23. Oktober 2014

Arno Schmidt, wieder einmal: Tellingstedt, Oktober 2014

Arno Schmidt war, neben vielem anderem - ein zorniger Chronist der frühen Bundesrepublik, ein "Wortmetz", der die Sprache zu zerlegen & neu zusammensetzen wollte, ein Hüter entlegener literarischer "Privataltertümer" - auch, das, wass man ohne Umschweife einen Science-Fiction-Autor nennen darf. Allerdings haben seine Werke auch hier einen persönlichen *touch*, einen Dreh, der sie von allem, was in der Nachkriegsliteratur, und in der bundesdeutschen zumal, unterscheidet. Die längere Erzählung "Schwarze Spiegel" von 1951 schildert das Überleben und die misanthropische Erleichterung eines Erzählers im Jahr 1960, fünf Jahre nachdem ein Atomkrieg ihn von der lästigen Gegenwart des Restes der Menschheit befreit hat: "Das Experiment Mensch, das stinkige, hat aufgehört!" Der im so imaginierten Jahr 1960 entstandene Roman "Kaff auch Mare Crisium" spielt auf zwei Erzählebenen: zum einen in einem gottvergessenen Dorf in der niederdeutschen Wacholdersteppe, zum anderen in einer zeitlich nicht näher bestimmten, aber nahen Zukunft auf zwei Mondstationen, einer amerikanischen und einer russischen, in der die letzten Menschen die Vernichtung des Lebens auf der Erde überstanden haben. Schmidts letzter, nur zu einem Drittel fertiggewordener Roman "Julia, oder Die Gemälde" sollte in seiner zweiten Hälfte aus der Erzählgegenwart des Jahres 1979 zwanzig Jahre in die Zukunft überblenden.



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Charakteristisch für Schmidts Arbeitsweise ist, daß all diese Werke zum einen nur in rudimentären Ansätzen das aufweisen, was man eine Handlung nennen könnte: die Ortserkundungen und Begegnungen dienen nur als Aufhänger für Gespräche, Reflexionen, wild ins Kraut schießende Metaphernkaskaden, Bonmots, einen unglaubliche Fülle der entlegensten Zitatenschätze und längere Exkurse zur Welt der Kunst und Literatur als der Einzig Wahren. All dies wird von einem Ich-Erzähler dem Leser nicht vorgesetzt, sondern nachgerade übergekübelt, einem Erzähler, zwischen den und seinen Erfinder kein Blatt Papier, nicht einmal einer jener berüchtigten Zettel im Format A-8, auf die Schmidt seiner Stichworte notierte, passt. In seinem Obsessionen, seiner Fixiertheit auf ganz bestimmte Autoren - zu den Hausheiligen zählen Poe, James Fenimore Cooper, Fouqué, Joyce - in der Mixtur von oberlehrerhafter Besserwisserei, makabrem Sprachkobolz und berückenden Naturbildern steht Herr A.S., egal unter welchem Namen, stets unverstellt vor dem Leser. Die Arno-Schmidt-Philologie unterscheidet sich denn von anderen Hobbyisten, die sich einem einzigen Verfasser verschrieben haben (falls dieses Wortspiel jetzt nicht zu peinlich ist):  anders als bei Goethe oder Shakespeare trennt man dort nicht zwischen Autor und Figur. Das erste, was einem Literaturstudenten im ersten Semester eigentlich in Fleisch und Blut übergehen sollte: den Schöpfer nicht mit seinen Geschöpfen zu verschwechseln, ist im Fall Schmidt nicht nur "nicht hilfreich": der Versuch würde von einer völligen Verkennung dieser Texte führen: Es wäre etwa so, als würde man ein altes Kochbuch auf die originelle Art der Charakterisierung und das Unterlaufen herkömmlicher Lesererwartungen in Sachen Spannungsbogen und Lokalkolorit hin untersuchen. (Ein Zyniker könnte allerdings versucht sein anzumerken, daß in Lawrence Norfolks letztem Roman John Saturnall's Feast genau dieser Fall vorliegt.)

