4. Juli 2019

Zeitmarke, leicht verspätet. 23. Mai 1819: Vor 200 Jahren erschien "Rip Van Winkle"


(Titelseite der ersten Lieferung des Sketch-Book. Abb.: Wikimedia)

Daß diese Zeitmarke mit einer leichten Verspätung von gut 10-11 Tagen erscheint (was übrigens genau dem Unterschied zwischen dem "alten" julianischen Kalender und dem "reformierten" gregorianischen entspricht, als dieser 1582 für die katholische Christenheit - 10 Tage und anderthalb Säkula später, 1752 für England und seine Kolonien verbindlich wurde - 11 Tage), hat den schlichten Grund, daß das Jubiläumsdatum dem Protokollanten, als er zu Anfang des Jahres eine kleine Liste an fällig werdenden runden Gedenkmarken notierte (aus dem anstehenden Abschnitt: am 26. dieses Monats wird der Urvater der "Gaia-Theorie," James Lovelock, seinen 100. Geburtstag begehen; am 1. August jährt sich zum zweihunderdsten Mal der Geburtags von Herman Melville) schlicht nicht "auf dem Schirm war" und er bis erst drei Tage nach dem Verstreichen des Termins gewahr wurde. Man kann also, passend zum Thema sagen, er habe es schlicht verschlafen. Immerhin nicht um zwei volle Jahrzehnte, die der durchaus zweifelhafte Protagonist dieser kleinen Erzählung.

Am 23. Mai 1819 also, einem Sonntag und bei Neumond, was für Auftakte und Anfänge, astrologisch gesehen, womöglich kein schlechtes Omen darstellt, erschien im Verlag des New Yorker Buchdruckers C. S. Van Winkel ein kleines Heftchen in Fadenheftung, von der Aufmachung den politischen Pamphleten des achtzehnten Jahrhunderts ähnlicher als den heutigen gelumbeckten Taschenbüchern, mit einem Umfang von 94 Seiten: die erste Lieferung des Sketch-Book of Geoffrey Crayon, Gent., dem bis zum 15 März des folgenden Jahren fünf weitere Lieferungen folgten,  mit einem Umfang von respektive 170, 92, 94, 108, 120 und 122 Seiten. Ingesamt umfaßte die Heftsammlung 34 kurze Texte: Reisenskizzen, launische Überlegungen, Humoresken - "Rural Funerals," "Westminster Abbey," "A Visit to London" - und vier idyllisch-sentimentalische Beschwörungen, die das Weihnachtsfest als Familienfest, als Feier der generationenübergreifenden Kernfamilie mit Augenmerk auf Gastfreundschaft und Weihnachtsmahl, in den noch jungen (und traditionsfreien) Vereinigten Staaten etablierte, die bis heute ungebrochen nachwirkt - ein Vierteljahrhundert, bevor Charles Dickens mit seinen Weihnachtserzählungen (seit A Christmas Carol von 1843) dies für England übernahm. (Bei Herrn Crayon noch ohne "Santa Claus", der im Rentierschlitten Geschenke durch den Kamin abliefert: Clement Clarke Moore fügte diese Facette der Festmythologie erst 1822 mit seinem Gedicht A Visit from St. Nicholas hinzu.) Als letzter der fünf Texte dieser ersten Lieferung fand sich der, der seitdem als "erste Kurzgeschichte der amerikanischen Literatur" gilt: "Rip Van Winkle". 

Wie immer in solchen Fällen war es unvermeidlich, daß dieser Mythos von literarischen Archäologen korrigiert worden ist: es gab durchaus den einen oder anderen kurzen Erzähltext, zumal zwei oder drei aus der Feder von Charles Brockden Brown, der als erster amerikanischer Autor, zwanzig Jahre zuvor, ab 1798, versucht hatte, als Autor - wohlgemerkt: nicht als Journalist - von den Erträgen seiner Feder zu leben. Aber keinem dieser Texte ist es vergönnt gewesen, einen Platz im kulturellen Gedächtnis zu gewinnen. Sie sind - das gilt auch für Brockden Browns fünf "Gothic Novels" in toto - allesamt vergessen, verschollen, Fußnoten der Literaturgeschichte. Während für zwei der drei "genuinen" Kurzgeschichten im Skizzenbuch - neben "Rip Van Winkle" noch "The Legend of Sleepy Hollow" (als Abschluß der letzten Lieferung) gilt: sie sind zu Klassikern geworden. Also zu Texten, die, durchaus mit den meisten Details, auch jenen geläufig sind, die nie eine Zeile des Originals gelesen haben.

