Nach Hamburg plant nun auch die
frisch gewählte rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen, das Sitzenbleiben
an den meisten Schulen abzuschaffen. Spiegel online zitiert die seinerzeit noch designierte niedersächsische
Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) mit den Worten:
An integrierten Gesamtschulen gibt es in Niedersachen schon jetzt kein Sitzenbleiben - durchaus mit Erfolg: "Wir haben an den Schulen die niedrigste Schulabbrecher-Quote überhaupt", sagte Heiligenstadt. "Aber natürlich müssen die Schulen auch in die Lage versetzt werden, so arbeiten zu können."
Nun müsste man natürlich zunächst
einmal fragen, inwiefern eine niedrige Schulabbrecherquote mit guter
Lernleistung korrespondiert und ob der zitierte „Erfolg“ sich auch in Form besserer
Vorbereitung auf das und größerem Erfolg im Berufsleben zeigt. Dieser Frage
möchte ich mich im Folgenden nähern.
Als ein Argument gegen das
Sitzenbleiben führen die Kritiker die angeblichen Kosten des Sitzenbleibens für den Staat in Höhe von
1 Mrd. Euro an. Nun, hier in NRW wird gerade mal
wieder eine Schulreform durchgeführt. Die wievielte das ist, weiß ich nicht,
aber es waren ihrer viele in den vergangenen Jahrzehnten. Jede dieser
Schulreformen muss geplant, implementiert und evaluiert werden – wobei bisher
offenbar jede Evaluation der jeweils letzten Schulreform ergeben haben muss, dass
weiterer Reformbedarf besteht. Anders ist die Reformitis der vergangenen
Jahrzehnte, insbesondere in sozialdemokratisch regierten Bundesländern, wohl
nicht zu erklären. Was kostet das eigentlich den Staat? Belastbare Zahlen
hierzu habe ich leider nicht gefunden.
Bemerkenswert ist das
Menschenbild, das die Reformpädagogen umzutreiben scheint: Der Mensch sei von
Geburt an eine „Tabula Rasa“, ein unbeschriebenes Blatt. Es gäbe keine
angeborenen Begabungsunterschiede, keine Temperaments- und motivationalen
Unterschiede, die nicht durch geeignete pädagogische Interventionen zu
korrigieren wären. Jeder kann alles lernen, wenn er nur genügend gefördert
würde. Die Verantwortung hierfür läge somit beim Staat; Bildungsversagen wird
so zu staatlichem Versagen, die Verantwortung für individuelles
Leistungsversagen trägt die Gesellschaft, allen voran die Lehrer.
Dies widerspricht zwar nicht nur
jeglicher Alltagserfahrung, sondern v. a. auch einschlägigen Forschungsbefunden.
Aber im Namen der Ideologie trägt man solche Irrtümer gerne mit. Vor allem aber überfordert
die Annahme, daß jedes Kind alles lernen könne die Leistungsschwächeren,
während die Leistungsstärkeren durch diese Gleichmacherei chronisch
unterfordert werden. Ergo: beide Gruppen bleiben am Ende unter ihren
Möglichkeiten; Gewinner sind die Mittelmäßigen.
Übrigens wurde das Sitzenbleiben erstmals im 16. Jh. in Jesuitenkollegien eingeführt. Dort wurden Schüler nicht nach Alter, sondern nach Wissensstand in eine Klasse zusammengeschlossen, und nur wer eine Prüfung bestand, durfte in die nächsthöhere Klasse vorrücken. Das nur nebenbei aus gegebenen Anlaß.
Menschen im Allgemeinen und Kinder im
Besonderen lernen am Erfolg – oder auch am Misserfolg. In der Lernpsychologie
spricht man von Verstärkung: Hat ein
Verhalten für den Betreffenden positive, erwünschte Konsequenzen, so steigt die
Wahrscheinlichkeit, dass das betreffende Verhalten erneut gezeigt wird, der
wirksame Faktor ist also Belohnung.
Hat ein Verhalten dagegen negative,
unerwünschte Konsequenzen, so sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass das
betreffende Verhalten erneut gezeigt wird, Bestrafung also. Diese suchen
Menschen im Allgemeinen zu vermeiden.
Das Hauptargument der Gegner der
Klassenwiederholung lautet, daß es eine nicht vertretbare Härte für das Kind
darstelle, den Klassenverband wechseln zu müssen, dass sie die Klassenwiederholung
unzumutbar stigmatisiere und
frustriere.
Dies scheint mir der zentrale Punkt zu sein.
Es geht den „reformorientierten“ Bildungspolitikern darum, Kinder und
Jugendliche vor Rückschlägen, der Erfahrung des Scheiterns, vor Unbilden und
Anstrengungen, ja vor Frustration überhaupt zu schützen. Und scheinbar glauben
sie, sie täten damit den Kindern etwas Gutes.
Das Gegenteil ist der Fall.
Frustration, die Erfahrung, sich für
Erfolg anstrengen zu müssen, und die damit verbundene Freude, aber auch die
Erfahrung von Niederlage und Scheitern bilden in der menschlichen Entwicklung
das aus, was wir Frustrationstoleranz nennen, ein wichtiger Faktor
seelisch-nervlicher Robustheit, die man auch Resilienz nennt. Diese psychische Stärke erwerben wir aber nur
durch die konkrete Erfahrung des Frustriertwerdens und der Niederlage sowie
deren erfolgreiche Überwindung. Niemand kann uns das abnehmen, wir reifen an
solchen Erfahrungen und werden „fit für das Leben“ mit seinen vielfältigen Frustrationen,
Rückschlägen und unerfüllten Wünschen.
