(Aufnahme des 2m-Twin Telescope des Observatorio del Teide auf Teneriffa vom 3. Juli 2025)
“Mit dem Jahr 2130 entdeckten die Radarteleskope auf dem Mars Asteroiden mit einer Rate von einem Dutzend pro Tag (…) Das Objekt, das zunächst als 31/439 katalogisiert wurde, nach dem Jahr und der Reihenfolge seiner Entdeckung, wurde entdeckt, als es sich noch außerhalb der Jupiterbahn befand. (…) Dann wurde die Umlaufbahn berechnet, und das Rätsel wurde gelöst – und durch ein größeres ersetzt. 31/439 bewegte sich nicht entlang einer gewöhnlichen Asteroidenbahn, auf einer Ellipse, die sie alle paar Jahre mit der Präzision eines Uhrwerks wiederholte. Es handelte sich um einen einsamen Wanderer zwischen den Sternen, der dem Sonnensystem seinen ersten und letzten Besuch abstattete – denn es bewegte sich so schnell, daß die Schwerkraft der Sonne es niemals einfangen konnte. Es würde sich ihr nähern, näher als die Umlaufbahnen von Jupiter, Mars, Erde, Venus und Merkur, und dabei beschleunigen, um dann die Sonne zu umrunden und erneut im Unbekannten zu verschwinden.
„An diesem Punkt schalteten die Computer ihr ‚Achtung! Wir haben etwas Interessantes aufgespürt“-Signal ein, und die Menschen wurden auf 31/439 aufmerksam. In der Zentrale von SPACEGUARD entstand eine kurze Aufregung, und der interstellare Vagabund wurde schnell mit einem Namen statt einer Katalognummer geehrt. Die Astronomen hatten die Götter und Mythen der griechischen und römischen Antike längst vergeben; jetzt arbeiteten sie sich durch die indische Götterwelt. Und so wurde 31/439 auf den Namen Rama getauft.“
(Arthur C. Clarke, „Rendezvous with Rama,“ 1973, Kapitel II, “Eindringling”)
„Das Objekt wurde zum ersten Mal am 1. Juli durch ein Teleskop in Chile gesichtet, das Teil des „Asteroideneinschlags-Warnsystems“ (Asteroid Terrestrial-Impact Last Alert System/ATLAS) ist, ein von der NASA finanziertes Projekt mit Sitz an der Universität von Hawaii in Manoa. Dieses System macht Forscher automatisch auf interessante Himmelsobjekte aufmerksam. Im Durchschnitt meldet das Team pro Tag ein Objekt an das Minor Planet Center für weitere Beobachtungen durch andere Astronomen. Als ATLAS-Manager Larry Denneau, ein Astronom an der University of Hawaii, diese spezielle Beobachtung weiterleitete, sah sie „absolut gewöhnlich aus,“ wie er sagt.
Aber andere Astronomen stellten sehr rasch fest, daß das keineswegs der Fall war. Sie sichteten neue und archivierte Daten von einer Reihe von Instrumenten, um weitere Aufnahmen des Objekts zu finden – einschließlich solcher, die schon vor Tagen oder Wochen aufgenommen worden. Sie dienten dazu, die Bahn von 3I/ATLAS zu bestimmen, und es stellte sich heraus, daß es sich dabei um eine offene, weitgeschwungene Hyperbelbahn handelt, nicht eine elliptische Umlaufbahn um unsere Sonne, und daß es sich somit um ein interstellares Objekt handelt, daß nicht durch die Schwerkraft an einem bestimmten Stern gebunden ist.
„An diesem Punkt wird einem schlagartig klar, daß dein simpler Mausklick aus der vergangenen Nacht diese Aufregung ausgelöst hat, und daß hunderte von Astronomen und Millionen von Laien sich jetzt dafür interessieren,“ sagt Dennau. (Nature.com, 3. Juli 2025)
I.
Manchmal gibt es kleine kalendarische Zufälle, die geeignet sind, den Verdacht zu schüren, daß es sich bei der gemeinhin „Wirklichkeit“ genannten Veranstaltung in Wahrheit doch nur um eine raffinierte Simulation handelt, und daß die Programmierer dieser Matrix auf diesem Weg einen dezenten Hinweis darauf geben. Der 2. Juli 2025 markierte nämlich den Übergang vom ersten zum zweiten Viertel des 21. Jahrhunderts – wenn man der Konvention folgt, daß dieses „dritte Jahrtausend unserer Zeitrechnung“ mit dem Beginn des Jahre 2000 seinen Anfang genommen hat. Am Dienstag der vergangenen Woche waren seit dem 1.1.2000 exakt 9131 Tage vergangen, und 9131 Tage trennten uns vom Beginn des Jahres 2050. Und so ergab sich das Kuriosum, daß die Entdeckung des dritten Besuchers aus den interstellaren Tiefen der Milchstraße im unserem Sonnensystem, anhand zweier Aufnahmen des Himmelsareals am südlichen Rand des Sternbilds Schütze mit dem 50-Zentimeter-Schmidt-Spiegelteleskop des El-Sauce-Observatoriums im chilenischen Rio Hurtado, die um 5 Uhr 15 und 6 Uhr 24 Weltzeit aufgenommen wurden (mithin um 23:15 bzw. 00:24 Ortszeit), nicht kalendarisch, aber quantitativ, „zeitbudget-gemäß“ noch in das erste Viertel des laufenden 21. Jahrhunderts fiel, die Bestätigung und mediale Weiterverbreitung dieser Entdeckung aber erst im zweiten Viertel erfolgte.
