Wer nicht Literat ist, kann die vielen Dichter nicht alle kennen. Am besten ist es, man wählt sich nur einige aus, liest dann aber möglichst viele Werke dieser Erwählten. Am interessantesten ist es, nach dem Abstand vieler Jahre dieselben noch einmal mit reiferem Auge zu lesen. Die Bühnen spielen Hebbel noch, wie die Kölner Judith-Inszenierung gerade zeigt: „die bis in die Extreme des Dramas nicht vordringt und seine Ungeheuerlichkeiten nicht erschließt“ (A. Rossmann, F.A.Z. 26.11.13), aber wer liest ihn noch, den spröden grüblerischen Autor, der von allen weltanschaulichen Strömungen seines aufgeklärten Jahrhunderts gebeutelt war? Die vier Bände Tagebücher der Selbstbeobachtung, Selbsterziehung und unerbittlichen Wahrheitssuche gelten als unsterblich. Sie wurden zum Schatz für Kalendersprüche; als Beispiel: „Der Utopist sieht das Paradies, der Realist das Paradies plus Schlange.“
Was wollte Hebbel? Wer war er? Was ist sein Besonderes neben Grillparzer, Kleist, Ibsen und Strindberg? In seinen schwer aufführbaren Dramen zeigt es sich am deutlichsten. Er wollte, von Hegels Philosophie angeregt, die Welträtsel damit lösen, dass er die Leiden in der Geschichte aus dem entzweienden Streit zwischen dem individuellem Willen und dem Weltwillen erklärte: In diesem Kampf muss der Einzelne untergehen, als Opfer für den Fortschritt. Der Held trägt in diesem Drama des Weltprozesses also keine Schuld, sondern nur ein Schicksal. Es gibt nicht Gut und Böse, es gibt keine Sünde, nur die Gegensätze, die durch Entzweiung und neue Einheit den nächsten Schritt der Weltgeschichte hervorbringen wie durch Geburtswehen. Daher gilt Hebbel die Tragödie als die höchste Form der Kunst.
Ein paar der schönen lyrischen Zeilen Hebbels hat mancher im Kopf, vielleicht aber den Namen des Autors vergessen:
Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
Sie war, als ob sie bluten könne, rot;
Da sprach ich schauernd im Vorübergehn:
So weit im Leben ist zu nah am Tod! (Sommerbild)
Oder:
Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
Und dennoch fallen raschelnd fern und nah
Die schönsten Früchte ab von jedem Baum. (Herbstbild)
Viele Gedichte sind gedankenüberfrachtet. Die wichtigere Form für Hebbels Ideen ist die Tragödie. Er kritisierte, das zeitgenössische Drama sei zum „Unterhaltungsmittel, Zeitvertreib“ herabgekommen, glaubte aber, „das Volk hat Phantasie, es lässt sich hinreißen und erschüttern“. („Mein Wort über das Drama“, Vorwort zu „Maria Magdalene“) Und weiter: Die Kunst habe die Aufgabe, „den welthistorischen Prozeß, der in unseren Tagen vor sich geht“, zu vertiefen und an sein Ziel zu bringen, ohne die politischen, religiösen und sittlichen Institutionen zu stürzen. Der Platz, der einst von Gott eingenommen wurde, lasse sich aber heute nur mehr durch die „Kategorie des Gewissens füllen.“
Als Aufgabe des Dramas nennt er in einem Gedicht: „Packe den Menschen, Tragödie, in jener erhabenen Stunde, / Wo ihn die Erde entläßt, weil er den Sternen verfällt, / Wo das Gesetz, das ihn selbst erhält, nach gewaltigem Kampfe / Endlich dem höheren weicht, welches die Welten regiert, / Aber ergreife den Punkt, wo beide noch streiten und hadern, / Daß er dem Schmetterling gleicht, wie er der Puppe entschwebt.“ („An den Tragiker“)
In den Charakteren seiner tragischen Helden beiderlei Geschlechts beschreibt Hebbel psychologisch die seelischen Wandlungen, die den Streit der beiden Willen aufheben müssen. Er behandelt die Gegensätze: Ich – Gemeinschaft, Mann – Frau, Leben – Tod, Zeit – Ewigkeit. Dazu sucht er z. B. eine biblische Gestalt wie „Judith“ (Erstlingswerk). Aber er stellt die biblische Legende auf den Kopf: Sie verfällt Holofernes in voller Liebe. Sie tötet ihn nicht mehr im Sinn ihres Auftrags, Israel zu retten, sondern mit blutendem Herzen. Sie wird öffentlich als Heldin verehrt und muss ihre einsame Wahrheit allein tragen in der Hoffnung, dass sie keinen Sohn empfangen hat.
