29. März 2013

Vierter Armuts- und Reichtumsbericht: wozu 480 Seiten lesen, wenn´s auch fünf Sätze tun


Schon mal vom "Armutsbericht" gehört? Bestimmt. Schade nur, dass es den nicht gibt. Statt dessen gibt es den Bericht "Lebenslagen in Deutschland - Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung". 
Der vierte Bericht steht kurz vor der Übergabe an das Parlament - aber bereits jetzt ist die politische Debatte über die Ergebnisse voll entbrannt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben eine "Große Anfrage" dazu gestellt, der DGB hat bereits eine vorläufige Stellungnahme abgegeben, der paritätische Wohlfahrtsverband hat ein Interview gegeben. Alle Medien berichten. Und Ausgangspunkt des Schlagabtauschs ist wohl hauptsächlich die Behauptung, der Bericht solle "geschönt" werden. 
­
Zwei Varianten dieser Behauptung geistern durch die Presse: 
  • "Rösler schönt Armutsbericht"
  • "Rösler lässt Passagen im Armutsbericht streichen"
Von beiden Headlines stimmt so ziemlich gar nichts, wenn man davon absieht, dass Röslers Name richtig geschrieben wurde. Aber sonst... 
Die obigen Behauptungen gehen vermutlich auf einen Artikel der Süddeutsche Zeitung vom 28.11.2012 zurück. Danach haben viele Medien diesen Bericht der SZ aufgenommen und multipliziert. 
Lassen wir mal außen vor, dass die SZ den Titel des Berichts unschön verkürzt und nur noch vom "Armutsbericht" spricht. Aber auch sonst lässt SZ-Autor Thomas Öchsner in seinem damaligen Teaser keinen Zweifel daran, welche Aussage er vermitteln möchte: 
"Die Bundesregierung hat ihren Armutsbericht bewusst geschönt. Kritische Passagen zur Vermögensverteilung und zur zunehmenden Einkommensspreizung wurden gestrichen." 
Bereits dieser Teaser war falsch; aber nicht so falsch, wie die Aussagen heute sind. Die SZ hat zumindest noch korrekt von der "Bundesregierung" geschrieben.

Machen wir hier mal eine Pause und klären ein paar Fakten. Wie der Bericht genau heisst, wurde ja schon geklärt. Offen ist noch die Frage, was dieser Bericht für eine Bedeutung hat. 
Der Armuts- und Reichtumsbericht wird seit 2001 in regelmäßigen Abständen von der Bundesregierung an das Parlament übergeben. Noch mal für alle, die Schlüsselaussagen gern überlesen: Berichtspflichtiges Organ ist die Bundesregierung. 

Damit ist schon mal klar, dass Herr Rösler in diesen Bericht weder etwas einfügen noch etwas streichen lassen kann. Lediglich als Mitglied des Kabinetts hat Herr Rösler Mitspracherecht  das ist alles. Ein solches Mitspracherecht hat übrigens auch Frau von der Leyen. Aber die Behauptung, Rösler würde der Bundesregierung  also der Bundeskanzlerin und dem Kabinett  vorschreiben, welche Position die Bundesregierung vertritt, ist ganz schön gewagt. Natürlich kennen wir nicht die Interna der Kabinettssitzungen; aber Herrn Rösler einen solchen Einfluss zuzuschreiben, grenzt schon an Verschwörungstheorie.


Aber weiter. Die Bundesregierung überträgt einem Minister die Aufgabe, den Armuts- und Reichtumsbericht vorzubereiten. Diese Aufgabe ist Frau von der Leyen zugefallen, die im Arbeitsministerium den Bericht vorbereiten lies. Nun erinnern wir uns: Berichtspflichtiges Organ ist die Bundesregierung, nicht das Arbeitsministerium oder gar Frau von der Leyen persönlich. Deswegen ist es völlig normal und auch schon immer so gewesen, dass der vom Arbeitsministerium vorbereitete Bericht an andere Minister zur Abstimmung weitergereicht wird. 



