4. Dezember 2013

Volkes Wille in Umfragen und Volksentscheiden



Am Sonntag, dem 24. November 2013 wurde in der Schweiz über zwei Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung und über ein Bundesgesetz, gegen das mindestens 50.000 Stimmberechtigte das fakultative Referendum ergriffen haben, abgestimmt. Genauer handelte es sich um den letzten Termin zur Stimmabgabe. Viele Schweizerinnen und Schweizer hatten wie üblich die Möglichkeit ihren Stimmzettel bereits zu Hause auszufüllen und dann entweder per Briefwahl einzusenden oder den bereits zu Hause ausgefüllten Stimmzettel bis zu einer Woche vorher an entsprechenden Abgabestellen oder bis zur Schließung der Wahllokale am Sonntag in die Urne zu werfen. In einigen Kantonen war auch die Möglichkeit der Stimmabgabe über das Internet im Rahmen von eVoting-Projekten gegeben. Dafür schlossen die Wahllokale am Sonntag bereits um 12 Uhr, entsprechend gab es schon um Mittag die ersten Hochrechnungen, im laufe des Nachmittags konnte man sich der Ergebnisse bereits sicher sein.

Die Schweiz, weltweit berühmt für ihre direktdemokratischen Elemente, gilt gemeinhin als ein liberales bis konservatives Land. Der Eindruck wird gestärkt durch die Ergebnisse der regelmäßig stattfindenden Volksentscheide. Die Sorge, die direkte Demokratie würde Einfallstor einer uneingeschränkten Selbstbedienungsmentalität, wird durch die bisherige Erfahrung in der Schweiz nicht bestätigt. Häufig besteht jedoch die Befürchtung in anderen Ländern würde die Entscheidungen auf Grund einer anderen politischen Grundhaltung in der Bevölkerung anders ausfallen.
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Dies lässt sich nicht ausschließen und ist in einem gewissen Rahmen sicherlich auch der Fall. Allerdings zeigen die häufig angeführten Umfragen aus anderen Ländern ohne direkte Demokratie, insbesondere Deutschland, nicht den Ausgang eines Volksentscheides zur selben Frage auf. Auch in der Schweiz zeigt sich nämlich ein Unterschied zwischen dem sich in Volksentscheiden und zeitlich kurz vorher stattfindenden Umfragen  offenbarenden Volkswillen auf der einen Seite und der sich in sonstigen Umfragen ausdrückenden Volksstimmung auf der Anderen. So hatten 6 Wochen zuvor die Umfragewerte die Unterstützer der Vorlagen noch hoffnungsvoll gestimmt. Schauen Sie sich, lieber Leser, einmal die folgenden repräsentativen Umfrageergebnisse des schweizerischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens vom 18. Oktober 2013 an:

Erste Umfrage der SRG SSR

Die "1:12 - Initiative" der Jungen Sozialisten der Schweiz sah die Einführung einer gesetzlichen Lohnobergrenze in Abhängigkeit des niedrigsten Lohns im Unternehmen vor. Die Idee, das höchste Monatsgehalt dürfe nicht höher sein als das niedrigste Jahresgehalt, hatte vor allen in linken Kreisen viel Unterstützung. Es gab schon Hoffnung auf einen bedeutenden Linksschwenk der Schweiz, was durch die ersten Umfragen genährt wurde: Zwischen den Befürwortern und den Gegner der "1:12"-Initiative gab es Gleichstand.

Die Initiative "Steuererleichterungen für Familien" wurde besonders von konservativer Seite begrüßt. Sie hatte von allen dem Volke vorgelegten Fragen mit sage und schreibe 64% der Befragten die höchste Unterstützung. 

Das Referendum wurde gegen ein Gesetz der Bundesversammlung zur Erhöhung der Autobahnmaut von 40 SFR um 150% auf 100 SFR ergriffen. Immerhin 53% der Befragten signalisierten ihre Zustimmung zur Mauterhöhung und hatte damit einen Vorsprung von 12%-Punkten vor den Gegnern.

In der zweiten Umfrage des schweizerischen Fernsehens vom 13. November ‐ nur noch rund eineinhalb Wochen war der letzte Termin zur Stimmabgabe entfernt ‐ sah die Haltung im Volk schon anders aus:

Zweite Umfrage der SRG SSR

54% der Befragten lehnten die "1:12 ‐ Initiative" jetzt ab. Die anderen beiden Vorlagen wurden noch von mehr Befragten befürwortet als abgelehnt, aber der Vorsprung der Befürworter hatte sich bereits deutlich reduziert. Als am Sonntag Mittag die ersten Hochrechnungen veröffentlicht wurden, war die Niederlage beider Volksinitiativen, als auch die Ablehnung der Mauterhöhung, klar.