Sein Verfasser war der damals 37-jährige Washington Irving, der seit vier Jahren, 1815 in der Londoner Niederlassung des New Yorker Handelshauses tätig gewesen war, das er und seine fünf älteren Brüder (Washington, nach dem Helden des Unabhängigkeitskriegs benannt, war das jüngste von acht Kindern) nach dem Tod ihres Vaters geerbt hatten, und das ein Jahr zuvor Konkurs angemeldet hatte. Es war seine zweite Buchveröffentlichung. Zehn Jahre zuvor hatte er die anekdotische, launenhafte History of New York herausgebracht, deren vorgeblicher Autor Diedrich Knickerbocker eine komplett fingierter Biographie mit auf den Weg gegeben worden war, und deren Olla potrida von Döneskens, launischer Geschichtsnacherzählung, Lokalkolorit aus dem ehemaligen Nieuw Amsterdam am Hudson einen besonderen Ort machte, eine Lokalität, mit eigenen Gebräuchen, Traditionen, historischen Wegmarken, herausgehoben unter den anderen Küstenstädtchen von Philadelphia bis Boston. Beide Erzählungen, die Legende vom Schläfer, der in den finstren Höhen der Catskill Mountains bei einer Kegelrunde phantomhafter Spukgestalten deren Getränken zuspricht und sich beim Erwachen zwanzig Jahre in der Zukunft wiederfindet, wie auch die Legende vom schläfrigen Tal, in dem der kopflose Reiter den nächtlichen Wanderer verfolgt, wurden dem zeitgenössischen Leser als nachgelassene Texte aus den Papieren Knickerbockers präsentiert. Beide heben sehr auf die "holländischen Elemente" der dörflichen Umgebungen ab, in denen sie spielen - die ganz offenkundig den eher englisch grundierten Nachbarn als archaisch, besonders rustikal vorkamen: die klobige Bauweise der Holzhäuser, die dicken kastenförmigen Wanduhren, die dicken geschnitzten Holzgitter vor den kleinen Fenster (alles Details, an denen der Text sein besonderes Lokalkolorit festmacht), die. Irving kannte die Gegend um die Catskill Mountains, die tatsächlich eine Art Armenhaus der Siedlungszeit waren, mit ertraglosen Böden, keinen nennenswerten Bodenschätzen, dürftiger Bergbauernwirtschaft und mühseligem Holzeinschlag, um die Stämme über den Hudson River nach New York flößen zu können, aus Verwandtenbesuchen seiner Jugend. Für deutsche Verhältnisse darf man, zumal wenn man das frühe neunzehnte Jahrhundert im Blick hat, hier getrost an den Harz denken. (Der mit dem Brocken auch einen höchst spukhaft besetzten Ort als geheimes Zentrum hat.)

Und es ist kein Zufall, daß der Stoff, den Irving in seiner kleinen Erzählung - die, je nach Satzspiegel und der Übersetzung, in der man sie liest (deutsche Übertragungen fallen in der Regel um ein Drittel länger aus als das englische Original), der ja ein alter Legendenstoff ist, hier einer Sage (oder zumindest einem vorgeblichen Sagenstoff) eben aus dem Harz entnommen ist. nämlich der kurzen Erählung "Der Ziegenhirt" aus der Sammlung Volcks-Sagen, die Johann Karl Christoph Nachtigal 1800 unter dem Pseudonym Otmar nacherzählt hatte (womit der den entsprechenden Unternehmungen der Grimms zuvorgekommen war und an die Rübezahl-Legenden von Musäus anknüpfte). Irving hat dieses Buch im Juni 1818 gelesen, als er, auf der Suche nach einem zukünftigen Betätigungsfeld, damit liebäugelte, in den Botschaftsdienst einzutreten und zu diesem Zweck sowohl Deutsch wie Italienisch lernte. Da der Text Nichtigals kurz und zudem wohl gänzlich unbekannt ist, sei er einmal zur Gänze hergesetzt.

Der Ziegenhirt.

„Peter Klaus, ein Ziegenhirt aus Sittendorf, der seine Heerde am Kyffhäuser weidete, pflegte sie am Abend auf einem mit altem Gemäuer umschloßnen Platz ausruhen zu lassen, wo er die Musterung über sie hielt.