Es ist vergleichbar mit dem
menschlichen Immunsystem. Wir sind biologisch nicht darauf ausgerichtet, in
besonders hygienischen Verhältnissen zu leben, unsere Immunabwehr wird durch
die Konfrontation mit Bakterien und Viren gleichsam trainiert und geeicht. Das Leben in allzu hygienischen
Verhältnissen fördert dagegen die Entstehung von Autoimmunkrankheiten wie z. B.
Allergien.
Der Versuch, Schüler vor seelischen
Belastungen und unangenehmen Erfahrungen zu schützen, führt dazu, dass diese
„Eichung“ ausbleibt. Die Schüler lernen nicht, mit Härten umzugehen. Im
Gegenteil wird die Erwartung auf Seiten der Schüler erzeugt und verfestigt, dass
sich schon immer „irgendwer kümmern“ werde, wenn es im Leben Probleme gibt,
eine verwöhnte Ansprüchlichkeit also, die durch die bemutternde Haltung der Schul-
und Bildungspolitik gefördert, ja erzeugt wird und die den Betroffenen in aller
Regel spätestens im ersten Lehrjahr auf die Füße fällt.
Die Diskrepanz zwischen den
Anforderungen im Berufsleben und den schulischen Voraussetzungen wird so immer
größer, nicht nur mit Blick auf grundlegende Fähigkeiten im Lesen, Schreiben
und Rechnen, sondern auch mit Blick auf die psychischen Voraussetzungen, im
(Berufs-)Leben zurechtkommen zu können.
Man liest und hört allenthalben von
der Modediagnose „Burnout“; ein spezifisch deutsches Phänomen übrigens, genau
wie die hochfrequenten Schul- und Bildungsreformen sehr deutsche Phänomene
sind. Ich vermute hier einen Zusammenhang.
Es gibt große Übereinstimmungen
zwischen „Burnout“, das übrigens keine anerkannte Krankheit ist, und der seit
langem bekannten psychiatrischen Diagnose Erschöpfungsdepression. „Burnout“ hat aber den Vorteil, daß man die Ursache der
Erkrankung im außen, in den „Verhältnissen“ suchen kann, während der Begriff
Depression doch eher personenbezogen gesehen wird. Der sprunghafte Anstieg der
Vorkommenshäufigkeit (Prävalenz) von „Burnout“ ist für Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften
dann auch stets ein Grund, auf den „zu großen Druck“ im Arbeitsleben
hinzuweisen, auf die „Entmenschung der Arbeit“ und auf das „Elend prekärer
Arbeitsverhältnisse“. Jeder würde unter solchen Verhältnissen krank werden, so
soll uns suggeriert werden.
Aber ist das auch so?
Ich bin der Meinung, dass der
objektive Leistungsdruck für einen Bergmann im Jahre 1910 deutlich größer war
als bei einem heutigen Arbeitnehmer. Verlor er seine Arbeit, standen er und
seine Familie buchstäblich vor dem Nichts, es drohten Hunger, Obdachlosigkeit
und Krankheiten. Es gab keinen Kündigungsschutz, keine Sozialversicherung, nur
eine rudimentäre Kranken- und Rentenversicherung.
Mir ist nicht bekannt, daß Arbeiter damals in großen Zahlen depressiv erkrankt
wären. Es ist also vermutlich nicht der objektive Druck, um den es hier geht,
sondern es geht um den „gefühlten“, den subjektiven Druck durch gegebene
Leistungserwartungen.
Psychische Störungen sind inzwischen
der häufigste Grund für vorzeitige Verrentung, noch vor den Erkrankungen des
Herzkreislaufsystems und vor den Erkrankungen des Skeletts.
Wie kommt das?
Könnte es sein, dass ein
dauerreformiertes Schulsystem, das versucht, jeden um fast jeden Preis
„mitzunehmen“, niemanden „zurückzulassen“, das Leistungsstandards für alle
senkt, um auch den Schwächsten jegliche Frustration und Misserfolg, gar
Scheitern, zu ersparen, dass gerade ein solches Schulsystem die Menschen später
krank und depressiv macht, diese späteren Krankheiten zumindest vorbereitet und
begünstigt?
Es passte jedenfalls auf perfide Art
ins Bild eines bemutternden Staates, der seine Bürger als Unbeholfene sieht,
wie der immer noch sehr vermisste Zettel vor nicht langer Zeit in einem Interview mit der „Welt“ sagte.
Erst werden die Menschen
seelisch-geistig geschwächt, um sie später als Gescheiterte auffangen zu
können. Der nächste Schritt auf dem Weg dahin wäre dann die Abschaffung der Schulnoten.
Nur um die Gescheiterten können die
Kümmerer sich kümmern.
Andreas Döding
© Andreas Döding. Mit Dank an die geschätzten Mitautoren Meister Petz für den Hinweis auf die Herkunft des Sitzenbleibens aus Jesuitenkollegien und Gansgouter für weitere Anregungen. Titelbild vom Autor Fluteflute als public domain freigegeben. Für Kommentare bitte hier klicken.