10. Mai 2022

„День Победы“





(Die Hauptkirche der russischen Streitkräfte)

Der “Tag des Sieges” – Den‘ pobedi – in der UdSSR am 8. Mai 1945 als Zeichen des Sieges über das Dritte Reich dekretiert und alljährlich begangen (obwohl er erst 1963 zum arbeitsfreien Feiertag erhoben wurde) hat in den zwei Jahrzehnten von Präsident Putins Alleinherrschaft neben der ostentativen Demonstration der eignen militärischen Stärke eine gespenstische Wandlung von der Mahnung des „Nie wieder!“ zum „Wir können das wiederholen!“ durchgemacht. Aus „больше никогда!“ wurde „Можем повторить!“ und aus dem Kampf gegen den Nationalsozialismus eine Kampfansage an alles, was die Staatsdoktrin seither umstandslos als ihr entgegengesetzt als „фашист“ bezeichnet. Dieser Trend begann um die Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts und gipfelte in der Errichtung der „Hauptkirche der russischen Streitkräfte“ (Главный храм Вооружённых сил России), die im Juni 2020 eingeweiht wurde.

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Der Bau, gut 65 Kilometer westlich von Moskau gelegen, der in einer Rekordbauzeit von 19 Monaten zwischen September 2018 und Mai 2020 hochgezogen wurde und seither den viertgrößten Kirchenbau auf dem Gebiet des „größten Flächenstaats der Erde“ darstellt, spitzt den geläufigen Symbolkitsch sowjetischer Emblematik auf eine benehmende Weise zu. Die Wände des Kirchenbaus sind in Tarnoliv gehalten; der Fußböden besteht aus Stahl, der aus dem Metall erbeuteter deutsche Panzer und Geschütze geschmolzen ist, die Mosaiken an den Innenwänden zeigen die sowjetischen Orden, mit denen die Soldaten der Roten Armee ausgezeichnet wurden – der Alexander-Newskij-Orden, der Bogdan-Chmelnitzkij-Orden, und so fort. In vielen Maßen finden sind „Umsetzungen“ von Zahlen, die für Daten des Kriegsverlaufs stehen sollen: der Durchmesser der Hauptkuppel beträgt exakt 19,45 Meter und soll an das Jahr des Kriegsendes erinnern; ihre Höhe von 22,43 Metern erinnert an den genauen Zeitraum, an dem die bedingungslose Kapitulation Berlin-Karlshorst durch Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg und Generaloberst Hans-Jürgen Stumpff unterzeichnet worden war. Stalin hatte auf einer „zweiten Kapitulation“ bestanden, weil die sowjetische Führung an der formellen Unterzeichnung in Reims durch Dönitz‘ Stellvertreter General Alfred Jodl nicht beteiligt gewesen war. Die tatsächliche Waffenruhe trat 80 Minuten nach der auf dem Dokument verzeichneten Uhrzeit ein. (Da zu dem nominellen Zeitpunkt in Russland Mitternacht schon vorüber war, erklärt sich die Diskrepanz im Datum, mit der im Westen und im Osten an den Tag des Kriegsendes gemahnt wird.

Der Durchmesser der vier Nebenkuppeln beträgt 14 Meter und 18 Zentimeter und soll damit die Dauer des „Großen Vaterländischen Krieges“ mit insgesamt 1418 symbolisieren. Manche Symbolik ist noch bizarrer ausgefallen: die Gesamtfläche der Mosaiken beträgt 2644 Quadratmeter, was der Anzahl der Träger des „Ruhmesorden“ (Орден Славы) entspricht, der den drei untersten Mannschaftsdienstgraden vorbehalten war und die Höhe der Ikonostase beläuft sich auf exakt 11.694 Millimeter, der Zahl der Soldaten, die mit dem Titel „Held der Sowjetunion“ ausgezeichnet wurden.

Ganz ohne Protest ist dieses Vorhaben dann doch nicht in Szene gesetzt worden. Als im April 2020 in Medien berichtet wurde, daß an der Ikonenwand auch Porträts von Stalin (als Oberbefehlshaber im Вели́кая Оте́чественная война́) und Wladimir Putin und Außenminister Sergej Schoigu mit ausdrücklichem Bezug auf die Annektion der Krim 2014 zu sehen sein sollten, führte der Protest zu, daß das Moskauer Patriarchat „aus eigenen Stücken und nach Rücksprache mit dem Präsidenten persönlich“ davon Abstand nahm.



