22. Juli 2019

Precht hat (in diesem Punkt) Recht: Die Deutschen lieben Verbote. Aber warum nur?

Richard David Precht ist der Robert Habeck der deutschen Philosophie. Wie der designierte Erlöser des bundesrepublikanischen Gemeinwesens sonnt sich der mit einer eigenen Sendung im Staatsfunk belehnte Weisheitsfreund in der ihm von Frauen und Medien entgegengebrachten Bewunderung, die mit rationalen Argumenten oder bei einer verständigen Würdigung der bisher erbrachten fachlichen Leistungen wohl nur schwerlich nachvollzogen werden kann.

In einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen Zeitung redet der Vordenker der geistigen Wellness nun staatlichen Verboten das Wort. Zusammengefasst äußert der promovierte Germanist, dass sich Politiker nicht aus Angst vor sinkenden Umfragewerten davon abhalten lassen dürften, das Vernünftige zu tun, zumal der Wahlbürger bei Einschränkungen seiner Freiheit erst verärgert sei, diese Restriktionen dann aber gutheiße, wie die Erfahrungen mit dem Tabakbann in öffentlichen Gebäuden und Gaststätten bewiesen. Eine Umgestaltung der Gesellschaft sei viel leichter, als man denke. Denn: „Die Menschen lieben Verbote.“
­
Man könnte sich jetzt an der großen Transformation der abendländischen Linken abarbeiten, die vor gut 50 Jahren noch mit dem Slogan „Il est interdit d’interdire“ („Verbieten verboten“) dazu angetreten waren, die diskursiven und mentalen Bleikammern unseres Kontinents zu durchlüften, denen hingegen die Schließung der betreffenden Fenster ein halbes Saeculum später gar nicht mehr schnell genug gehen kann. Auch wäre es zweifellos unterhaltsam, darüber zu sinnieren, ob sich Precht – vielleicht noch dazu völlig ironiefrei – für einen Liberalen hält. Weiters könnte man, wie in diesem Medium schon oft geschehen, darüber diskutieren, ob dieses Land nicht schon an zu vielen Verboten leidet. Im Ergebnis dürfte es kaum befriedigen, einem Zeitgeistsymbionten, der mit der Anpassung an den consensus bonorum und mit der Verkündung des weltlichen Evangeliums der letzten Tage sein Brot verdient, Anbiederung an die Erwartungen eines Publikums vorzuwerfen, das sich seines Verstandes gerne unter fremder Anleitung bedient.

Wenden wir uns also einem anderen Punkt zu, und zwar einer Fragestellung, bei der man Precht sogar beipflichten mag. Es ist zutreffend, dass die Deutschen Verbote lieben und sich vergleichsweise schnell mit Einschränkungen ihrer Freiheit abfinden. Anekdotisch kann ich bestätigen, dass die Relegierung des blauen Dunstes aus der Gastronomie auch bei Rauchern Akzeptanz, wenn nicht sogar Zustimmung, gefunden hat, weil man dadurch gezwungen ist, nicht mehr am Tisch zu qualmen, sondern vor die Tür zu treten, was den Zigarettenkonsum angeblich senkt. Und wenn man noch weiter zurückdenkt, zum Beispiel an die Einführung der Pflicht, in einem Kraftwagen den Sicherheitsgurt anzulegen (dies ist natürlich streng genommen ein Gebot, aber Gebote implizieren im Regelfall ein Verbot), so wurde dies seinerzeit nicht widerspruchslos begrüßt, sondern gerade auch (und nicht ganz unberechtigt) mit dem Paternalismus-Vorwurf belegt. Heutzutage sind bekennende Anschnallmuffel ungefähr so angesehen wie Flatearther oder Klimaleugner. Natürlich ist zu konzedieren, dass die Benutzung eines Rückhaltesystems die eigentliche Freiheitsausübung, nämlich das Fahren mit welchem (zugelassenen) Auto auf welcher Straße man will, nicht beeinträchtigt, dies im Unterschied etwa zu den von linker Seite als unentbehrlich propagierten, in Wirklichkeit Klassenkampf von oben darstellenden Dieselfahrverboten.