Folgt man der digitalen Spur des Berichts, dann kommt man zu einem Ereignis, das bereits im September 2012 stattfand und damit mehr als zwei Monate vor dem Bericht der SZ. Zu diesem Zeitpunkt wurde nämlich unter anderem das Handelsblatt darüber informiert, dass es Streit zwischen dem Arbeitsministerium von Frau von der Leyen und dem Wirtschaftsministerium unter Herrn Rösler über diesen Bericht gab. Im Entwurf des Arbeitsministeriums tauchten Sätze auf, mit denen das Wirtschaftsministerium so nicht einverstanden war. Hat das Wirtschaftsministerium versucht, zu fälschen oder zu schönen? Um diese Frage zu klären, müssen wir uns die Änderungen im Detail ansehen. 

"Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt"

Dieser Satz stand im Abschnitt "III.1 Entwicklung der wichtigsten Indikatoren". Davor gibt es eine Grafik, die für die Jahre 1998, 2003 und 2008 die Privatvermögen-Verteilung bezogen auf 50%, 50%-90%, 90%-100% angibt. Diesen Zahlen ist zu entnehmen, dass die oberen 10% ihren Anteil am Privatvermögen in diesem Zeitraum von 45% auf 53% steigern konnten. 

So weit die Fakten. 
Und wer bis hierhin mitgedacht hat, wird es schon vermuten: an diesen Zahlen wurde rein gar nichts verändert. 

Welche Zusammenfassung solcher Zahlen wäre sinnvoll gewesen... wie wäre es mit: "Die Ungleichverteilung hat zugenommen"? Dann hätte möglicherweise das Wirtschaftsministerium keinen Einwand gehabt. Gut, das ist eine Vermutung. Keine Vermutung, sondern Fakt ist, dass der Satz "Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt" eine Interpretation, eine Meinung ist. Denn: auf welcher Basis wird hier eine "Sehr ungleich"-Verteilung postuliert? Ungleich im Vergleich wozu? Im Vergleich zu Saudi-Arabien...? Oder im Vergleich zu Kuba...? Wenn man Wiki glauben darf, dann nimmt Deutschland im internationalen Vergleich eine "mittlere Position" ein bei diesem Thema. "Mittlere Position" - spontan interpretiert klingt das jetzt nicht nach einer offensichtlichen "Sehr ungleich"-Verteilung.

Ohne Vergleichsbasis ist der Satz nur MEINUNG. Ein "interner Vermerk" aus dem Wirtschaftsministerium besagt, dass diese Aussage "nicht der Meinung der Bundesregierung entspricht". Was ist an diesem Vermerk problematisch? Rein gar nichts. Berichtspflichtiges Organ ist die Bundesregierung und nicht das Arbeitsministerium oder von Frau von der Leyen persönlich. In so weit ist an der Stellungnahme aus dem Wirtschaftsministerium nichts auszusetzen, dass  wenn schon eine MEINUNG im Armuts- und Reichtumsbericht auftaucht  diese Meinung doch bitte schön die Meinung der Bundesregierung zu sein habe. 

Tatsächlich ist der gestrichene Satz an dieser Stelle so merkwürdig fehl am Platz, dass man sich die Frage stellen kann, wie der Satz da eigentlich reingekommen ist. Wie von mir zitiert handelt der Abschnitt ausdrücklich von Zahlen und der Veränderung der Verteilung  wieso wird diese Veränderung nicht schlicht berichtet, anstatt eine Meinung über eine vermutete Ungerechtigkeit zu postulieren? Hat Frau von der Leyen diese Aussage autorisiert  oder hat sie nichts davon gewusst? Immerhin umfasst der Bericht über 450 Seiten. 