Dieses Beispiel bestätigt ein interessantes Muster: Solange bis zum Volksentscheid noch Zeit ist, erfahren Initiativen noch höhere Zustimmung als später, wenn es auf die verbindliche Entscheidung zugeht. Man würde der Demoskopie unrecht tun, würde man jetzt pauschal die Aussagekraft ihrer Umfragen grundsätzlich in Frage stellen, weil die frühen Umfrageergebnisse vom späteren Endergebnis des Volksentscheides stark abweicht. Ich unterstelle zumindest dem SRG SSR, dem schweizerischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, keine manipulative Vorgehensweise. Auch ist seriös und wissenschaftlich betriebene Demoskopie nicht unfähig bei sauberem Vorgehen im Rahmen des Messfehlers zuverlässig die Stimmung im Volk zu erfassen. Auch hier hielte ich Vorwürfe an den SRG SSR für unhaltbar. Der scheinbare Fehler ist eher beim befragten Volk zu suchen und stellt eigentlich ein vollkommen nachvollziehbares Verhalten dar. Kein Mensch kann sich permanent für alles interessieren. Es lohnt sich in vielen Fällen auch nicht sich mit jedem Thema zu beschäftigen, wenn die eigene Meinung keine unmittelbare, rechtlich verbindliche Auswirkung hat. In Ländern ohne ausgeprägt direkte Demokratie wie in der Schweiz, also allen Staaten dieses Planeten außer der Schweiz selber und Lichtenstein, herrscht sowieso die Haltung vor "die da Oben machen doch eh was sie wollen". Fragen zu Sachthemen werden dann natürlich notgedrungen vom überraschend befragten Umfrageteilnehmer aus dem Bauch heraus beantwortet, basierend auf den oberflächlich aufgeschnappten Informationen, aber auch den gezielten Versuchen seine gefühlsmäßige Wahrnehmung, sein Bauchgefühl, zu trainieren. 

Offenbar gilt das auch, wenn grundsätzlich ein Volksentscheid möglich wäre, aber nicht aktuell ansteht. Steht aber ein Volksentscheid an, in dem die eigenen Stimme tatsächlich eine rechtsverbindliche Wirkung besitzt, die mit einer - zumindest vor einem selber - nicht zu leugnenden Verantwortung für die Auswirkungen einhergeht, wird die Entscheidung nach ganz anderen Kriterien getroffen, als eine aus dem Bauch heraus und vom spontanen Gefühl geprägte Antwort bei einer Umfrage. Und natürlich spiegelt sich dieser persönliche Willensbildungsprozess auch bereits in dem Volksentscheid zeitlich nahen Umfragen wieder. Umfragen lassen sich, so man denn wollte, daher vermutlich auch weitaus leichter zu Themen manipulieren, zu denen aktuell keine verbindlich Entscheidung durch das Volk ansteht. Denn hat sich der Bürger, in dem Bewusstsein eine relevante Antwort in einem Volksentscheid abzugeben, zu einer Sachfrage vorbereitet, so wird er bei jeder Umfrage zum Thema die konkrete, bald rechtlich relevant zu beantwortende Sachfrage im Hinterkopf haben und sich so weniger von einer manipulativen Fragestellung aus der Bahn bringen lassen.

Solange dies aber nicht der Fall ist lässt sich mit Umfragen auch wunderbar manipulieren. Wenn es zur eigenen Agenda passt, kann ein medialer oder politischer Akteur ein ihm genehm erscheinendes Umfrageergebnis zur Stimmungsmache oder Legitimation des eigenen Handelns herausstreichen, ansonsten kann er es ignorieren, auf Nachfrage auch gerne immer wieder unter Verweis auf das in Umfragen zum Vorschein kommende unüberlegte Votum.
Umfragen erfassen aber regelmäßig nur die Volksstimmung, der Volkswille bildet sich erst nach einem langen Abwägungsprozess aus, wie er in der Regel nur durch eine anstehende, persönlich zu treffende Entscheidung in Gang gesetzt wird.

Techniknörgler


© am Text bei Techniknörgler. Das oben benutzte Bild "Die Landsgemeine" aus dem Sterbejahr des am 7. Juni 1912 in Bern verschiedenen schweizerischen Maler Albert Welti ist wegen Ablauf der Schutzfrist gemeinfrei. Für Kommentare bitte hier klicken.