25. Oktober 2014

Der Heilige Römische Rechtsstaat und Preußens Gloria

Das Bundesverfassungsgericht gilt gemeinhin als eine der größten Errungenschaften des demokratischen Nachkriegsdeutschlands. Die ausgeprägte Verfassungsgerichtsbarkeit gilt als eine der größten politischen Exporterfolge des deutschen Verfassungsstaates, wenngleich das Konzept eines eigenständigen Spezialgerichtes für Verfassungsfragen, das auch von sich in ihren Verfassungsrechten verletzt sehenden Individuen angerufen werden kann und dabei weitreichende Kompetenzen bis zur Normenkontrolle selbst legislativer Handlungen in sich vereint, zuerst in Österreich ausgearbeitet und ausgereift umgesetzt wurde.
­ 
Nach den Erfahrungen mit der Übernahme und Transformation der Weimarer Republik durch Feinde eines demokratischen Verfassungsstaates und Angesichts der in der Weimarer Verfassung noch deutlich zu erkennenden Vorbehalte gegen eine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit nach österreichischem Vorbild, gilt das Bundesverfassungsgericht heute als Garant einer liberal-pluralistischen Demokratie, die sich in der Wahl ihrer Mittel zum erreichen ihrer Ziele rechtsstaatlicher Selbstbeschränkung unterwirft.

Damit kehrte Deutschland aber lediglich in modernisierter Form zu der, aus dem Heiligen Römischen Reich gewohnten, Tradition zurück. Eine Tradition, die bereits von Autorenkollege R.A. in einer kleinen Artikelserie ausgeführt wurde. Diese vormoderne Variante der Rechtsstaatlichkeit wurde seit der Auflösung des Reiches erfolgreich von der preußischen Mentalität verdrängt, die auf einen "starken Mann" als ersten Diener des Staates setzt, der sich wegen seines Pflichtbewusstseins selber beschränkt, aber nicht von anderen gebunden ist, sondern als Verkörperung des Fortschritts und der Aufklärung jederzeit zum Wohle des Staates politisch handeln kann und damit auch Recht setzt. 

Wie schon das Heilige Römische Reich einen Unterschied zwischen Kaiser und Reich kannte, so gab es auch im preußischen Verständnis noch einen Unterschied zwischen absolutistischem Souverän und Staat, sonst wäre er nicht "erster Diener des Staates". Die Gleichsetzung der Person des Monarchen mit dem Staat in einem unbescheidenen "Der Staat, das bin ich" gab es so in Deutschland nicht. Die scheinbar bescheidene Interpretation eines Staatsoberhauptes als ersten Diener des Staates, welcher als oberstes, allen anderen übergeordnetes Organ selbstlos den Interessen des Allgemeinheit, des gesamten Volkes dient, hatte weitreichende Konsequenzen. Wenn selbst ein absolutistischer Monarch von Gottes Gnaden nur "erster Diener des Staates" ist, dann sind alle seine Untertanen, dann ist das ganze Volk erst Recht, ohne Ausnahme, Diener des Staates. Der Rechtsstaat und seine gesetzlich verbrieften Rechtsschutzverfahren, wie man Sie in Form des Reichkammergerichtes und der Untertanenprozesse kannte, sind dann nicht mehr ein Schutz der individuellen und kollektiven Rechte vor der Obrigkeit, sondern lediglich eine lobenswerte, anzustrebende Art die Herrschaft auszuüben. In dieser Sichtweise ist der Rechtsstaat nur eine lobenswerte und aufgeklärte Form der Herrschaft, Rechte zu gewähren und zu achten, als seien sie dem Souverän und dem Staat entzogen, obwohl sie es nicht sind. 

Doch wie konnte sich diese preußische Sichtweise überhaupt gegen die Tradition des Heiligen Römischen Reiches durchsetzen? 

Ursächlich dürfte hier, der Ausspruch "erster Diener des Staates" deutete es bereits an, Vorbild und vor allem Mythos Friedrich des Großen sein, die Blaupause des aufgeklärten, absoluten Monarchen. Der Mythos, mit einem standfesten Mann an der Spitze auch gegen eine jeden Erfolg unrealistisch erscheinen lassende Übermacht bestehen zu können, nahm von Friedrichs Sieg  gegen alle Chancen im Siebenjährigen Krieg zwischen dem alleine stehenden Preußen und einer Übermacht an Groß- und Mittelmächten, seinen unheilvollen Ursprung. Friedrich II., der Niccolò Machiavellis Handlungsempfehlungen und Idealbild in "Der Fürst" öffentlich und offensiv verurteilt hat, doch im Namen des Allgemeinwohls die schlesischen Ländereien der Habsburger unrechtmäßig annektierte und damit durchkam, prägte die deutsche Wahrnehmung und das deutsche Ideal nachhaltig, was sich bis in die Weimarer Verfassung und der starken Stellung des Reichspräsidenten und die skeptische Haltung gegenüber juristischer Klärung von Organstreitigkeiten und Verfassungsfragen durch konservative Juristen widerspiegelte. Und, wenn auch in einer nationalistisch und sozialistisch auf die Spitze getriebenen Variante und all seinen bis dahin noch damit verbundenen, aufgeklärten Aspekten entkleidet, auch noch in dem, was darauf folgte.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass hiernach eine grundlegende Abwendung von dieser zweiten deutschen, dieser preußischen Tradition stattfand. Man stellte sich nach dem zweiten Weltkrieg in Westdeutschland mit der starken, als oberstes Gesetz juristisch untermauerten Stellung des Grundgesetz und der Institution des Bundesverfassungsgerichtes wieder in die ursprünglichen deutsche Tradition.

Doch darf all dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch das Heilige Römische Reicht ein vormoderner Rechtsstaat war, der geprägt war von althergebrachten Rechten und eroberten Ansprüchen, die mit dem Recht des Siegers, dem Eroberungsrecht, legitimiert wurden und die juristische Basis für die Leibeigenschaft bildeten. Streitfrage, welche die damalige Rechtslehre beschäftigten, war beispielsweise, ob eine Grundannahme der Freiheit besteht, falls eine Leibeigenschaft nicht konkret gerichtlich nachgewiesen werden konnte, oder ob, da es deutlich wahrscheinlicher sei, dass es sich um Nachkommen besiegter Einheimischer handelte, die nur aus Gnade von den Eroberern am Leben gelassen wurden, die dadurch ihrer Freiheit verlustig gingen, eine Vermutung zu Gunsten der Leibeigenschaft der Bauern bestehe. Ordnungspoltische Überlegungen hatten in diesen rein verrechtlichten, juristischen Denkmustern keinen Platz. Mit den Werten des klassischen Liberalismus, wie er sich in Britanien entwickelte, steht diese Tradition daher, bei aller gegenseitigen Sympathie und Befruchtung, ebenfalls in einem gewissen Spannungsverhältnis.
 

Techniknörgler


© Techniknörgler. Für Kommentare bitte hier klicken. Dieser Artikel gehört zu einer zweiteiligen Serie, die sich mit dem Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und einer verrechtlichung der Politik einerseits und den Werten des klassischen Liberalismus andererseits beschäftigt. Ein Thema, mit dem sich der zweite Artikel und eigentlicher Kern dieser Serie beschäftigen wird, zu dem dieser Artikel als einführendes Vorwort dient.