26. Dezember 2013

Zweierlei Maß oder: Die Selbstversenkung der Piraten


Ihren fahrbaren Untersatz selbst versenkende Piraten bilden in der Comic-Reihe Asterix einen geläufigen Topos. Dass es die unter der schwarzen Flagge segelnde Partei ihren gezeichneten Namensvettern gleichgetan hat, ist eine Behauptung, die inzwischen wohl nicht mehr auf allzu viel Widerspruch stößt. Der dritte Platz unter den nicht in den Bundestag eingezogenen Gruppierungen ist selbstverständlich kein Medaillenrang. Und im Gegensatz zu FDP und AfD, welche bei der Bundestagswahl die Fünfprozenthürde nur knapp verfehlt haben, sind die Piraten mit 2,2 Prozent nicht einmal annähernd in den Bereich der zu überspringenden Höhe gelangt.

Eher ein Symptom für den Absturz der Piraten in die Bedeutungslosigkeit als dessen Folge dürfte eine Stellungnahme wie jene zu den dort als „Proteste“ titulierten Vorgängen im Zusammenhang mit der geplanten Schließung des linken Kulturzentrums „Rote Flora“ im Hamburger Schanzenviertel darstellen. Der Piraten-Bundesvorsitzende Thorsten Wirth findet sich in dem Kommuniqué mit folgenden Worten zitiert:

Das autonome Zentrum ist ein Symbol für die Auswirkungen der rasant fortschreitenden Gentrifizierung in nahezu allen deutschen Großstädten und steht für das allgemeine Gefühl zunehmender sozialer Kälte. Die Demonstranten kämpfen nicht nur um ein Gebäude, sondern um ihre Lebensräume und selbstbestimmten Lebensentwürfe. Sie dabei zu unterstützen und ihr Wohl nicht dem Profitstreben einiger weniger unterzuordnen, muss die Aufgabe der Politik sein. [Im Original kursiv und mit Hyperlink bei „Gentrifizierung“.]
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Der letzte Satz kann nur in programmatischem Sinne verstanden werden. Als Beschreibung der aktuellen Rechtslage taugt er jedenfalls nicht. In seinem vielbeachteten, vor wenigen Tagen gefällten Garzweiler-II-Urteil vertritt das Bundesverfassungsgericht nämlich die Ansicht, dass ein

eigenständiges Recht auf Heimat im Sinne des mit dem gewählten Wohnsitz dauerhaft verbundenen städtebaulichen und sozialen Umfelds
vom Grundgesetz nicht gewährleistet wird (BVerfG 17.12.2013, 1 BvR 3139/08 u.a., Randnummer 264). Eine Pflicht des Staates, Ortsteile in ihrer demographisch-kulturellen Struktur zu erhalten, wird man aus der Verfassung also nicht ableiten können.

Eine milieubezogene Einbalsamierung von Stadtvierteln ist angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten überdies absolut entbehrlich. Denn bei allem Gejammer über die Gentrifizierung eines Kiezes wird geflissentlich übersehen, dass in den Ballungsräumen auch gegenteilige Effekte ihre Wirkung zeitigen: Bessere Gegenden verlieren ihre Attraktivität für den solventen Mieter oder den Immobilienkaufinteressenten, wodurch sich der Marktpreis auf einem niedrigeren Niveau einpendelt und günstiger Wohnraum ohne jeglichen staatlichen Eingriff neu entsteht. Das bekannteste historische Beispiel für diese Entwicklung ist Harlem zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dass der ökonomische Abstieg des New Yorker Stadtteils nicht nur einer Szenekultur (mit dem musikgeschichtlich bedeutsamen Cotton Club) förderlich war, sondern dass mit ihm auch soziale Übel wie Kriminalität und Prostitution einhergingen, sollte ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden.

Doch Gentrifizierungsgegnern wie Thorsten Wirth geht es ja nicht nur um preiswerte Unterkunftsmöglichkeiten und auch nicht darum, dass die Wohlstandssanierung eines Viertels diesem eine höhere Aufenthaltsqualität bescheren kann, sondern um „Lebensräume und selbstbestimmte[n] Lebensentwürfe“. Der lexikalische Missgriff „Lebensräume“ wurde schon in einem anderen Blog (dem ich den Hinweis auf den gegenständlichen Piraten-Text verdanke) mit nicht unverdienter Häme bedacht. Interessanter ist jedoch die dahinter stehende Geisteshaltung: Wenn für einen alternativen Kiez eine Bestandsgarantie erstrebenswert ist, müsste dies dann nicht ebenso für bürgerliche Gegenden gelten oder auch für Straßenzüge, die bislang überwiegend von autochthonen Deutschen bewohnt worden sind? Kann der ältere Ureinwohner eines nunmehr von Migranten geprägten Stadtteils auf die Unterstützung der Piraten hoffen, wenn er sich sein Viertel in der Bevölkerungsstruktur von vor vierzig Jahren zurückwünscht?

Man vermutet hier wohl zu Recht, dass gewisse selbstbestimmte Lebensentwürfe gleicher sind als andere, und dass demjenigen, der sich in seiner angestammten Wohnstraße fremd fühlt, weil auf dieser Deutsch nicht mehr die Alltagssprache darstellt, kein Anspruch auf eine gleichbleibende Umgebung zugebilligt wird.

Wir sehen die Vielfalt, die auch durch das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft entsteht, als Bereicherung des gesellschaftlichen Lebens an[,]
verlautbart die Piratenpartei auf ihrer Website. Nur Menschen privilegierter sozialer Herkunft sollen nicht in den Szenekiez eindringen und dort sesshaft werden. Das wäre der Diversität und der Bereicherung dann doch ein bisschen zu viel.

Für die etablierten Parteien mag das Internet Neuland darstellen. Für die anfangs mit ihrem Schwerpunkt in elektronischer Kommunikation auftrumpfenden Piraten war hingegen die Politik ein weißer Fleck auf der Landkarte. Und so wie die traditionellen Kräfte das Wesen der digitalen Medien wohl noch immer missverstehen, sind die Piraten bei ihrer Entdeckungsreise in die Welt der realen Staatskunst einem folgenschweren Irrtum aufgesessen: Wer denselben Kurs einschlägt wie die Mehrzahl der anderen Freibeuter, darf sich nicht wundern, wenn er am Ziel seiner Reise vor erschöpften Edelmetallminen steht. Auch der Markt für linke Doppelmoral kennt einen Sättigungszustand.

Aber vielleicht ist das ja der entscheidende Fehler an der parlamentarischen Demokratie: Sie bietet dem einzelnen Politiker keinen Habitat- und Lebensentwurfschutz. Die ehemaligen Minister und Abgeordneten der FDP sowie Heide Simonis können von diesem Ungemach ein leidig Lied singen. In einem mitfühlenden Staat wäre so etwas nicht passiert.

Noricus


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