Auch die schöne „Agnes Bernauer“ gerät in einen Konflikt, nämlich mit der Staatsraison des 15. Jahrhunderts. Die Herrscherpflicht des jungen Herzogs erlaubt keine Heirat einer Bürgerlichen, das Wohl des Landes erlaubt das Glück zweier Menschen nicht. Sie wird in der Donau ersäuft, der Geliebte ruft zum Bürgerkrieg auf. Der herzogliche Vater versöhnt ihn mit dem Opfer durch eine Veröffentlichung der heimlichen Eheschließung, durch seinen Rücktritt als Herzog und Eintritt in das Kloster Andechs. Hebbel wollte eine Antigone für die Moderne erschaffen, aber die Grausamkeit der Staatsordnung überzeugt heute keinen Zuschauer mehr.
Mit dem bürgerlichen Trauerspiel „Maria Magdalene“ aus eigener Lebenserfahrung gelang ihm hingegen ein soziales Drama, das ihn zum Wegweiser für den literarischen Realismus im deutschen Drama machte.
Unbedingt muss die Trauerspiel-Trilogie „Die Nibelungen“ genannt werden. Der Stoff des alten Liedes zeigte den brutalen Wert Rache und nochmals Rache bis zum Untergang fast aller, unter einem schwachen Firnis des Christlichen. Hebbel lässt am Anfang den bösen Hagen am christlichen Jagdverbot am Ostermorgen Anstoß nehmen und endet mit dem überlebenden Christen der Tat Dietrich von Bern, der das alte heidnische Geschlecht verabschiedet. Aber das Kreuz hat die Europäische Aufklärung nicht mehr bewegt.
Einen ebenso wenig überzeugenden Schluss hatte er seiner sonst meisterhaften Ehe-Tragödie „Herodes und Mariamne“ gegeben, indem er die heiligen Drei Könige aufmarschieren ließ, - einen Auftritt, den jede Aufführung nur streichen kann, um gleich zum Kindermord zu kommen. Er träumte auch von einem Mysterienspiel „Christus“ und zwar im Geist der Aufklärung: ohne den Glauben an ein jenseitiges Leben nach dem Tod. Er hatte übrigens auch eine Antwort auf den Kommunismus als Rückfall in die Tierheit der Masse unter seinen Plänen.
Nur Gott ist die Einheit von Naturgesetz und Sittengesetz, der einzelne Mensch gerät bei Hebbel notwendig in einen unfreien Gegensatz zum Ganzen. Meist nur durch den Untergang der Person geht der Gang der Weltordnung weiter. Das ist keinesfalls eine richtige Interpretation dessen, was man im christlichen Weltbild „Erbsünde“ oder genauer „Folgen der Ursünde“ nannte. Allenfalls variiert Hebbel die Verzerrung zu einem „Mit Totalschaden geboren“, die der alte Protestantismus der maßvollen katholischen Sicht „Nur verwundet“ gegenüberstellte.
Heute sieht die fortgeschrittene Theologie die Sache völlig anders: Nicht das erste Menschenpaar unter den Affen hat uns alles verdorben, als es „heraus aus dem Garten bloßer Tiere“ (Ernst Blochs Hegel-Deutung) schritt, sondern „Ursünde“ bezeichnet das Noch-Nicht von Menschengruppen und Kulturen: ein Noch-Nicht volles Entsprechen ihrer eigentlichen Berufung zu der möglichen Freiheit von ‚Söhnen und Töchtern Gottes‘. Auch die Religionen mit Gottesangst und mit Gewaltausübung fallen daher unter die ‚Folgen‘ dieser ‚Erbsünde‘ des Noch-Nicht von Freiheit und Brüderlichkeit.