Seit einigen Tagen hatte er bemerkt, daß eine seiner schönsten Ziegen bald nachher, wenn er auf diesen Platz gekommen war, verschwand, und erst spät der Heerde nachkam. Er beobachtete sie genauer, und sahe, daß sie durch eine Spalte des Gemäuers durchschlüpfte. Er wand sich ihr nach, und traf sie in einer Hölung, wo sie fröhlich die Haferkörner auflas, die einzeln von der Decke herabfielen. Er blickte in die Höhe, schüttelte den Kopf über den Hafer-Regen, konnte aber durch alles Hinstarren nichts weiter entdecken. Endlich hört’ er über sich das Wiehern und Stampfen einiger muthigen Hengste, deren Krippe der Hafer entfallen muste.

So stand der Ziegenhirt da staunend über die Pferde in einem ganz unbewohnten Berge. Da kam ein Knappe, und winkte schweigend, ihm zu folgen. Peter stieg einige Stuffen in die Höhe, und kam, über einen ummauerten Hof, an eine Vertiefung, die ringsum von hohen Felsenwänden umschlossen war, in welche durch überhangende dickbelaubte Zweige einiges Dämmerlicht herab fiel. Hier fand er, auf einem gutgeebneten, kühlen Rasenplatz, zwölf ernste Ritter-Männer, deren keiner ein Wort sprach, beim Kegelspiel. Peter wurde schweigend angestellt, um die Kegel aufzurichten.

Anfangs that er dies mit schloddernden Knien, wenn er, mit halbverstohlnem Blick, die langen Bärte und die aufgeschlitzten Wämser der edeln Ritter betrachtete. Allmählig aber machte die Gewöhnung ihn dreister; er übersah alles um sich her mit immer festerm Blick, und wagte es endlich, aus einer Kanne zu trinken, die neben ihm hingesetzt war, und aus welcher der Wein ihm lieblich entgegenduftete. Er fühlte sich wie neubelebt; und so oft er Ermüdung spürte, holte er sich aus der nie versiegenden Kanne neue Kräfte. Doch endlich übermannt’ ihn der Schlaf.

Beim Erwachen fand er sich auf dem umschloßnen grünen Platz wieder, wo er seine Ziegen ausruhen zu lassen pflegte. Er rieb sich die Augen, konnte aber weder Hund noch Ziegen entdecken, staunte über das hochaufgeschoßne Gras, und über Sträucher und Bäume, die er vorher hier noch nie bemerkt hatte. Kopfschüttelnd ging er weiter, alle die Wege und Steige hindurch, die er täglich mit seiner Heerde zu durchirren pflegte; aber nirgends fand sich eine Spur von seinen Ziegen. Unter sich sah’ er Sittendorf, und endlich stieg er, mit beschleunigtem Schritt herab, um hier nach seiner Heerde zu fragen.

Die Leute, die ihm vor dem Dorfe begegneten, waren ihm alle unbekannt, waren anders gekleidet, und sprachen nicht so, als seine Bekannten; auch starrten ihn alle an, wenn er nach seinen Ziegen fragte, und faßten sich an das Kinn. Endlich that er fast unwillkührlich eben das, und fand, zu seinem Erstaunen, seinen Bart um einen Fuß verlängert. Er fing an, sich und die ganze Welt um sich her, für verzaubert zu halten; und doch kannte er den Berg, den er herabgestiegen war, wohl als den Kyffhäuser, auch waren ihm die Häuser mit ihren Gärten und Vorplätzen alle wohlbekannt. Auch nannten mehrere Knaben, auf die Frage eines Vorbeireisenden, den Namen: Sittendorf.

Kopfschüttelnd ging er in das Dorf hinein und nach seiner Hütte. Er fand sie sehr verfallen, und vor ihr lag ein fremder Hirtenknabe in zerrißnem Kittel, neben einem abgezehrten Hunde, der ihn zähnefletschend angrinzte, als er ihm rief. Er ging durch die Oeffnung, die sonst eine Thür verschloß, hinein, fand aber alles so wüste und leer, daß er, einem Betrunkenen gleich, aus der Hinterpforte wieder hinaus wankte, und Frau und Kinder, bei ihren Namen rief. Aber keiner hörte, und keine Stimme antwortete ihm.