Am 2. Juli erfolgte auch die offizielle Umbenennung des zunächst als „A11pl3Z“ registrierten Objekts in C/2025 N1 (ATLAS) (der Bezeichnung für einen Kometen, da auf den Aufnahmen der großen Teleskope ein schwaches Koma, ein Kometenkopf, auszumachen ist) und 3I/ATLAS, wobei das I für „interstellar“ steht und die Zahl angibt, daß es sich hier, nach 1I/‘Oumuamua vom Oktober 2017 und 2I/Borisov (als Komet auch als C/2019 Q4 (Borisov) benannt) vom August 2019 um den dritten Besucher aus den Tiefen der Galaxis handelt – zumindest um den dritten, dessen Kurs und Herkunft die Wissenschaft registriert hat. Das verdankt sich natürlich der systematischen Durchmusterung des Nachthimmels mit automatisierten Instrumenten- in diesem Fall des ATLAS-Programms. Und hier ergibt sich eine weitere, fast gespenstische Parallele (prophetische Vorwegnahme?) zu Arthur C. Clarkes eingangs zitiertem SF-Roman: bei Clarke verdankt sich die Entdeckung Ramas dem „Projekt Spaceguard,“ einem Vorwarnsystem vor anfliegenden Asteroiden:
Um 9 Uhr 46 Weltzeit, am Morgen des 11. September (sic! U.E.) im ungewöhnlich schönen Sommer des Jahres 2077 sahen die meisten Bewohner Europas, wie am Osthimmel ein blendendheller Feuerball erschien. Wenige Sekunden später war er heller als die Sonne, und während er über den Himmel zog – anfangs in völliger Stille – ließ er eine wirbelnde Spur von Rauch und Staub hinter sich. Über Österreich begann er zu zerbrechen, und erzeugte dabei Donnerschläge, die bei mehr einer Million Menschen dauerhafte Hörschäden zur Folge hatten. Sie waren diejenigen, die Glück hatten. Mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Kilometern pro Sekunde schlugen tausend Tonnen Gestein und Metall auf der Ebene Norditaliens ein und vernichteten in Sekunden das Werk von Jahrhunderten. Die Städte Padua und Verona wurden vom Angesicht der Erde getilgt, und die letzten Herrlichkeiten Venedigs versanken auf immer im Meer, als die Fluten der Adria nach dem Hammerschlag aus dem All wieder die Ufer überschwemmten. Sechshunderttausend Menschen starben, und die Gesamtschäden beliefen sich auf mehr als eine Billion Dollar. (…) Es war klar, daß eine weitere Katastrophe dieser Art erst in einem Jahrtausend folgen konnte – oder aber schon morgen. Und beim nächsten Mal könnten die Folgen noch verheerender sein. Nun gut: ES WÜRDE KEIN WEITERES MAL GEBEN. (Kap. I, „Spaceguard“)
Und zum Projekt ATLAS läßt sich in der Wikipedia dies nachlesen:
Nachdem im Jahr 2008 der Asteroid 2008 TC3 die Erde getroffen hatte und 2009 ein ca. 10 m großer Asteroid mit einer Sprengkraft von 50 kT über Indonesien in der Atmosphäre explodiert war, kam es zu einem Umdenken bei der NASA. Sie beobachtete bis dahin nur Objekte, die einen Durchmesser von mehr als 140 Meter hatten und weiter entfernt von der Erde waren. 2010 wurde entschieden, dass diese Risiken minimiert werden müssen und ein System für die Entdeckung kleinerer Objekte geschaffen werden muss, um eine Vorwarnung zu möglichen Einschlägen zu erhalten.
2011 begann die Universität Hawaii mit dem Design, Betrieb und Konstruktion von ATLAS. Die Universität wandte sich wegen der Finanzierung an die NASA. 2012 erteilte die NASA eine Zusage für die Finanzierung über 5 Mio. Dollar über 5 Jahre. Im Mai 2015 wurde das erste Teleskop auf dem Haleakala in Betrieb genommen. Im März 2017 wurde das zweite Teleskop auf Maunaloa in Betrieb genommen. Die Budget-Schätzung für alle Near-Earth Object Observations (NEOO) im Jahr 2024 lag bei 41 Mio. US-Dollar. Die Vorwarnzeit bei kleinen Objekten ist mit einem Tag angegeben, bei großen drei Wochen.
(Womit auch die Frage „Was heißt Science Fiction und zu welchem Ende studiert man dieses Genre?“ – um Friedrich Schillers Frage leicht zu variieren – beantwortet wäre.)
Eine der Hauptaufgaben des vor zwei Wochen in Betrieb genommenen Vera C. Rubin-Teleskops, ebenfalls in Chile (der Cerro Pachón liegt nur gute 100 Kilometer westlich des Cerro Tololo) mit seinem 8,4 Meter durchmessenden Hauptspiegel wird es in den kommenden Jahrzehnten sein, die Entdeckungsrate von Apollo-Asteroiden (wie die Astronomen solche Erdbahnkreuzer nennen), noch einmal drastisch zu erhöhen. Während der Anlaufphase konnten über einen Gesamtbeobachtungszeitraum von zehn Stunden 2104 neue Asteroiden neu verbucht werden. Auch für „interstellare Objekte“ wie 1I/‘Oumuamua und 3I/ATLAS wird damit gerechnet. Eine Studie aus dem Jahr 2023 kommt zu dem Schluß, daß die laufenden großfeldrige Durchmusterung des gesamten Nachthimmels im Abstand von nur wenigen Tagen bis zu 70 Nachweise pro Jahr liefern könnte. (Dušan Marčeta, Darryl Z. Seligman, „Synthetic Detections of Interstellar Objects with The Rubin Observatory Legacy Survey of Space and Time“ - mit der “Gedächtnis-Durchmusterung von Raum und Zeit,“ abgekürzt – Schillers Begriffsprägung der „Universalgeschichte“ in seiner Jenaer Antrittsvorlesung vom Mai 1789 sendet einen fernen Gruß durch Raum und Zeit – sind diese regelmäßigen Erhebungen gemeint, die mit Hilfe der größten jemals konstruierten Kamera pro Nacht eine Datenflut von 30 Terabyte liefern sollen; für den zunächst ins Auge gefaßten Beobachtungszeitraum wird hier mit einer Gesamtdatenmenge von 60 Petabyte gerechnet – als ausgeschriebene Zahl: 1.600.000.000.000.000.000.000 Bytes.)