Hebbel notierte verwandte Sätze: „Weil die Deutschen wissen, daß die wilden Tiere frei sind, fürchten sie, durch die Freiheit zu wilden Tieren zu werden.“ - „Wenn alle Menschen sich bei der Hand fassen, ist Gott fertig.“ Wie hat er die Existenz Gottes verstanden? Dasein nur im Bewusstsein des Menschen? Ganz wie die linke Hegelschule wohl nicht, wie ein weiterer Satz aus den Tagebüchern zeigt: „Gott war sich vor der Schöpfung selbst ein Geheimnis, er mußte schaffen, um sich selbst kennen zu lernen.“
Hebbel leugnete nicht das Gutsein der Welt, da er dichtete: „Du bist der Schmetterling, der auf den Flügeln / Den Schlüssel zu der Schöpfung trägt.“ (Das Geheimnis der Schönheit) Aber er betonte immer das Leiden in der Welt mehr als das Schöne. So deutet er auch in seinem Langgedicht „Dem Schmerz sein Recht“ unser Herkommen aus dem Sternenstaub und unser Zurück zu ihm so: „Alles Leben ist Raub; / Funken, die Sonnen entstammen, / Lodern, das All zu durchflammen, /Da verschluckt sich der Staub.“ [Ich hoffe, „sich“ ist kein Lesefehler eines handschriftlichen „sie“.] Das wirkt gewaltig.
Was vermisst man bei ihm? Die zweite Seite des menschlichen Dramas. Platon hat dieses Gleichgewicht von Ernst und Humor dem weisen Sokrates in den Mund gelegt: „Die Hauptsache aber sei gewesen, so erzählte er, dass Sokrates sie gezwungen habe zuzugeben, ein und demselben Mann komme das Wissen zu, Komödien und Tragödien zu schaffen, und der sachkundige Tragödiendichter sei auch Komödiendichter. Das hätten sie zugeben müssen; aber sie seien nicht sehr aufmerksam gefolgt und eingenickt.“ (Das Gastmahl, am Schluss) Hebbel hatte sogar eine Prosa-Komödie „Der Diamant“ zur Sinnlosigkeit des Besitzes versucht, aber sie misslang.
Vielleicht sind die tragische Schwere des norddeutschen Dichters und sein früher Tod von seiner entbehrungsreichen Jugend geprägt, einem sozialen Elend, das bis in das Hungerleben als Student reichte. Drei Frauen finanzierten ihn. Die erste förderte als Gönnerin seine Ausbildung. Die zweite, Elise Lensing, ließ er mit zwei Kindern im Stich, als sich eine Heiratsmöglichkeit mit der wohlhabenderen Wiener Burgschauspielerin Christine Enghaus auftat. Er hat kurz in Hamburg, zwei Jahre in München und 18 Jahre in Wien gelebt.
Bleibt noch, den Sinn der Befürchtung „der Mensch ein Schmerz nur in Gott?“ zu klären. Meinte Hebbel, Gott sei nur eine Vokabel in unserem Bewusstsein, dann bedeutet das „nur“: Leiden gehören nun mal zum Leben. Meinte er aber, Gott existiere real, dann würde das sagen: Wir sind Teil Gottes, aber eine gefährliche Kreatur ob der uns gelassenen Freiheit. Mir scheint, er meinte dieses Zweite, scheiterte aber bei der Suche nach dem Heilmittel.
Die Hauptüberschrift ist Hebbels Gedicht „Das Urgeheimniß“ entlehnt. Der Kontext lautet:
„Wie der Schmerz entsteht? Nicht anders, mein Freund, als das Leben: Thut der Finger dir weh, schied er vom Leibe sich ab, Und die Säfte beginnen, im Gliede gesondert zu kreisen; Aber so ist auch der Mensch, fürcht' ich, ein Schmerz nur in Gott.“(Friedrich Hebbel, Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin 1911, 376)
© Ludwig Weimer. Für Kommentare bitte hier klicken.