeichnet. Nicht verstanden zu werden scheint, dass man – gerade auch bei
unseren kleineren Nachbarn – nicht nur den Zweck, sondern auch die Mittel
deutschen Handelns einer kritischen Betrachtung unterzieht, während eine der
verderblichen Kontinuitäten des deutschen Denkens darin besteht, die Erreichung
als erstrebenswert empfundener Ziele auch auf nach allgemeinen Maßstäben
verwerflichen Wegen zu billigen.
Ai Weiwei hat Recht: Die
Deutschen sind selbstzentriert. Und wenn er weniger höflich wäre, hätte er „narzisstisch“
gesagt.
Noricus
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