Angesichts dieser Aufladung war an der gestrigen Parade auf dem Roten Platz und an der gut zehnminütigen Rede, die Wladimir Putin an die russischen Bürger richtete, vor allem bemerkenswert, was hier NICHT gesagt und angekündigt wurde. Westliche Beobachter sind mittlerweile beim Einschätzen der russischen Politik auf jenem Stand, der zu den Hochzeiten des Kalten Kriegs als „Kremlastrologie“ bezeichnet wurde. Das galt damals nicht nur für die Sicht von außen, sondern auch für die russische Binnensicht. Der russische Autor Boris Groys hat schon vor 30 Jahren darauf aufmerksam gemacht, daß es für die „Genossen Sowjetbürger“ schwer war, die kleinen Anzeichen richtig zu deuten: der Abstand, den die obersten Funktionäre bei den jährlichen Paraden von Jahrestag der Oktoberrevolution auf der Tribüne zu ihrem Generalsekretär einnahmen oder durch Abwesenheit auffielen, die namentliche Erwähnung in dessen Ansprachen. 1953 erhielten die Subskribenten der zweiten Ausgabe der 50-bändigen „Großen Sowjetenzyklopädie“ (Больша́я сове́тская энциклопе́дия) von 1950 per Post „auf vielfachen Wunsch der Leserschaft“ drei erweiterte Neufassungen der Artikel über Friedrich Wilhelm von Bergholz, Bischof Berkeley und die Beringstraße samt der Anweisung, an welcher Stelle sie im 3. Band einzukleben seien. Daß dabei der Artikel über Lawrentii Berija, Stalins Geheimdienstchef, der beim Bemühen, die Nachfolge seines Chefs anzutreten, in den eigenen Folterkellern sein Ende gefunden hatte, der „Damnatio memoriae“ anheimfiel, war natürlich reiner Zufall.

Am augenfälligsten war vielleicht die Absage der jährlich zu diesem Anlaß stattfindenden Flugschau – offiziell „aufgrund des schlechten Wetters.“ Dabei zeigte der Blick sowohl vom Boden wie aus der Perspektive der Wettersatelliten nur einen halb bewölkten Himmel, mit mäßigem Wind von Windstärke 4. Dabei war die angekündigte Luftflotte schon gegenüber der vom Vorjahr vor gut 10 Tagen um ein gutes Drittel reduziert worden. So bekamen die Zuschauer gestern den Überflug des „fliegenden Kommandostands“ der Iljuschin Il-80 zu sehen (Nr. 12 auf der Menüfolge), noch die 8 MiG-29-Jets, deren Formation das berüchtigte „Z“ bilden sollte (Nr. 17). Auch nicht die angekündigten Hubschrauber vom Typ Ka-52, von denen die russischen Streitkräfte in der Ukraine mittlerweile 10% ihres Bestandes verloren haben. Anders als in den Vorjahren waren keine Bomber des Typs Su-34 vorgesehen – von denen Russland mittlerweile auch ein Zehntel verloren hat.



Auch die Parade an Fahrzeugen ist gegenüber den vorigen Jahren drastisch reduziert worden. Vor 2 Jahren rollten 234 Fahrzeuge aller Typen über den Roten Platz, im vorigen Jahr waren 197, diesmal 137. Und anstatt der in der Ukraine im Einsatz befindlichen Typen TOS-1, Pantsir-S1, T80BVM und BM-30 Smerch waren Prototypen von Systemen wie dem Panzer T-14 Armata, dem Mannschaftstransportpanzer Kurganets-25, und dem Radschützenpanzer VPK-7829 Bumerang zu sehen, deren Indienststellung noch in der Zukunft liegt (der Kurganets-25 etwa ist seit 2013 angekündigt und war seit 2015 zu sehen; 2018 hat das Verteidigungsministerium angekündigt, er werde vorerst nicht in Serie gehen). Das rollende Material, das gestern paradierte und die oft Jahrzehnte veralteten Waffensysteme auf den Schlachtfeldern weiter im Westen – es wirkt, als würde es sich um zwei völlig verschiedene Armeen handeln.



(Der "fliegende Kommandostand" Iljuschin Il-80, einer der drei noch in Dienst stehenden, 1985 gebauten Maschinen)