(Die beiden Entdeckungsphotos, aufgenommen am 1. Juli 2025 mit einer Stunde Zeitunterschied)
(Das Entdeckungsphoto mit einer größeren Aufnahme des entsprechenden Himmelsareals im nördlichen Bereich des Sternbilds Schütze)
Woran erinnert eine solche Aussicht den Laien? Genau: an eine "Wildnis aus Sternen"
(William F. Nolan, hg. A Wilderness of Stars, Sherbourne Press, 1969. Titelbild: Jim McQuade)
oder einen Sternendschungel
(Jack L. Chalker, A Jungle of Stars, Ballantine Books, 1976. Titelbild: H. R. Van Dongen)
Oder, um im heimischen Sprachgebiet zu verbleiben:
(Perry Rhodan, Band 170 vom November 1964; das Titelbild stammt wie bei allen Bänden bis zur Nr. 1000 - mindestens - von Johnny Bruck)
II.
(Flugbahn von 3I/ATLAS durch das Sonnensystem, von Juli bis Dezember 2025)
Mittlerweile ist 3J/ATLAS auf Photos aufgefunden worden, die bis zum 22. Mai zurückreichen. Daß er erst fünf Wochen später als kosmischer Wanderer registriert wurde, dürfte daran liegen, daß er sich vor dieser Zeit (von uns aus gesehen) durch die dichten Sternwolken bewegt hat, die das Zentrum der Milchstraße kennzeichnen. Und anhand dieser Daten läßt sich noch das Exakteste ableiten, daß sich über den kurzfristigen Besuch in unserer kosmischen Heimat sagen läßt: nämlich die Bahn, die er bei seiner Visite zurücklegen wird. Aber auch das gilt nur mit einem kleinen Vorbehalt: diese Berechnungen gehen davon aus, daß es nicht zu nennenswerten Ausgasungen kommen wird, daß es nicht zur Ausbildung eines „richtigen“ Kometenschweifs (besser gesagt: deren zwei, aus Gas und aus davon mitgerissenem Staub) kommt. Bei „heimischen“ Kometen, die aus der Oortschen Wolke stammen, die bis in eine Entfernung von einem halben bis anderthalb Lichtjahren Sonnenentfernung reicht, können diese Vorgänge zu leichten Bahnänderungen führen. Die Auswirkung dürfte in diesem Fall gering sein, da 3J/ATLAS an seinem Perihel, dem sonnennächsten Punkt seiner Bahn, an oder um den 30. Oktober, unserem Zentralgestirn, wenn er ihm bis auf 203 Millionen Kilometer nahekommt, sich nur knapp innerhalb der Marsbahn bewegen wird. Dem roten Planeten selbst wird er kurz vorher, am 3. Oktober, bis auf 29 Millionen Kilometer nahekommen. Da sich die Erde während dieser Zeit aber „auf der anderen Seite der Sonne“ befindet, verschwindet „das Objekt“ Ende September aus dem irdischen Blickwinkel und wird erst wieder Anfang Dezember sichtbar. Die Astronomen hoffen, daß einer oder mehrerer der sieben Raumsonden, die aktuell im Orbit um den Mars aktiv sind, Photos davon aufnehmen können. Nach den ersten Kalkulationen könnte 3I/ATLAS aus dieser Sicht eine Helligkeit elfter Größenklasse erreichen, was etwa für den Mars Reconnaissance Orbiter der NASA oder den Mars Express der ESA ausreichen sollte. Uns Erdlingen wird der Komet am 19. Dezember mit 269 Millionen Kilometern am nächsten kommen und dem größten Planeten des Sonnensystems, Jupiter, am 16. März 2026, bis auf 54 Millionen Kilometer.
Ein Besuch unsererseits – ob nun durch eine unbemannte Sonde oder ein besetztes Raumschiff wie in Clarkes Roman, liegt nicht im Bereich des Realisierbaren. Das liegt natürlich zum einen daran, daß kein solches Raumfahrzeug „auf Vorrat liegt“ – die Planung, Finanzierung, der Bau und nicht zuletzt der Flug selbst benötigen bei solchen Missionen fünf bis zehn Jahre. Clarke schummelt hier ein wenig, weil in seinem Buch die „Endeavour“ „ganz zufällig“ nicht nur verfügbar, sondern auch noch technisch entsprechend ausgestattet ist und sich an einer geeigneten Position befindet. Nur hätte es ohne diesen kleinen auktorialen Taschenspielertrick keinen Roman gegeben. Es liegt aber auch an den Gegebenheiten. Im Raum zwischen den Sternen bewegt sich 3I/ATLAS mit einer Geschwindigkeit von 58 Kilometern in der Sekunde; die Beschleunigung durch das Schwerefeld der Sonne erhöht diese Bahngeschwindigkeit im Perihel auf 68 Kilometer pro Sekunde. Zum Vergleich: die beiden Voyager-Sonden, die seit 1977 unterwegs sind, bewegen sich mit 17 bzw. 15 km/s; die Sonde New Horizons, die vor zehn Jahren die ersten detaillierten Aufnahmen des Pluto geliefert hat, mit 14 km/s. Die beiden Sonnenforschungssatelliten Helios 1 und 2 erreichten während ihrer größten Annäherung an unser Zentralgestirn 70 km/s, und die größte Geschwindigkeit, die ein von Erdlingen gebautes Raumfahrzeug je erzielt hat, erreichte die Parker Solar Probe für wenige Stunden mit 192 km/s am 24. Dezember 2024 (der kleine Symboliker vermerkt, daß 24/12/24 eine hübsche Schnapszahl darstellt), als sie sich der Sonnenoberfläche bis auf 6 Millionen km näherte. Aber in diesem Fall verdanken sich diese Geschwindigkeiten allein der Beschleunigung durch die immense Masse der Sonne, deren Schwerkraft (wenn man sie betreten könnte) dem 27-fachen der irdischen entspricht.