Noch ein Aspekt: Im fraglichen Zeitraum gab es auch andere Artikel, die eine starke Feindschaft zwischen von der Leyen und Rösler berichteten. Welche Rolle die sachfremden Motive gespielt haben, kann man nur vermuten.

Wie auch immer; nehmen wir uns die nächste Änderung vor.
"Während die Lohnentwicklung im oberen Bereich in Deutschland positiv steigend war, sind die unteren Löhne in den vergangenen zehn Jahren preisbereinigt gesunken. Die Einkommensspreizung hat damit zugenommen. (...) Eine solche Einkommensentwicklung verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden."
Diese Aussage fand sich in "Kapitel III.2.3 Sichere Arbeit ermöglichen und fair entlohnen". In diesem Kapitel finden sich noch viele weitere sehr merkwürdige Aussagen, wie zum Beispiel:
"Zum Leitbild der sozialen Marktwirtschaft gehört es jedoch, dass sich jede Arbeit lohnt. Auch bei einem Geringqualifizierten, der Vollzeit arbeitet, sollte der Verdienst zur Sicherung seines Lebensunterhalts ausreichen."
Diese Aussage würde ich so überhaupt nicht unterstreichen und man könnte viel dagegen einwenden. Fakt ist jedenfalls, dass das Wirtschaftsministerium diese Aussage nicht beanstandet hat  sondern statt dessen die oben zitierte. Um das zu verstehen, muss man sich die weiteren Angaben ansehen: 
  • Der Gini-Koeffizient (Durchschnittswert der Spreizung von Einkommen) der Einkommensverteilung ist unverändert
  • Die Sozialleistungsquote ist unverändert bzw. sogar leicht gesunken
  • Die Arbeitslosigkeit ist gesunken
  • Der Anteil der "atypischen Arbeitsverhältnisse" ist stark gestiegen, aber ohne(!), dass deswegen die Anzahl der "normalen Arbeitsverhältnisse" gesunken ist
All diese Angaben zusammengenommen, bemerkt man sofort das Problem in der Aussage "...die unteren Löhne in den vergangenen zehn Jahren [sind] preisbereinigt gesunken." Diese Aussage unterstellt eine fixe Arbeitnehmergruppe, was aber mit den anderen Aussaugen nicht zusammenpasst. Statt dessen muss es gerade im Bereich der eher gering qualifizierten Tätigkeiten eine enorme Bewegung gegeben haben. Wir reden hier von hunderttausenden bis Millionen Arbeitnehmern, die zusätzlich in Beschäftigungsverhältnisse eingetreten sind. Wer jetzt ein wenig von Statistik versteht, sieht den Effekt. Den anderen erkläre ich es noch mal explizit. 

Angenommen, wir würden pauschal die 10% Arbeitnehmer mit den schlechtesten Löhnen entlassen und die Positionen nicht neu besetzen. Was würde in der Einkommensstatistik passieren? Genau, die Spreizung der Einkommen würde abnehmen (und zusätzlich das Durchschnittseinkommen steigen). Kein Mensch, der weiterhin Arbeit hat(!) würde deswegen auch nur einen Euro mehr oder weniger bekommen  es hat lediglich unten eine Kappung gegeben, die den Durchschnittswert verändert. 

Der umgekehrte Effekt entsteht, wenn Menschen im untersten Einkommenssegment eingestellt werden. Ob dieser Effekt -nur mit umgekehrtem Vorzeichen- die gesammte Veränderung der niedrigen Lohngruppen erklärt, kann ich nicht sagen. Aber zumindest darf man den Effekt nicht vernachlässigen. Wenn man mehr niedrig qualifizierte Beschäftigte im untersten Einkommenssegment in den Arbeitsmarkt bringt, dann muss sich das in der Statistik niederschlagen.

Diese Beispiele sollten genügen. 
Der Geschäftsführer des paritätischen Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider nannte die ursprüngliche Version des Berichts "Schonungslos" und lässt an den Korrekturen durch das Wirtschaftsministerium kein gutes Haar. 
Ich dagegen finde die Korrekturen sehr nachvollziehbar, oft sogar zwingend geboten.