*
**

Woran liegt es nun, dass sich das – staatliche – Verbot zwischen Berchtesgaden und Buxtehude eines derart guten Leumunds erfreut? Ich sehe dafür insbesondere zwei Gründe:

Zum einen gelten soziale Unterschiede hierzulande als Bedrohung für den Zusammenhalt des Gemeinwesens. Tatsächlich dürfte der in der Bundesrepublik zu verzeichnende gesellschaftliche Frieden sehr viel mit einer starken Annäherung der Lebensverhältnisse zwischen den verschiedenen Bevölkerungsschichten zu tun haben. Doch der Wunsch nach Homogenität geht in Deutschland noch weiter. Als Idealzustand des Mit- und Nebeneinanders der Menschen wird arithmetische Gleichheit propagiert oder doch zumindest erträumt. Wenn es nichts mehr Trennendes zwischen den Individuen gäbe, sondern alle ein in den wesentlichen Punkten übereinstimmendes Leben führten, so der Gedanke, dann würden auch Interessenskonflikte und Auseinandersetzungen zwischen diversen Gruppen verschwinden. Und natürlich schafft nichts so sehr Vereinheitlichung wie das Verbot, das im Verbund mit seiner zwangsweisen Durchsetzung ja gerade dazu angetan ist, einen bestimmten Freiheitsraum zu blockieren, in dem materielle Ressourcen, Mut, das eigene Gewissen oder sonstige vorhandene oder fehlende individuelle Voraussetzungen die Grundlage für die Entscheidung bildeten, ob man etwas tat oder unterließ. Das Verbot ist – anders ausgedrückt – unheimlich ordnungsstiftend.

Ansätze der soeben beschriebenen Einstellung findet man schon im preußischen Militärstaat – dessen Sozialismus sui generis von Spengler im Kern, nämlich seinem Antagonismus zur liberalen Idee, durchaus zutreffend herausgearbeitet wurde (im Spengler’schen Sinn war Bismarck Sozialist, was nur bei einem ungenügenden Verständnis des Gemeinten und allzu großer Adhäsion an politische Worthülsen überraschen mag). Die Vollausprägung des beschriebenen mindset begegnet dann im sogenannten Dritten Reich und der DDR. (Dass die morphologischen Parallelen zwischen den beiden deutschen Diktaturen sinnfällig sind, im öffentlichen Diskurs zwecks Verharmlosung und Rehabilitierung des östlichen Unrechtsstaates und insbesondere seines weltanschaulichen Unterbaus aber gern in Abrede gestellt werden, ist offenkundig.)

*
**

Der zweite (und mit dem erstgenannten verwobene) Grund, warum von Köln bis Cottbus das staatliche Verbot hohe Beliebtheit genießt, liegt meines Erachtens darin, dass die Deutschen seit dem Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus vom Staat und dessen obersten Repräsentanten eine Gebrauchsanweisung für das gute und rechtschaffene Leben erwarten. Bezeichnenderweise verbreitete sich erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Rede vom „Landesvater“, der freilich nicht wie das männliche Elternteil heutigen Zuschnitts, sondern eher wie der klassische römische pater familias mit harter, aber doch pflichtbewusster und wohlfahrtsorientierter Hand das persönliche Schicksal seiner Untertanen, die nun zu „Landeskindern“ mutierten, zu gestalten hatte. (Für zythophile Latinisten: Das "Salve, pater patriae" wurde erstmals anno 1780 formuliert.) Wie jeder Erziehungsberechtigte weiß, brauchen Minderjährige Verbote, sonst würden sie bis zum Zuckerschock Schokolade essen; aufbleiben, obwohl sie kaum noch Herr ihrer Sinne und Handlungen sind; oder ihre Freizeit mit ununterbrochenem Bestarren des Smartphone-Screens verschwenden.

In der gegenwärtigen Untersagungsdiskussion wird häufig ein entsprechendes Argument gebracht: So bekennt sich selbst der achtsame und bewusste Grünen-Wähler zu seiner Schwäche mehrfacher Langstreckenflüge pro Jahr, auf die zu verzichten ihn sein innerer Schweinehund hindere. Und genau deshalb, weil der Einzelne zu bequem und inkonsequent sei, das als richtig Erfasste, aber mit Unannehmlichkeiten Verbundene ins Werk zu setzen, müsse ihn der Staat zu dem korrekten Verhalten verdonnern.

*
**

Mangelnde Verwestlichung ist das Grundleiden dieses Landes.

Noricus

© Noricus. Für Kommentare bitte hier klicken.