Bald umdrängten den suchenden Mann mit dem langen eisgrauen Bart, Weiber und Kinder, und fragten ihn um die Wette: Was er suche? Andre vor seinem eignen Hause nach seiner Frau oder seinen Kindern zu fragen, oder gar nach sich selbst, schien ihm so sonderbar, daß er, um die Fragenden los zu werden, die nächsten Namen nannte, die ihm einfielen. „Kurt Steffen!“ Die meisten schwiegen und sahen sich an, endlich sagte eine bejahrte Frau: Seit zwölf Jahren wohnt der unter der Sachsenburg, dahin werdet ihr heute nicht kommen. „Velten Meier!“ Gott habe ihn selig! antwortete ein altes Mütterchen an der Krücke, der liegt schon seit funfzehn Jahren in dem Hause, das er nimmer verläßt.

Er erkannte zusammenschaudernd seine plötzlich alt gewordenen Nachbarinnen; aber, ihm war die Lust vergangen, weiter zu fragen. Da drängte sich durch die neugierigen Gaffer ein junges, rasches Weib, mit einem einjährigen Knaben auf dem Arm, und einem vierjährigen Mädchen an der Hand, die alle drei seiner Frau wie aus den Augen geschnitten waren. „Wie heißt ihr?“ fragte er erstaunend. Marie. „Und euer Vater?“ Gott habe ihn selig! Peter Klaus; es sind nun zwanzig Jahr, daß wir ihn Tag und Nacht suchten auf dem Kyffhäuser, da die Heerde ohne ihn zurückkam; ich war damals sieben Jahr alt.

Länger konnte sich der Ziegenhirt nicht halten. Ich bin Peter Klaus, rief er, und kein anderer! und nahm seiner Tochter den Knaben vom Arm. Alle standen wie versteinert, bis endlich eine Stimme, und noch eine Stimme rief: Ja, das ist Peter Klaus! Willkommen Nachbar! nach zwanzig Jahren willkommen!“

Frappante Parallelen zu Irvings Erzählung fallen bei der Lektüre ins Auge: das Rahmengerüst, das Kegelspiel der Gespenster, das Verlorensein nach dem Aufenthalt im Bereich des Übernatürlichen, das Wiedererkennen durch alte Nachbarn. Ebenso fallen die Unterschiede ins Auge: Irvings Erzählung lebt von ihren Details, davon daß hier Charaktere (zumindest einer davon) gezeichnet sind und keine Anekdote vorliegt. Gleichzeitig bleibt, was wohl nicht nur heutigen Lesern als ein Malus einer solchen Erzählung erscheint. Daß Übernatürliches, Gespenstisches im narrativen Kosmos real ist, ist das Vorrecht eines jeden Erzählers: daß dies Geschehen - der Sprung durch die Zeit - ohne intrinsische Begründung (außer: in jenen unheimlichen Bergen spukt es halt; der Legende nach sitzt dort eine Erdmutter in Gestalt einer alten Squaw in der Gewitterwolke und sendet böse Wetter) mag mit Blick auf den Legendencharakter hingehen: nur "macht" Irving "nichts aus dem Stoff". Das Erzählthema ist als: das Erwachen eines oder mehrerer Schläfer in einer ihnen fremden Zukunft geht zurück bis zur Legende der sieben Schläfer von Ephesus, die sich vor römischer Christenverfolgung in einer Höhle geflüchtet haben; hier ist das Zentrum des Texts die Bestätigung der Glaubenswahrheit durch das offenkundige Wunder (auch wenn den Schläfern, die ihr Erwachen nur lange genug überleben, um Zeugenschaft davon abzulegen, hier nur der himmlische Lohn zuteil wird), beim Verbleib im Feenreich wird den Rückkehrern die ewige Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies zum Kainszeichen; zumeist läuft die Erzählung (auch in ihrer chinesischen Variante, deren erste Fassung aus dem 3. Jahrhundert n.Chr. stammt) auf das lähmende Verlorensein des schiffbrüchigen unfreiwilligen Temponauten hinaus, der alles, was er kannte und was ihm Heimat war, unwiderbringlich verloren hat - obschon er sich am gleichen Fleck wiederfindet.


