10. August 2019

Ai Weiwei hat Recht: Deutschland ist selbstzentriert. Er hätte auch „narzisstisch“ sagen können.

Als ob es dieser Probe aufs Exempel bedurft hätte, fanden in einem Interview (hinter der Bezahlschranke), welches ein Filmredakteur der WELT mit dem chinesischen Künstler Ai Weiwei führte, dessen das Gespräch einleitenden Äußerungen zu seinem bevorstehenden Wegzug aus Deutschland die größte Resonanz bei den Multiplikatoren dieser Republik. Deutschland sei „keine offene Gesellschaft“, sondern „eine Gesellschaft, die offen sein möchte, aber vor allem sich selbst beschützt“. Es gebe „kaum Raum für offene Debatten, kaum Respekt für abweichende Stimmen“, so der Dissident weiter.

Eine schlüssige Begründung für seinen Befund bleibt der bald 62-Jährige schuldig. Denn die von Ai Weiwei als Beispiel für seine Beobachtung angeführten Rauswürfe aus Berliner Taxis – einer davon als Klimax eines Streits über ein geöffnetes Fahrzeugfenster – lassen einen Bezug zu einer Verengung des Meinungskorridors vermissen und könnten nur dann als Beleg für eine mangelnde Offenheit der deutschen Gesellschaft dienen, wenn sie von Ressentiments getragen wären. Der Schluss, dass Ai Weiwei das Verhalten der Taxi-Chauffeure auf Rassismus zurückführt, liegt aufgrund seiner Erwähnung einer Befassung der Antidiskriminierungsstelle nicht allzu fern.
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Eine andere Einlassung des Mannes aus dem Reich der Mitte, zu der er keinerlei Argumentation angibt, verdient indessen eine etwas längere Stellungnahme:
Dieses Land braucht mich nicht, weil es so selbstzentriert ist.
Während eine Debatte über den ersten Halbsatz dieses Zitats müßig sein dürfte, ist die Bemerkung über die Selbstzentriertheit Deutschlands schwer von der Hand zu weisen.

Immerhin ist es der Staat im Herzen Europas, der sich seit etwa zweihundert Jahren immer wieder in Debatten über Patriotismus und Nationalstolz ergeht, ohne dabei zu einem Ergebnis zu gelangen. Die öffentliche Auseinandersetzung mit der Hitler-Diktatur ist geprägt von einem Sünden- oder richtiger formuliert: Sühnestolz darauf, dass es uns keiner nachmacht, wie wir mit der dunkelsten Epoche unserer Geschichte aufgeräumt haben. Dies ist freilich viel bequemer, als tatsächliche Lehren aus dem sogenannten Dritten Reich zu ziehen, die noch dazu den unangenehmen Effekt hätten, dass wir dabei gewisse fortwirkende Defizite der hiesigen Politiktradition freilegen würden.

Zum Beispiel müssten wir uns dann mit der Frage beschäftigen, weshalb die anderen uns nicht unbedingt für das lieben, was wir an uns selbst so gut finden. Bei solcher Dissonanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung sind die um ihr Ansehen im Ausland sehr besorgten Deutschen äußerst schnell beleidigt.

Symptomatisch dafür war in jüngster Zeit die mediale Würdigung eines Artikels des NZZ-Chefredaktors Eric Gujer. Darin bescheinigte der Schweizer Journalist aus Anlass von Carola Racketes Eindringen in den Hafen von Lampedusa dem „hässliche[n] Deutsche[n]“, dass dieser „nicht mehr Stahlhelm und Wehrmachtsuniform“ trage, sondern „in allen Lebenslagen eine gesinnungsethische Lektion bereit[hält]“. Im Bayerischen Rundfunk wurde dieser Passus im Rahmen eines Beitrages über den angeblichen Rechtsruck der eidgenössischen Tageszeitung als „provokante Formulierung[en]“ bezeichnet. Nicht verstanden zu werden scheint, dass man – gerade auch bei unseren kleineren Nachbarn – nicht nur den Zweck, sondern auch die Mittel deutschen Handelns einer kritischen Betrachtung unterzieht, während eine der verderblichen Kontinuitäten des deutschen Denkens darin besteht, die Erreichung als erstrebenswert empfundener Ziele auch auf nach allgemeinen Maßstäben verwerflichen Wegen zu billigen.

Ai Weiwei hat Recht: Die Deutschen sind selbstzentriert. Und wenn er weniger höflich wäre, hätte er „narzisstisch“ gesagt.


Noricus

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