22. März 2017

Zum Welttag der Poesie: 杜牧 - 金谷园



Daß die Vereinten Nationen - in Gestalt ihrer Unterorganisation UNESCO - manche Tage des Jahres  unter ein besonderes Motto, ein Thema gestellt haben, einer Sache, die damit in den Aufmerksamkeitsfokus der Öffentlichkeit gerückt und gefördert werden soll, dürfte bekannt sein. Weniger bekannt dürfte sein, daß seit der Einführung des ersten Termins, dem "Tag der Vereinten Nationen" (24. Oktober) im Jahr 1948 im Lauf der Jahrzehnte Dutzend solcher Gedenk- und Memorialtage hinzugekommen sind. Wobei man es hier neben unzweifelhaft lobenswerten wie dem Welttag des Buches (23. April - wohl nicht zufällig Shakespeares Geburtstag) und dem Internationalen Mädchentag (11. Oktober) auch zu, nun, sagen wir gewöhnungsbedürftigeren gebracht hat: vom "Earth Day" (22. April) bis zum Weltyogatag (21. Juni, seit 2015). Der "Tag des Deutschen Butterbrotes" (am letzten Freitag im September; seit 1999) ist allerdings nicht in die Obhut der UN gestellt und beschränkt sich bis dato auf Schland.

Ebenfalls seit 1999, mit Gültigkeit seit dem Jahr 2000, gibt es nun am heutigen 21. März den "Welttag der Poesie". Auf der Netzseite der Deutschen UNESCO-Kommission liest man dazu folgendes:

Die UNESCO hat den 21. März zum "Welttag der Poesie" ausgerufen. Er wurde erstmals im Jahr 2000 begangen. Der Welttag soll an den Stellenwert der Poesie, an die Vielfalt des Kulturguts Sprache und an die Bedeutung mündlicher Traditionen erinnern.
Die UNESCO weist der Dichtkunst auch im Zeitalter der neuen Informationstechnologien einen wichtigen Platz im kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu. Der Welttag der Poesie soll Verlage ermutigen, poetische Werke besonders von jungen Dichtern zu unterstützen, und er soll dazu beitragen, den kulturellen Austausch zwischen den Völkern zu intensivieren.
Auf der Seite der Vereinten Nationen zu diesem Termin erfährt man des weiteren, daß der Termin in diesem Jahr dem Werk des georgischen Dichters Nikolos Barataschwili (1817-1844) gewidmet ist, was man als Erweis für die Notwendigkeit dieses Tages nehmen könnte, dieweil der Endunterfertigte bislang noch nie von ihm gehört hatte. Aber da sich meine Kenntnis der georgischen Literatur und Sprache überhaupt durch eine ebensolch flächendeckende Unkenntnis auszeichnet, sei gestattet, daß ich mein Scherflein zu diesem Tag aus einem anderen Bereich besteuere.

杜牧 - 金谷园
繁华事散逐香尘
流水无情草自春
日暮东风怨啼鸟
落花犹似坠楼人

Du Mu (803-852), "Garten im Goldenen Tal"

Von der blühenden Pracht bleibt nur süßer Staub.
Das Wasser fließt ewig, das Gras regungslos.
Am Abend, wenn die Vögel im Ostwind rufen,
Fallen die Blüten wie das Kleid eines Mädchens - vor so langer Zeit.