(Aufnahme des Nordic Optical Telescope vom 2. Juli)
Apropos „Pluto“ – Bislang entspricht unser „gesichertes Wissen“ über 3I/ATLAS recht genau dem, was die Astronomen in den ersten 40 Jahren nach seiner Entdeckung 1930 über den neunten Planeten des Sonnensystems verzeichnen konnten (bis zu seiner Herabstufung zur neu geschaffenen Klasse der „Zwergplaneten“ 2006): dafür reichte ein Drittel eines Bierdeckels völlig aus. Bis zur Entdeckung seines Mondes Charon 1977 standen allein die Bahndaten und seine Helligkeit fest; selbst die Temperatur war nur anhand von Überschlagsrechnungen gemutmaßt. Die Größe, die Rotationsdauer, die Masse, die Albedo: all das beruhte auf Extrapolationen anhand von Maximalwerten. 1930 wurde sein Durchmesser auf 6600 km geschätzt; 15 Jahre später auf 4400 km und wieder 15 Jahre darauf auf gute 3000 Kilometer. Erst durch die Bedeckung Charons durch Pluto (Astronomen sprechen von „Okkultation“) am 6. April 1986 konnten Manfred Pakull und Klaus Reinsch von der TU Berlin anhand der Veränderung der Lichtkurve den wirklichen Durchmesser von 2200 km bestimmen.
Ähnlich sieht es mit der Faktenlage im Fall 3I/ATLAS aus. Für seinen Durchmesser finden sich Schätzwerte zwischen 9 und 30 Kilometern; die gemittelte Angabe von 20 km beruht auf der Annahme, daß seine Albedo (also die Rückstrahlfähigkeit seiner Oberfläche) dem eines typischen Asteroiden heimischer Provenienz gleichkommt – und daß er kein Koma ausbildet. Da allerdings das Letzte mittlerweile der Fall ist und nicht klar ist, wie groß der darin verborgene Kern ist, könnte der wirkliche Wert auch erheblich darunter liegen. Auch die Herkunft wird sich, das läßt sich jetzt schon sagen, niemals klären lassen. Eindeutig ist, daß er sich aus dem Bereich des Himmels nähert, in dem das Zentrum der Milchstraße liegt. Seine Bahn ist um 175 Grad gegen die Ekliptik gekippt. Daraus und aus der Tatsache, daß sein Spektrum einen stärkeren Rotanteil aufweist als es bei „irdischen“ Kometen der Fall ist, haben einige Astronomen die Vermutung geäußert, sein Muttergestirn könnte Teil der „dicken Scheibe“ der Milchstraße gewesen sein. Dazu muß man wissen, daß sich die gut 400 Milliarden Sterne unserer Heimatgalaxis auf vier Populationen aufteilen: auf den kugelförmigen zentralen Bereich (auch „central bulge“ genannt, mit einem Durchmesser von 10.000 bis 12.000 Lichtjahren, dem Halo, in dem sich mehrere hundert Kugelsternhaufen bewegen, in denen viele tausend Sterne durch die eigene Schwerkraft aneinander gebunden sind, die „dünne Scheibe,“ mit einer Dicke von 1000 bis 1300 Lichtjahren, die 85 Prozent aller Sterne enthält – und vor allen große Mengen an Gas, aus dem sich neue Sterne bilden können – und damit den überwiegenden Anteil der Nebel, als die wir die Sternentstehungsgebiete wahrnehmen und der jungen Sterne. In der dicken Scheibe mit ihrer Stärke von 3000 Lichtjahren hingegen ist diese interstellare Materie mittlerweile so ausgedünnt und in Sternen gebunden, daß es dort schon seit Milliarden von Jahren nicht mehr zur Bildung neuer natürlicher Fusionsreaktoren kommt. Sollte diese Kette von Deduktionen zutreffen („Brillant, Holmes!“ – „Elementar, mein lieber Watson“), dann könnte 3J/ATLAS ein Alter von 7 bis 8 Milliarden Jahren aufweisen und damit erheblich älter als das Sonnensystem sein. Die Passage durchs Sonnensystem hat ihn ein neues Ziel gegeben: der Bewegungsvektor wird nach dem Verlassen des Solsystems um 18 Grad verändert worden sein.
Um einmal einen Vergleich mit den beiden ersten registrierten interstellaren Objekten zu ziehen: 1I/‘Oumuamua war klein (aus der Veränderung der Lichtkurve ergab sich eine spitze Nadelform mit etwa 100 Metern Länge), bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von 26 km/s; und sein Alter wurde auf etwa 100 Millionen Jahre geschätzt; 2I/Borisov, zwei Jahre später, bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von 32 km/s relativ zur Sonne, wie in allen drei Fällen wies das Spektrum einen höheren Rotanteil auf als „lokale Produkte,“ entwickelte einen markantes Koma und einen Staubschweif, der aber ein wesentlich höheres Verhältnis von Kohlenmonoxid zu Wasser aufwies als bei allen bekannten Kometen; in diesem Fall lag die Altersschätzung bei einer Milliarde Jahre.
(Vergleich der drei Flugbahnen)
(2I/Borisov im November 2019, in einer Entfernung von 326 Millionen km, in einer Aufnahme des Hubble Space Telescope. Die Spiralgalaxie links trägt die hübsche Bezeichung 2MASX J10500165-0152029. Die Farbe des Kometenkomas ist künstlich gesetzt und zur besseren Erkennung der Details kontrastverstärkt)
Aufgrund des hohen Alters des Besuchers – immerhin dürfte er 3 Milliarden Jahre vor unserem Sonnensystem entstanden zu sein – erhoffen sich die Astronomen Rückschlüsse auf die damalige chemische Zusammensetzung des interstellaren Mediums unserer Heimatgalaxis. Im Lauf der Zeit kommt es bei diesem Gas (und Staub), der sich ursprünglich nur aus den beim Urknall entstandenen Elementen Wasserstoff und Helium zusammensetzte, durch Nukleosynthese, also die Entstehung aller weiteren Elemente infolge der Fusionsprozesse im Sterninneren (zur Irritierung von Chemikern bezeichnen Astronomen diesen gesamten Rest des Periodensystems als „Metalle“) zu einer Anreicherung damit. Da die Kometen in der Oortschen Wolke zeitgleich mit den inneren Regionen des Solsystems entstanden sind, lassen sich daraus keine Rückschlüsse auf die Frühzeit unserer Galaxis gewinnen.