Zwei Mal ist Arno Schmidt bei seinen narrativen Ausflügen in die Zukunft allerdings von dem erwähnten Muster abgewichen: nicht nur verfügen diese Bücher über einen Plot, der sich sogar nacherzählen lässt; auch der Protagonist ist nur bedingt mit dem identisch, der die Worte, denen er - oder sie - seine Matrix-hafte Existenz verdankt, in die Schreibmaschinentastatur hämmert. Beide Male Schmidt freilich sich darin  treu geblieben, Ort und Zeit nach "dem großen Knall", einem seltsam unbestimmt bleibenden Atomkrieg, anzusiedeln. Beide Male handelt es sich um einem Roman "nach einer Vorlage": eine Ausweitung, ein Rekurs von Motive von Jules Verne. "Die Gelehrtenrepublik" von 1955 spielt in Jahr 2008, zum einem in "Hominidenstreifen" einer entvölkerten USA, was Schmidt Gelegenheit gibt, "Fabelwesen" wie Zentauren oder "fliegende Köpfe" (die er, wie bei ihm wohl nicht anders zu erwarten, ausgeborgt hat: in diesem Fall aus Wielands "Don Sylvio"); zum anderen auf der titelgebenden Künstlerkolonie, die als neutrales Refugium, äquidistant zwischen Ost und West, über die Meere vagabundiert und Jules Vernes Roman "Die Propellerinsel" (L'Île à hélice) von 1895 nicht nur nachempfunden, sondern umstandslos und buchstabengetreu entlehnt ist. (Schmidt hat hier darauf vertraut, Verne werde seine Hausaufgaben schon gemacht haben; kritische Geister - Erbsenzähler! Pendanten! Mathematiker! (wie eine Invektivenfolge von Kapitän Haddock anheben könnte) - sind zu dem Ergebnis gelangt, daß Ingenieur-Details bei Verne durchweg mehr-als-peinlich sind: vom Quartier Kapitän Nemos auf der "Nautilus", das mindestens 30 Meter lang sein muß, um seine Bibliothek zu beherbergen, und höchstens 2 bis 3 Meter Quartier für mehrere Dutzend Besatzungsmitglieder bereit hält; bis zur Beschleunigung seiner Mondreisenden durch einen Kanonenschuß pantagruelischen Ausmaßes.)

In seinem letzten Ausflug in die Zukunft, im Roman "Die Schule der Atheisten" von 1972, hat sich Schmidt an Vernes Roman "Die Schule der Robinsons" (L’école des Robinsons) von 1882 angelehnt. Die "Novellen-Comödie in 6 Aufzügen" ist allerdings als schrille Groteske nach Art einer Operette angelegt: die eigentliche erzählte Gegenwart ist im Oktober 2014 angesiedelt - genauer: zwischen dem 7. und dem 13. Oktober, im holsteinischen Örtchen Tellingstedt, das durch die Fügung des Schicksals (und die Apodiktik des Autors) so etwas wie den Mittelpunkt der kleinen verbliebenen Welt darstellt. Nach dem (unvermeidlichen) Atomkrieg sind die USA und China (das ihn diesem Fall so gar nichts von China der späten Mao-Zeit und der Spätphase der Kulturrevolution hat, um so mehr aber mit dem Klischee von "Madame Butterfly" oder "The Mikado") als einzige Mächte verblieben; Tellingstedt bildet den Mittelpunkt eines "Reservats", einer neutralen Zone unter dem (vorgeblichen, läßt Schmidt anklingen) Schutz der USA. Und dort treffen sich zwei Delegationen, um zu versuchen, den eingfrorenen Konflikt auf irgendeine Weise zu lockern. Auch die USA sind ein Operettenkönigreich: ein reines Matriarchat, in dem die klassischen Klischees der patriachalischen Bürger- und Kleinbürgerwelt des 19. Jahrhunderts, wie sie sich eben in der Operette und der komischen Oper spiegeln, schlicht invertiert sind. Der Verne-Rekurs scheint in den Erinnerungen des 75-jährigen Friedensrichters William T. Kolderup auf, der als Primus inter pares das holsteinische Lummerland lenkt: an einen Schiffbruch im Jahr 1969 (der Gegenwart also, in der Schmidt sein Material sammelte und seine Gegenwart sichtete), als er mit zwei weiteren "Atheisten" sowie drei christlichen Missionaren auf einer einsamen Insel die Handlungskonstellation der Verneschen Vorlage durchspielen musste. Natürlich entpuppt sich das, gemäß dem grotesken Genre, als Scharade, aber es gibt Schmidt weidlich Gelegenheit, seinem antiklerikalen und radikal antireligiösem Furor Auslauf zu gewähren. Auch die Knoten der "Gegenwartshandlung" werden dem Genre gemäß geschürzt: durch die zufällige Entdeckung, daß die Leiter der West- und Ostdelegation verwandt sind, durch das Überreichen putziger Geschenke, durch Anekdotenerzählen. Hier hat Schmidt, der aus seiner prinzipiellen Ablehnung aller "Handlung-Handlung" nie einen Hehl gemacht hat, das Dilemma an den Hörnern gepackt und sich an ein Metier der Unterhaltung angelehnt, bei dem jede Gefahr einer plausiblen oder gar sinnvollen Geschichte von vorneherein ausgeschlossen ist.