Du Mu (杜牧) gehört zu den poetae minores der späten Tang-Zeit: er und sein Dichterkollege Li Shangyin werden in der chinesischen Literatur oft als "die kleinen Li-Du" (小李杜), um sie von den beiden "großen Li-Du" ihrer Epoche, Li Bai und Du Fu, abzugrenzen. Die Zeit der Tang-Dynastie, üblicherweise von 618 bis 907 n.Chr. datiert, zeichnet sich durch eine enorme Blüte der chinesischen Literatur, und hierbei insbesondere der Lyrik aus. Die damals entstandenen Gedichte lösen sich von der doch recht engen Formelhaftigkeit der Lehrgedichte der vorigen Zhou-, Han- oder Jin-Zeit, die Formenvielfalt nimmt zu, und zum ersten Mal erscheint "Dichter" als eine bewußt eingenommene Haltung, eine Rolle. Nicht zuletzt zeigt sich das an der verbreiteten Verwendung des 号 - oder, in unreformierter Schreibweise: 號 -, des hào, des Künstlernamens, der von Malern oder Autoren selbstbewußt für ihre kreativen Arbeiten benutzt wird und mit dem sie ihre Werke zeichnen. (Nach den alten chinesischen Namenskonventionen trug man den Familiennamen, der an die erste Stelle gesetzt, danach den individuellen "Vor"-Namen; ab dem zwanzigsten Lebensjahr, der Volljährigkeit, den 字 - Zi, während der Kaiserzeit auch "Hofname" genannt, den sich der Betreffende selbst verlieh und der zumeist aus dem Vornamen abgeleitet war. Die Namensendungen der bekannten Philosophen wie Mengzi/Mencius oder Kungzi/Konfuzius, "Meister Meng" oder "Meister Kung" zeigen das.) Die Lyrik der Tang-Zeit ist bis heute lebendig: wenn "klassische" Zitate bis heute Verwendung finden, handelt es sich meist um Gedichtzeilen aus dieser Epoche; nicht zuletzt in Liebesgedichten. Sinologisch gesehen mag es leicht frivol klingen, aber es dürfte den Kern der Sache treffen, wenn man den Stellenwert dieser Dichtung unumwunden mit dem gleichsetzt, den bei uns (und das meint die englische wie die französische Literatur gleich mit) die Gedichte der Romantik einnehmen.  

Im offiziellen Leben war Du Mu als Verwaltungsbeamter tätig, zuletzt als oft versetzter Verwalter in armen, abgelegenen Präfekturen in den Provinzen Huangzhou und Chinzhou. Zum einen hatte er damit das Glück, den regelmäßigen Säuberungsaktionen nach den ebenso regelmäßig auftretenden Verschwörungen und Intrigen am kaiserlichen Hof zu entgehen, auf der anderen Seite empfand er die geistlose, stumpfe Tätigkeit fernab vom Hof, der die einzige Möglichkeit einer Karriere und eines anregenden Geisteslebens bot, als hoffungslos und bedrückend - was sich in der Melancholie und Nostalgie seiner Gedichte ausdrückt. In der maßgeblichen Sammlung der Gedichte der Tang-Zeit, 唐詩三百首 (Tángshī sānbǎi shǒu / Dreihundert Gedichte der Tangzeit), 1763/64 von Sun Zhu (1711-1778) aus dem Werk von 74 Dichtern kompiliert, in dem sich zehn Gedichte Du Mus finden, steht unser Vierzeiler an Stelle 297.

Das Gedicht ist doppelbödig gebaut: Für eine "naive" Lektüre ist das eine wehmütige, persönliche Erinnerung, an ein lang zurückliegendes Tête-à-Tête. Der Titel gibt dem Leser den entscheidenden Fingerzeig: beim "Garten des Goldenen Tales" handelt es sich um einen historisch konkreten Ort, und die damit verbundene Geschichte läßt die Verse in anderen Licht erscheinen. Dieser "Garten" war das Anwesen des Marquis Shi Chong (石崇, 249-301), eines der reichsten Männer seiner Zeit, in der westlichen Jin-Dynastie (sein Vater Shi Bao hatte in den Jahren 255-265 entscheidende Rolle bei der Machtsicherung des ersten Herrschers dieses Reiches, Sima Yan, gespielt). Sein luxuriöser Lebensstil, um nicht zu sagen seine Verschwendungssucht, brachte ihm allerdings nicht nur Freunde ein. In dem Luo Guangzhong zugeschriebenen Roman Geschichte der Drei Reiche von 1522, einem der "vier klassischen Romane" der chinesischen Literatur, erscheint er als intriganter Verräter gegen das rechtmäßige Herrscherhaus: eine Rolle, die er seinem Lebensende in der Realexistenz verdankt, als er nach den Tod des Kaisers Wen im Jahr 290 als Hauptinitiator beschuldigt wurde, im Auftrag der Wen auf den Thron folgenden Kaiserin Jia die Durchführung eines Mordanschlags auf den designierten Kronprinzen Minhuai (im Januar des Jahres 300) geplant zu haben. Das kostete ihn, seine Mutter und Kinder, insgesamt fünfzehn Personen, dann selbst das Leben. In allen (kurzen) Biographien über ihn findet sich die Anekdote, daß Shi Chong erst aufging, daß es kein gutes Ende mit ihm nehmen würde, als die Kutsche, die ihn angeblich zum Kaiserhof fahren sollte (er hatte als Schlimmstes eine Verbannung erwartet), den Weg zum Marktplatz von Luoyang (gute 10 Li, etwa 6 Kilometer vom Goldenen Tal entfernt) nahm, der auch als öffentliche Richtstätte diente - und daß er entsetzt ausrief: "Ich werde nur wegen meines Geldes umgebracht!"