(Ein kleines Beiseit: im Englischen gibt es seit geraumer Zeit den Ausdruck „deep time,“ der „Tiefenzeit,“ um solche unvorstellbar weit zurückreichenden Zeiträume zu bezeichnen; John McPhee hat ihn 1981 in seinem Buch „Basin and Range“ geprägt. Nun weiß man als Laie auf einer abstrakten Ebene um solche Zeitspannen: daß die Weltraumteleskope, das Hubble Space Telescope und das James Webb Space Telescope, Bilder von Galaxien liefern, die sich recht kurz – astronomisch gesprochen - nach dem Urknall gebildet haben und damit sogar noch älter als unsere Milchstraße sein dürften. Aber dieses Wissen bleibt unkonkret, rein reine Zahlenfolge. Im Geomuseum der Universität Münster, direkt am Domplatz gelegen, kann man nach der immer wieder verschobenen Neueröffnung nach 16 Jahren Umbau im August 2023 im Erdgeschoß eine Präsentation von Gesteinen sehen, unter Glas auf einem runden tischähnlichen Podest, die die verschiedenen Erdzeitalter repräsentieren – gleichermaßen eine Tafelrunde der Erdgeschichte. Und eröffnet wird diese Tafelrunde von zwei Meteoriten, die vor gut 20 Jahren in Nordafrika gefunden worden sind und deren Isotopenbestimmung ergeben hat, daß ihr Alter 4,3 und 4,4 Milliarden Jahre beträgt. Und die Vorstellung, hier direkt in Griffweite, unbestreitbar konkret, Steine vor sich zu haben, die nicht nur älter als jedes Gestein auf der Erde, sondern vielleicht älter als die Erde selbst, ja älter als das Sonnensystem sind, die ihre Bahn schon durch die Milchstraße zogen, bevor die Schockwelle einer Supernova die Gaswolke, aus der es vor 4,3 Milliarden entstanden ist, zum Kollabieren brachte: diese Vorstellung ist durchaus dazu angetan, einem ein Frösteln über den Rücken laufen zu lassen.)
Eins aber läßt sich schon jetzt sagen: es wird niemals möglich sein, festzustellen, aus welchem Sonnensystem 3I/ATLAS infolge der Bahnstörung durch einen Planeten oder die Nahbegegnung mit einem anderen Stern vor Millionen oder gar Milliarden von Jahren auf seine Irrfahrt geschickt worden ist. Modelldurchrechnungen anhand der Verhältnisse der Oortschen Wolke haben ergeben, daß für jeden Kometen, dessen Bahn durch Störeinflüsse in die Inneren Bereiche des Sonnensystems abgelenkt wird, 100 in die Weiten des interstellaren Raums gekegelt werden (J. Q. Zheng, M. J. Valtonen, „On the probability that a comet that has escaped from another solar system will collide with the Earth,“ Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, Bd. 304, Nr. 3, April 1999, S. 579-582). Niemand kann sagen, wie lange diese Reise schon andauert. Bei seiner „normalen Reisegeschwindigkeit“ von 58 km/s (die Beschleunigung, die bei der Annäherung an die Sonne erfolgt, wird beim Entweichen vollständig abgezogen), benötigt der Wanderer fast exakt 59.000 irdische Jahre, um ein Lichtjahr zurückzulegen. Die durchschnittliche Distanz zwischen den Sternen beträgt in unserem Winkel der Milchstraße, 27.000 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernt, runde 5 Lichtjahre, was einer Reisedauer von rund 300.000 Jahren entspräche; von diesem Zentrum bis zu uns liefe das auf anderthalb Milliarden Jahre hinaus (da die Gesetze der Physik den Einsatz eines Warpantriebs kategorisch untersagen, wird anhand solcher Zahlen verständlich, warum uns bislang keine Klingonen, Vulkanier oder Vogonen, egal wie weit technisch fortgeschritten sie auch sein mögen, einen Besuch abgestattet haben). Und die Sterne umkreisen das Zentrum der Milchstraße ihrerseits: im Fall unserer Sonne mit einer Geschwindigkeit von 220 km/s; ein Umlauf benötigt hier gute 250 Millionen Jahre. Selbst wenn es also gelänge den ursprünglichen Bewegungsvektor von 3I/ATLAS mit absoluter Präzision ohne jede Marge bis zur letzten Kommastelle zu bestimmen, wäre das nutzlos, weil seine ursprüngliche Heimstatt seitdem längst mehrere solche Umläufe vollzogen hätte. (Die Geschwindigkeit einer solchen Bewegung um das Galaktische Zentrum ist – außer für den zentralen Bereich – von den inneren Spiralarmen bis zum äußeren Rand in 50.000 Lichtjahren Entfernung, konstant. Die Entdeckung in den 1940er Jahren durch den Schweizer Astronomen Fritz Zwicky, daß diese Geschwindigkeit nicht, wie nach den Newtonschen Gesetzen zu erwarten, mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt, hat zur Entdeckung der „dunklen Materie“ geführt, von der bis heute unbekannt ist, welcher Natur sie ist; gewiß ist nur, daß sie mit der gewöhnlichen Materie, wie wir sie kennen, der „baryonischen Materie,“ allein durch die Schwerkraft in Wechselwirkung tritt. Die Pionierarbeit zur Berechnung der Verteilung dieser Materie in Halos, die die Galaxien umgeben, ist von der amerikanischen Astronomin Vera Rubin (1928 bis 2016) geleistet worden, nach der das oben erwähnte Vera Rubin-Teleskop benannt worden ist. So schließt sich der Kreis.)
III.