("Rip Van Winkle," Ölgemälde von John Qidor, 1829)


Nichts davon findet sich bei Irving. Rip, der alte Kolonialist mit holländischem Migrationshintergrund, findet sich zwar von allen guten Geistern verlassen unter Unbekannten wieder, ein Fremder in einer fremden Welt, doch gibt sich dies nach dem Wiedererkennen durch Dorfgenossen, die ihn zwanzig Jahre vorher in ihrer Kindheit noch gesehen haben. Eine kathartische Wirkung hat der Zeitsprung nicht: seine Xanthippe von einem Eheteufel (vor der er in die Ruhe der Berge geflüchtet war) ist er freilich los; Arbeitseifer oder Frömmigkeit hat es ihn nicht gelehrt; er nimmt sein altes Leben bruchlos wieder auf: ein Tagedieb, nicht aus Rebbellentum, sondern aus Charakterschwäche, "a general enmity to work of any gainful enterprise", der jedem Nachbarn hilft, aber nicht, niemals sich selbst (Rip stellt hier, das macht ihn denn doch zum heimlichen Rebellen und genuinen Vorfahren seines ihm zwei Generationen nachfolgenden Landsmanns Huckleberry Finn und zahlloser archetypischer Taugenichtse  - think Eichendorff - der amerikanischen Literatur, von denen Holden Caulfield wohl der bekannteste des letzten Jahrhunderts, die schiere Konterkarierung des Ideals des Self-Made Man dar, dem aus Fleiß und festem Bemühen nur der Himmel die Grenze ist.) Es bleibt das kurze Paradieren amerikanisch-republikanischer Symbolik: Rip kehrt am Wahltag ins Dorf zurück; das kleine Dorfrathaus ist Wahllokal, die Fragen, "für wen er denn nun gestimmt habe" lösen in ihm nur Unverständnis aus, und die Tatsache, daß er eine (wenn auch unbrauchbar verrostete) Donnerbüchse bei sich hat, bringt ihn für den einzigen Moment in wirkliche Gefahr. (Das ist auch der Grund, warum es dem Protokollanten angemessen schien, heute, am 243. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, an diesen Text zu erinnern) Doch auch das löst sich in Wohlgefallen auf; übrig bleibt nur ein leicht kauziger Alter, der gern im Wirtshaus gegen ein Glas von dem einzigen Abenteuerchen erzählt, das ihm in seinem Leben zu widerfahren ist.

Dem Genuß beim Lesen tut dies freilich keinen Abbruch. Zwar mag die Eingleisigkeit, der Mangel an Doppelbödigkeit und existentieller Reflektion (die wir, nach 200 Jahren fiktionaler Zeitreisen, ob nun magisch oder technologisch fundiert, von Texten dieser Art erwarten) diese Story auf den Status eines schlichten Pionierwerks reduzieren. Schon Edgar Allan Poe befand das 15 Jahre später, als er 1835 in einer Rezension zu Irving anmerkte, daß man zwei Spielarten literarischen Ruhm unterscheiden müsse: den der meisterlichen Stoffbehandlung eines Themas - und den des Pioniers, der als erster ein Thema aufgenommen habe, auf dessen bescheidenem Fundament dann Größeren von anderen errichtet worden sei. (Im Bereich des phantastischen Erzählens ist das der Normalfall; es kommt selten vor, daß die Behandlung eines neuen Themas in Werken stattfindet, die einen Rang als Klassiker ersten Ranges beanspruchen können: die Scientific Romances, die ersten fünf oder sechs SF-Romane von H. G. Wells, von der Zeitmaschine über den Unsichtbaren und den Krieg der Welten bis zu den Ersten Menschen im Mond, bilden hier eine leuchtende Ausnahme). Daß hier aber eine spezielle Art der Short Story, eine "spezifisch amerikanische" Erzählweise, begründet worden sie, gehört zu den unausrottbaren wie irrigen Mythologemen der Literaturwissenschaft: es gibt diese besondere Art der Stoffbehandlung, der Erzählweise schlicht nicht. Sie ist ein Artefakt der Literaturtheorie, die sich ihre Texte passend nach ihren Vorgaben wählt. "Rip Van Winkle" wäre in dieser Form - wenn auch mit unterschiedlichen Details und Namen - in genau dieser Form überall denkbar gewesen, eingefärbt von Temperament und Stil des jeweiligen Verfassers. Puschkin hätte diesen Text genausogut in Russland ansiedeln können wie E.T.A.Hoffmann im weglosen Harz oder Théophile Gautier in den Pyrenäen.










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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.