Das Gedicht spielt auf eine Episode wenige Monate vor diesem finalen Vorhang an: Shi Chong hatte eine Geliebte, die von unübertroffener Schönheit war, Lüzhu (綠珠; der Name bedeutet "grüne Perle"). General Sun Ziu, der die Aktion gegen die Verschwörer geleitet hatte, schickte, bevor Shi Chong formell seiner Ämter enthoben worden war, einen Gesandten zum Goldenen Tal (Jingu Juan), der die Übergabe Luzhus an Sun Ziu forderte. Shi Chong ließ seine Bediensteten, seine weiteren Konkubinen "mit Seide und Parfüm angetan" vor dem Boten vortreten, weigerte sich aber standhaft, das, was er über alles liebte, aufzugeben. Daraufhin entsandte Sun Ziu einen Trupp bewaffneter Männer, um sie mit Gewalt zu holen. Den (wohl nur legendenhaften - aber darauf kommt es in diesem Milieu nicht an) Berichten über beide zufolge feierte Shi Chong gerade ein Bankett auf der obersten Terrasse der Pagode, als er die Anrückenden bemerkte und um sein Leben zu fürchten begann. Auf seinen Vorwurf an Lüzhu: "wegen dir muß ich jetzt sterben", entgegnete sie: "das geziemt sich nicht - ich sterbe vor dir!" - und sprang in den Tod. (Nein - in keiner der Quellen kommt Shi Chong gut weg.) Luzhu gilt als Symbol einer unglücklichen, aber in den Tod standhaften Liebe, die durch die Umstände tragisch endet. Die letzte Zeile des Gedichts spielt auf ihr Ende an - und nicht etwa auf eine Liebste, die ihrem Galan die äußerste Gunst erweist.

Formell ist das Gedicht durchaus mit einigen Finessen versehen, die dem mit dem Chinesischen nicht vertrauten Leser unsichtbar bleiben. Die ersten beiden Ideogramme, 繁华 - fán huá - etwa bedeuten "blühender Prunk": der Luxus, die Verschwendung, die vergänglich ist. Wenn man hua allerdings auf dem zweiten anstatt dem ersten Ton liest, verändert sich die Bedeutung zu "Blumen" oder "Blüten": in diesem Kontext ein gängiger Ausdruck für "Konkubinen". Die Geschichte der Lüzhu hat oft als Thema für populäre Stoffe gedient, zuerst für ein nicht erhaltenes Theaterstück von Guan Hangqing (1225-1320).

Man kann bei Interpretationen oder Erläuterungen von Gedichten (der Textsorte, die derlei eigentlich am wenigsten bedarf), grob gesprochen, drei Varianten unterscheiden: zum einen der Besinnungsaufsatz; zum zweiten, bei Vertretern des Poststrukturalismus und überhaupt aller Post-Verfaßtheiten, eine ins Esoterische schillernde Weltauslegung, bei der man sich fragt, was sie mit dem als Vorwand dienenden Text noch zu schaffen hat (etwa: Gedichte "seien sich selbst organisiernde Strukturen"); und zum dritten und bescheidendsten: Fußnoten und Informationen, die dem Leser Hintergrund und Kontext ausleuchten. Welche Kategorie hier intendiert ist, dürfte erkennbar sein.

(Abb.: Kalligraphie des Gedichts in Grasschrift. Die Leserichtung ist: von oben nach unten - das dürfte erkennbar sein - und von rechts nach links.)







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Ulrich Elkmann

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