Für Amateurastronomen ist 3I/ATLAS als Beobachtungsobjekt zurzeit vollkommen uninteressant und wird das auch weiterhin bleiben. Mit einer momentanen Helligkeit von 17,3 Größenklassen ist er fast 17-mal so lichtschwach wie der oben erwähnte Pluto (Größenklasse 14,44) und rund dreihundertmal zu lichtschwach, um ihn mit unbewaffnetem Auge unter den besten Sichtverhältnissen ausmachen zu können. Das soll mich natürlich nicht hindern, an dieser Stelle eine Auffind- bzw. Positionskarte, sowohl zur aktuellen Position wie auch zur Bewegung in den kommenden Monaten, herzusetzen. Gegenwärtig findet er sich knapp nördlich des Sternbilds Sagittarius, des Schützen - heute, am 13. Juli, ist er in das Gebiet des Sternbilds des Schlangenträgers (Ophiuchus) gewandert - mit einer Rektaszension von 17 h, 40 min 46 s und einer Deklination von 18°27‘02“, in einer Entfernung von 472,8 Millionen km zur Erde.
(Position für So., d. 13. Juli 2025)
(Position von Juni 2025 bis Januar 2026)
Ein Aspekt, den ich nicht unerwähnt lassen will, schon weil er in jedem, buchstäblich jedem Medienbericht über die Entdeckung von 3I/ATLAS angesprochen wird, wird die Frage nach einer möglichen Kollision, einem Einschlag als göttliches Wurfgeschoß. Letztendlich verdankt sich seine Entdeckung, wie auch die fiktive Entdeckung von Rama, der Sorge um das tatsächlich gegebene, wenn auch astronomisch geringe Risiko eines solchen Hammerschlags. Arthur C. Clarkes vorletzter in alleiniger Regie entstandener Roman – vor „3001 – The Final Odyssey“ (1997) – „The Hammer of God“ von 1993 handelt von dem – nur teilweise erfolgreichen – Versuch, den Einschlag eines Kometen durch die Sprengung mithilfe eines antiken atomaren Sprengkopfs zu verhindern. Im Buch mißlingt das Himmelfahrtskommando, weil das Haltbarkeitsdatum der Bombe infolge des lange ausgebrochenen Weltfriedens (*) überschritten ist, aber die kinetische Wucht des Aufpralls lenkt Kali soweit ab, daß er nur die oberen Bereiche der Stratosphäre durchpflügt und sich die Anzahl der Todesopfer infolge der Druckwelle auf wenige Hunderttausend beschränkt.
(* Eine Voraussage, an die sich der Weltgeist in den letzten 30 Jahre augenscheinlich nicht gebunden fühlte – ebenso wenig wie die Prophetie, daß im Jahr 2109, in dem das Buch spielt, die dominierende Weltreligion der Chrislam sein würde – ein „toleranteres und freieres Amalgam als seine beiden Vorläufer, das Christentum und der Islam.“)
Diese Kometenfurcht ist älter, als man zunächst annehmen sollte. Das Mittelalter hatte das Auftauchen solcher Besensterne am Nachthimmel gefürchtet, weil man in dieser offensichtlichen Außerkraftsetzung der gewohnten Ordnung, nachdem der himmlische Bereich dem Kuddelmuddel der durch den Sündenfall gestörten Ordnung entrückt war, ein göttliches Warnzeichen sah, das demnach die Heimsuchung der sündigen Menschheit durch die seit alters bekannten Plagen wie Hunger, Naturkatastrophen, Kriege und Seuchen ankündigte. Nach dem allgemeinen Bekanntwerden der „neuen Astronomie“ von Kopernikus, Galilei und Kepler im Lauf des achtzehnten Jahrhunderts – nicht zuletzt durch den ersten „Beststeller“ der neuzeitlichen Literaturgeschichte, die „Gespräche über die Vielzahl der bewohnten Welten“ (Entretiens sur la pluralité des mondes habitables) von Charles Bouvier de Fontenelle aus dem Jahr 1688, als sich die Erkenntnis verbreitete, daß es sich bei den wandernden Punkten am Himmel um Welten wie die Erde handelte, entstand die Furcht, daß, in den Worten eines bekannten kleinen Galliers, „ihnen der Himmel auf den Kopf fallen könnte,“ und zwar in Gestalt eben eines Kometen.
Der erste Fall einer solchen Kometenpanik fällt in das Jahr 1773. Der französische Astronom Joseph Jérôme de Lalande (1732-1807 – ich stelle gerade fest, daß wir denselben Geburtstag gemein haben), Leiter der Pariser Sternwarte, hatte im Frühjahr einen Aufsatz mit dem Titel „Réfexions sur les cometes qui peuvent approcher de la Terre“ verfaßt, den er am Mittwoch, dem 21. April, in der Woche nach Ostern, auf einer Tagung der Königlichen Akademie der Wissenschaften vortragen wollte. Die Vorlesung war öffentlich angekündigt worden, aber Terminschwierigkeiten hielten Lalande davon ab, ihn zu halten. Daraufhin verbreitete sich in der französischen Hauptstadt das Gerücht, ihm sei der Vortrag von höherer Stelle verboten worden, aufzutreten, weil er darin den Einschlag eines Kometen für den 12. Mai vorausgesagt habe. Lalandes umgehendes öffentliches Dementi hatte naturgemäß den gegenteiligen Erfolg. (Voltaire hat die kleine affaire scandaleuse in seinem „Lettre sur la prétendu comète“ vom 17. Mai 1773 beschrieben.) Lalandes Aufsatz erschien im „Journal encyclopédique“ am 1. Juni 1773 ohne Nennung des Autors, aber da war es natürlich zu spät.