Daß ausgerechnet das schleswig-holsteinische Tellingstedt mit seinen heute 2500 Einwohnern zum Schauplatz der Burleske nach dem Ende der Welt wurde, trägt keine Bedeutung; es hätte auch Bargfeld sein können, das im späten Schmidt-Kosmos sonst Mittelpunkt des Kosmos und Rand des Universums zugleich ist. Insofern gleicht das Dorf, das sonst nur in einigen beiläufigen Erwähnungen Klaus Groths in seinen Jugenderinnerungen eine literarische Schleifspur hinterlassen hat, dem norwegischen Tynset in Wolfgang Hildesheimers gleichnamigen Roman. Ein Name auf der Karte oder im Kursbuch: nell'importe.

Das alles ist stellenweise durchaus amüsant zu lesen (der Roman ist wie alle Romane Schmidts seit "Zettels Traum" als reiner Dialog bzw. Multi-log angelgt, mit eingeschobenen kurzen Regieanweisungen), wesentlich kurzweiliger jedenfalls als die endlose Letternwüste von "Zettels Traum" mit ihren uferlosen Exkursen zur Psychogenese Edgar Allan Poes oder der Schmidt'schen Etymtheorie; zum Teil durchaus weniger: zu oft schlägt die Derbheit und Zotigkeit um in Verdruß. Man könnte das das "Cage-aux-folles"-Syndrom nennen: wenn von drei Scherzen absehbar zwei unter die Gürtellinie zielen, lässt das Bedürfnis nach Teenagerkomödie nach zwanzig Seiten doch erheblich nach. Und zum anderen zeigen sich hier Grenzen, wenn ein Erzählstoff in die Zukunft verlegt wird. Viele Kritiker der Science Fiction haben, oft und wiederholt, betont, die SF habe "mit der Zukunft nichts zu tun", sie benutze sie nur als Projektionsfläche, um das in der Gegenwart Irreale für den akzeptierbarer zu machen. Zudem dient dieser Modus des Erzählens - wie hier - ja häufig nicht der ernsthaften Ausmalung des Möglichen, sondern der Satire. Dennoch läuft auch eine Groteske, die nominell im Jahr 2014 spielt, natürlich Gefahr, mit der realen Welt des Jahres 2014 abgeglichen zu werden - selbst wenn man den Intentionen und den Möglichkeiten des Autors damit Unrecht tut. Dass die Leiterin der amerikanischen Delegation, "Nicole Kennan (45), genannt ISIS, Aussenministerin der USA" mit ihrem "Harem von Beischläfern" einen schalen Geschmack hinterläßt, auch wenn man nicht zu der ersten Verehrerriege von Frau Clinton gehört: geschenkt. Daß der Zufall der Geschichte es gewollt hat, daß den Leser angesichts des Spitznamens die Nachsicht mit den Literatur-Alfanzereien verlässt - daran ist der Autor unschuldig. Aber es zeigt, wie schütter und dürftig die Möglichkeiten und Perspektiven von Literatur sind, selbst bei Autoren, die aus Prinzip mit dem "Blick auf das Undenkbare" fabulieren. Und vielleicht gerade bei ihnen. Vielleicht sollte überhaupt nicht überraschend sein, wenn die literarische Befassung mit der Zukunft im besonderem Maße dazu beitragen würde, ihre Chancen zu leugnen und ihren Gefahren hilflos ausgesetzt zu sein.

Am besten lässt sich der Text also, wenn man trotz allem gewillt ist, sich darauf einzulassen, in Bruchstücken goutieren, weithin überblätternd, hier und da zwei oder drei Seiten Revue passieren lassend. Man läuft freilich Gefahr, Zusammenhänge zu übersehe, gar mißzuverstehen. Davor sind freilich selbst Arbeiter im Weinberg dieses Textes nicht gefeit. So auch Leibl Rosenberg im seinem erläuternden Handbuch "Das Hausgespenst", 2 Bände (1977, 1979), der die Zitaten- und Anspielungsfülle aufzudröseln versucht. In seinem Handlungsabriß zum "VI. Aufzug, Scene 9, S. 253" heißt es "S[use] & APO[theker; Fritz Dümpfelleu, ihr Freund] f****n & Hochzeitsplan" (Rosenberg schreibt das Verb natürlich aus). Eine Inaugenscheinnahme der Stelle (bei Schmidt gibt es immer ein bis zwei "Stellen", aber erst im Spätwerk werden sie so ohne stilistische Feigenblätter und Rankenwerk geschildert, daß sie wirken, wie sich das in Büchern für erwachsene Leser gehört, denen an D. H. Lawrences "Lady Chatterley" gerade die Verdruckstheit das eigentlich Unanständige erscheint: gemäß der alten Berliner Kinogängermaxime "Für fümf Mark kann ick verlangen, dat an meine niedersten Instinkte appelliert wird!") erweist indes, daß es sich hier nicht um einen Koitus handelt, sondern um einen Cunnilingus handelt, freilich von einer Intensität, daß nicht nur Suse, sondern auch dem Leser der Rauch aus den Ohren quillt.
Ulrich Elkmann


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