Vor allem ist aber wichtig, daß Präsident Putin gestern nichts von dem tat, was von vielen Beobachtern im Vorfeld befürchtet worden war. Weder erklärte er eine allgemeine Mobilmachung, um die immensen Verluste seiner Soldateska in der Ukraine auszugleichen, noch erklärte er der NATO oder einzelnen Staaten aufgrund ihrer Waffenlieferungen den Krieg. Und der Tag endete auch nicht mit der Zündung einer Atombombe „über Kiew, Odessa oder der Ostsee,“ wie der russische Autor Wiktor Jerofejew am 21. April in einem Beitrag für die Wochenzeitschrift „Die ZEIT“ befürchtet hatte. Natürlich ist nicht auszuschließen, daß solche Schritte dennoch in den nächsten Wochen oder Monaten erfolgen könnten – vor allem, wenn sich die Lage für die russischen Truppen deutlich zum Schlechteren wendet. Nach Putins desaströser Entscheidung, einen konventionellen Landkrieg gegen die Ukraine zu führen, den jeder Beobachter angesichts der langfristigen Folgen für Russland für unwahrscheinlich gehalten haben dürfte, würde sicher niemand dergleichen mehr mit 100-prozentiger Sicherheit ausschließen mögen. Aber vorerst wird der Krieg wie bislang an der Front im Donbass geführt, als „klassische Panzerschlacht,“ als eine Wiederholung der Schlacht im Donezbogen im Mai und Juni 1943, als es der Wehrmacht zum ersten Mal nicht gelang, die russischen Fronten zu durchbrechen und sie „von hinten“ in einen Zangengriff zu nehmen und die Abnutzungsschlacht der in Stellung gebrachten Kräfte den Ausschlag gab.





Bemerkenswert war an Putins Rede, die der sonst so gewandte Redner (der etwa seine fast einstündige „Begründung“ für die Anerkennung der „Unabhängigkeit der Volksrepubliken Luhansk und Donezk“ am 21. Februar frei sprechend vortrug) fast gänzlich vom Blatt ablas, was dort nicht genannt wurde: kein einziges Mal fiel das Wort „Ukraine.“ Kein einziges konkretes Ziel der „Spezialoperation“ wurde erwähnt (auch dieses Wort fiel nicht). Nur die „großen Opfer“ des „großen Vaterländischen Krieges“ wurden mit Pathos beschworen: „Wir sind stolz auf die unbezwungene, siegreiche Generation, deren Erben wir sind, und es ist unsere Pflicht, die Erinnerung an die zu wahren, die den Faschismus besiegt haben und uns die Pflicht auferlegt haben, dafür zu sorgen, daß es nie wieder zu einem Weltkrieg kommt.“ („Мы гордимся непокорённым, доблестным поколением победителей, тем, что мы их наследники, и наш долг – хранить память о тех, кто сокрушил нацизм, кто завещал нам быть бдительными и сделать всё, чтобы ужас глобальной войны не повторился.“) – und daß die „Aggression der NATO, ihre Militärmacht in unseren Nachbarstaaten auszubauen, unser Handeln unausweichlich gemacht hat.“ („Блок НАТО начал активное военное освоение прилегающих к нам территорий. Таким образом, планомерно создавалась абсолютно неприемлемая для нас угроза, причём непосредственно у наших границ.“) Putin sprach nur von „den Milizen im Donbass“ („Обращаюсь сейчас к нашим Вооружённым Силам и к ополченцам Донбасса“). Selbst die „Entmilitarisierung und Entnazifierung“ der Ukraine, die im Februar erklärtes Ziel der „Spezialoperation“ war, scheint die Furie des Verschwindens ereilt zu haben.

Niemand erwartet von der russischen Seite bei einer solchen Gelegenheit etwas anderes als dröhnendes, hohles Pathos. Deswegen sei nur knapp daran erinnert, daß Russland kein einziges seiner Ziele in diesem Krieg erreicht hat. Nicht die Kapitulation Kyivs innerhalb von Wochenfrist und die Exilierung der Regierung; nicht die Einnahme des Stahlwerks von Asowstal in Mariupol, nicht die Sicherung der Lufthoheit nach 75 Tagen Krieg. Die Verluste auf der russischen Seite sind gewaltig, und das Flaggschiff der russischen Flotte ist von einem Land versenkt worden, das nicht einmal eine eigene Marine besitzt. Die NATO ist geeint wie seit Jahrzehnten zuvor nicht, die Sympathien der Weltöffentlichkeit sind ganz auf Seiten der Ukraine, die Hilfen der westlichen Welt haben eine Höhe erreicht, wie sie seit dem von Putin beschworenen Großen Krieg nicht gesehen wurden, und Putin selbst steht nicht als Erbe der Verteidiger Russlands da, sondern hat dieses wieder zu jenem „Reich des Bösen“ gemacht, von dem Ronald Reagan vor 40 Jahren sprach. Er ist zum buchstäblichen Wiedergänger jenes Faschismus geworden, den er in seiner Rede beschworen hat. Der Ausspruch Ignazio Silones, von dem Lucien Bondy 1988 berichtet hat, trifft, in entsprechender Abwandlung, auf ihn absolut zu. Bondy schreibt in seiner Porträtsammlung „Pfade der Neugier“ über eine Begegnung mit Silone in Jahr 1944 in der Schweiz, bei der ihm der italienische Schriftsteller sagte: „Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschismus.‘ Er wird sagen: ‚Ich bin der Antifaschismus.‘“ Heute sagt er: „Ich bin Wladimir Putin.“



U.E.

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