Als man im Frühjahr 1773 zu Paris hörte, es gedenke Lalande der Akademie "Réflexions sur les Comètes qui peuvent approcher de la terre" vorzutragen, entstand große Spannung. Da jedoch diese Vorlesung in der betreffenden Sitzung wegen Überfülle der Traktanden nicht mehr an die Reihe kam, so verbreitete sich, ob aus Dummheit oder Bosheit weiß man nicht, das Gerücht, Lalande habe auf den 12. Mai den Weltuntergang durch Zusammenstoss der Erde mit einem Kometen ankündigen wollen, sei aber von der Polizei daran verhindert worden, und dieses blosse Gerücht genügte, einen so panischen Schrecken zu verbreiten, dass nicht nur ganz Paris jenem Tage entgegenjammerte, sondern sogar infolge der Angst Frühgeburten, Todesfälle etc. eintraten, und unwürdige Geistliche, welche um schweres Geld Absolution anboten, die besten Geschäfte machten. Der schnelle Abdruck von Lalandes Abhandlung (Paris 1773 in 8.; deutsch: Zürich 1773) und verschiedene Versuche, durch Scherz und Ernst die Aufregung abzuschwächen, halfen wenig, - erst nachdem der Schreckenstag ohne Störung irgend welcher Art verlaufen war, beruhigten sich nach und nach die Gemüter. (Rudolf Wolf, Handbuch der Astronomie, ihrer Geschichte und Litteratur, Zürich: F. Schultheiss, 1891, S. 514)
(Der kleine Bibliothekar, der eine gewisse Erfahrung mit solcher „stiller Post“ auch in akademischen Kreisen vorweisen kann, vermutet allerdings, daß sich beim Durchgehen der damaligen Journale und Archive diese vorgebliche Weltuntergangspanik als weitestgehend imaginär entpuppen würde – vergleichbar mit der Furcht vor dem Durchgang der Erde durch den Schweif des Halleyschen Kometen im Mai 1910 oder Orson Welles Hörspielfassung des „Kriegs der Welten“ am 30. Oktober 1938, die keineswegs „The Night That Panicked America“ ausgelöst hat.)
Wie oben erwähnt, ist im Fall 3J/ATLAS mit 269 Millionen Kilometern Abstand ein ausreichender Sicherheitsabstand gewährleistet. Dennoch bietet es sich als kleine Rechenübung an, einmal zu überschlagen, welchen Schaden ein solcher Einschlag denn hinterlassen würde. Um auch hier einen Vergleich zu bringen: der Bolide, der vor 64 Millionen Jahren den heute völlig verschütteten Chixculub-Krater im heutigen Yucatan mit einem Durchmesser von 200 km und einer Tiefe von 30 km hinterließ und zum Aussterben der Dinosaurier (und der Trilobiten) führte, wird auf eine Größe von 10 km geschätzt; bei einer Einschlaggeschwindigkeit von 20 km/s.
Im Fall von 3I/Atlas kommt hinzu, daß er sich „entgegen“ der Bewegungsrichtung von Erde, Mars, Jupiter pp. durch das Sonnensystem bewegt; im Fall eines Zusammenprall müßten also beide Werte addiert werden und man käme auf eine Geschwindigkeit von 100 km/s. Bei einem Schätzwert einer durchschnittlichen Dichte von Asteroiden ergäbe sich bei einem Durchmesser von 20 Kilometern eine Masse von 10,5 Billionen Tonnen, bei einem frontalen Treffer würde selbst bei einem halb so großen Impaktor die zwanzigfache kinetische Energie wie im Fall der Nemesis der Dinosaurier freigesetzt werden. Der genaue Wert würde vom Winkel des Einschlags abhängen, ab bei einem frontalen Treffer läßt sich (als erster Überschlagswert) ein Betrag von 5,35 x 10^25 Joule errechnen. Als Vergleichswert wird im Journalismus seit jetzt 75 Jahren als Vergleichswert beziehungsweise Maßstab die beim Atombombenabwurf auf Hiroshima am 6. August 1945 entwickelte Sprengkraft angeführt. In jenem Fall waren es 8,8 x 10^13 J. 3I/ATLAS würde also im Fall eines irdischen Volltreffers die Energie von guten 600 Millionen solcher Bomben entwickeln. (Das Taschenrechnerprogramm gibt mir in diesem Fall einen genauen Wert von 608 Millionen an, aber ich denke, wir können in diesem Fall ein paar mehr oder weniger gerade sein lassen.)
„Little Boy,“ die Bombe, die Hiroshima zum Einsatz kam, entwickelte eine Sprengkraft von 0,015 Megatonnen; die Plutoniumbombe „Fat Man“ in Nagasaki drei Tage später 0,021 Mt. Der stärkste nukleare Sprengkopf, der in der US-amerikanischen Armee seit 1983 eingesetzt werden könnte, ist die B83 mit einer Sprengkraft von 1,2 Megatonnen. Und im Jahr 2007 hat die NASA – womöglich angeregt durch Romane wie „The Hammer of God“ oder bei beiden Filme „Armageddon“ und „Deep Impact“ vom Sommer 1998 – einmal durchgerechnet, was der Einsatz von sechs solcher Sprengköpfe gegen einen anfliegenden Donnerkeil bewirken könnte oder würde. Das im Planspiel „Cradle“ genannte Raumfahrzeug mit 9 Metern Länge sollte ein halbes Dutzend dieser Bomben mit einer Masse von je 1,5 Tonnen ins Ziel bringen; das Ergebnis war, daß die Wucht einer konzertierten Zündung ausreichen sollte, um einen Asteroiden mit einem Durchmesser von 100 bis 500 m tatsächlich an der Erde vorbeizulenken, wenn der Einsatz zwei Jahre vor dem drohenden Einschlag erfolgt – und bei größeren Körpern bei einer Vorwarnzeit von 5 oder mehr Jahren. „Trick 17“ bei diesem Planspiel war, daß nicht, wie bei Clarke oder im Fall von Hollywood der Asteroid selbst in Stücke gesprengt und pulverisiert werden sollte, sondern die Zündung der Bomben nacheinander erfolgen soll, etwa ein Drittel des Durchmessers von der Oberfläche entfernt. Durch die Hitze und die dabei erzeugten energiereichen Neutronen und die Gammastrahlung soll ein Teil der davor liegenden Oberfläche zu einem Plasma aufgeheizt werden, das sich seinerseits explosionsartig ausbreitet und dadurch die Umlaufbahn des Asteroiden um einen winzigen, aber entscheidenden Faktor ändert. Wer sich für die Details interessiert, kann das an dieser Stelle nachlesen: die Planstudie hat 20 Autoren, beginnend mit Robert B. Adams und Jonathan W. Campbell vom Marshall Space Flight Center; sie trägt den Titel „Near Earth Orbit (NEO) Mitigation Options Using Exploration Techniques,“ umfaßt 35 Seiten und ist per eingebettetem Link nachzulesen.