Sieht man sich die nachfolgende mediale Reaktion an, dann kann man schon ins Grübeln kommen. Ich habe, so weit ich das überblicke, keinen einzigen Artikel gefunden, der sich tatsächlich mit dem Inhalt des 480-Seiten-Werks beschäftigt. Das Ding strotzt nur so vor Themen, Zahlen und Tendenzen. Da wird zum Beispiel berichtet, dass die Verteilung der Einkommen seit 10 Jahren praktisch unverändert ist (von 2000 bis 2005 leicht angestiegen von 0,25 auf 0,28 und seit dem konstant). Da wird von steigendem Prozentsatz der Erwerbstätigkeit berichtet bzw. entsprechend einer deutlichen Abnahme der Arbeitslosigkeit. Da wird von einem sinkenden Anteil Bürger berichtet, die ALGII in Anspruch nehmen; es wird davon berichtet, dass der Niedriglohnsektor über die letzten Jahre stabil blieb (und ganz zuletzt sogar abnahm). Über all das liest man kein Wort.

Dabei will ich nicht verschweigen, dass manche Informationen hinterfragt werden sollten. Eine Veränderung der Privatvermögen-Verteilung von 8% in 10 Jahren ist eine bemerkenswerte Veränderung. Eine so drastische Veränderung sollte geprüft und erklärt werden. Aber schmälert das die vielen positiven Entwicklungen, die auch im Bericht stehen? Oder, um auf die Titelzeile der SZ zurückzukommen: ist es sinnvoll, nur über ARMUT zu sprechen - wenn doch der Bericht im gleichen Moment zeigt, wieviele Menschen in Deutschland es zu REICHTUM gebracht haben (und zwar nicht nur sogenannte "Finanzhaie" oder "Nieten in..." ihr wisst schon)?

Statt dessen wird über geschätzt fünf gestrichene oder veränderte Sätze gerungen. Ob man diese Änderungen für sinnvoll hält, mag ja Auslegungssache sein (nach meiner Prüfung schon). Aber das durch diese fünf veränderten Stellen der gesamte Bericht verändert und damit "geschönt" worden wäre, ist schlicht und einfach billige Polemik. Bedauerlicherweise ist billige Polemik im deutschen Medienbetrieb bedrückend erfolgreich. Deswegen haben die SPD und Grünen das Thema im Wahlkampf aufgegriffen; jeweils mit einer Wortwahl, die so menschenverachtend und verhetzend ist, wie sich das in Deutschland eben nur Linke erlauben dürfen.

Dabei kann man im Internet auch sachliche Darstellungen des Berichts finden. Selbst Spiegel online hat wenigstens einmal einen Bericht veröffentlicht, der halbwegs objektiv an das Thema herangeht und feststellt:
"Denn der Armutsbericht - ob nun die alte oder die neue Fassung - vergleicht den Status 1998, also dem Jahr, als die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder (SPD) an die Macht kam, mit dem des Jahres 2008, also einer Zeit als Arbeits- und Finanzministerium immer noch in SPD-Händen waren. Die Schelte über die Entwicklung der Vermögen in dieser Zeit müsste also an die SPD selbst gehen und nicht etwa an die FDP!"
Aber diese Darstellungen sind so selten, dass sie im medialen Geschrei untergehen. 
Das ganze ist pure Meinungsmache. Und das mit Erfolg. Statt über 480 Seiten zu sprechen, spricht Deutschland nur über fünf Sätze daraus - und es steht zu befürchten, dass viele Bürger tatsächlich glauben, mit diesen fünf Sätzen alles wichtige über den Bericht zu wissen. 

Wozu 480 Seiten lesen, wenn´s auch fünf Sätze tun.


Frank2000


© Frank2000. Für Kommentare bitte hier klicken.