IV.
Einen letzten Aspekt, der, soweit ich die bisherigen (zugegeben kursorischen) Medienberichte überflogen habe, bislang gar nicht erwähnt worden ist, möchte ich zum Abschluß nennen. Er verdankt sich einem Denkansatz, der in der Himmelskunde als „kopernikanisches Prinzip“ geläufig ist. Dabei wird davon ausgegangen, daß unsere Erde, unser Sonnensystem und auch unsere weitere kosmische Umgebung für den Rest des Kosmos dem Durchschnitt entsprechen und als repräsentativ gelten. Da wir die genauen Verhältnisse nur für unser kosmisches Krähwinkel kennen, hat es sich nicht in allen Fällen als brauchbare Richtschnur herausgestellt: im Vergleich zu anderen Sternen gleicher Masse und gleichen Alters etwa ergibt sich, daß unsere Sonne – und das Sonnensystem, das sie umkreist – etwa den vierfachen Anteil an „Metallen“ aufweist,“ als es statistisch zu erwarten wäre (zum Glück für die auf Kohlenstoff basierenden Lebensformen, die den dritten Planeten unsicher machen und die, soweit wir wissen, die einzigen Bestandteile dieses Kosmos sind, mit denen dieses Universum über sich selbst nachdenkt). Auch von den fast 6000 Planeten außerhalb dieses Systems, die bislang entdeckt worden sind (mit dem heutigen Tag sind es genau 5943 in 4461 verschiedenen Sonnensystemen) sind die meisten „heiße Jupiter,“ die ihre Sonnen nur wenige Millionen Kilometer entfernt innerhalb weniger Tage umlaufen – wobei dieses Ungleichgewicht vor allem den Methoden geschuldet ist, mit denen diese Entdeckungen erfolgen. Dennoch bleibt uns für solche Einzelfälle wie im Fall der „interstellaren Objekte“ bislang keine andere Annahme.
Es ergibt sich, daß wir jetzt drei solcher Visiten in einem Zeitraum von acht Jahren gesehen haben. Der - ich nenne es einmal „Kopernikus-Faktor“ - besteht nun in der Annahme, daß es sich hier um einen statistischen Mittelwert handelt, mit Abständen von zwei bzw. fünfeinhalb Jahren – und daß wir nicht Jahrzehnte oder Jahrhunderte auf den nächsten Auftritt warten müssen. Recht sicher darf man davon ausgehen, daß diese Asteroiden nicht gezielt auf die Reise zu uns geschickt werden, sondern es sich auch hier um eine stochastische Verteilung handelt. Und unter diesen Annahmen ergibt sich, daß die Anzahl solche Irrläufer (vor wenigen Tagen habe ich in diesem Zusammenhang das Wort „interloper,“ also „Eindringling“ – im Sonnensystem natürlich – gelesen, daß mir etwas spezifischer als „interstellares Objekt“ zu sein scheint) ganz im Wortsinn astronomisch sein muß.
Der durchschnittliche Abstand zwischen den Sternen beträgt bei uns, gute 27.000 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernt, wie schon erwähnt, im Durchschnitt 5 LichtJAHRE. 3I/ATLAS wird sich im Perihel der Sonne bis auf 6 LichtMINUTEN nahekommen. Das Wert beträgt den 440.000.ten Teil davon. Oder platt ausgedrückt: um diese Wahrscheinlichkeit zu gewährleisten, müssen zwischen uns den dem nächsten Stern, Alpha Centauri, in 4,3 Lichtjahren Entfernung, aktuell eine halbe Million solcher Objekte unterwegs sein und zwischen uns und dem Sirius eine ganze Million. Und das stellt nur den Minimalwert dar. Ob sich diese Vermutung als zutreffend erweist, wird das Vera C. Rubin-Teleskop in den nächsten Jahren zeigen.
* * *
PS. Daß ich für diesen Beitrag die erste, leicht sperrige Bezeichnung als „A11pl3Z“ statt des doch etwas griffigeren „3I/ATLAS“ gewählt habe, bitte ich als eine letzte Verbeugung vor Clarkes Roman zu werten. Im englischen Original fand seit der Erstausgabe, im Juni 1973 bei Victor Gollancz erschienen und auch beim Vorabdruck im amerikanischen SF-Magazin „Galaxy“ im September und Oktober desselben Jahres das Stelldichein immer bei (mit?) „Rama“ statt – so wie das Objekt auf Seite 4 des Textes auch getauft wurde (der kleine Sprachferge zuckt im Zusammenhang mit der Benennung nach einer Gottheit des Hinduismus und der Vokabel „christened“ nicht zusammen, da ihm geläufig ist, daß es sich in diesem Fall um einen religionsunabhängigen Ausdruck handelt). Nur im Titel der deutschen Erstübersetzung durch Roland Fleissner, 1975 im Marion von Schröder Verlag erschienen, blieb es bei dem verheißungsvollen „Rendezvous mit 31/439“ – wie auch im Fall des Taschenbuchnachdrucks im Heyne Verlag zwei Jahre später (bezeichnenderweise in der „Allgemeinen Reihe,“ nicht in der von Wolfgang Jeschke betreuten Science-Fiction-Reihe). Erst beim Nachdruck derselben Übersetzung 2008 im Bastei Lübbe-Verlag hat sich der Verlag für das international übliche „Rama“ entschieden – der kleine Zyniker hegt den Verdacht, daß das Lektorat einer Verwechslung mit einer bekannten Margarinemarke vorbeugen wollte.
(Die englische Erstausgabe; Titelbild: Bruce Pennington)
(Innenillustration, "Galaxy," September 1973. Der Name des Illustrators ist im Magazin nicht angegeben. Dem flächigen Stil nach könnte es sich um Jack Gaughan handeln.)
U.E.
© U.E. Für Kommentare bitte hier klicken.