17. Juli 2019

"Uschi kann brauchen, was es gelernt hat." Eine Scharade

Daß Frau von der Leyen gestern vom Europäischen zur neuen Präsidentin der EU-Kommission gewählt worden ist, wurde ja gestern schon an dieser Stelle gewürdigt. Hier nun sei auf ein paar Aspekte verwiesen, die sich an diesem Vorgang in nachgerade archetypischer Weise zeigen und die durchaus auf tiefer liegende Probleme und Webfehler in der Aufstellung dieses transnationalen Gebildes namens "EU" hinweisen - nicht zuletzt die unheilvolle Neigung des polit-medialen Komplexes, das "soziale Konstrukt" EU (hier ist dieses leidige Modewort einmal angebracht) mit dem Kultur- und Traditionsraum Eurpoa - dem "Abendland", der "alten Welt" - in ein zu setzen. Daß dies ist leicht polemisch-sarkastischer Weise geschieht, sei dem Protokollanten nachgesehen. Solche Flapsigkeit ist ein publizistisches Prärogativ der schreibenden Zunft genau dieses Europas, um das es hier geht, seit Anfang des achtzehnten Jahrhunderts die Wien, Paris und London die Kaffeehauskultur aufkam und mit ihr die Gazetten, die literarischen und politischen Wochenblätter, die den Betreibern die Lauf- oder besser Sitzkundschaft sicherten. Die Tradition der publizistischen Agora als Hallraum der Öffentlichkeit verdankt ihr Herkommen mindestens im gleichen Maß der Einführung des Kaffees wie der Lockerung der frühneuzeitlichen Zensurgesetze.

Was die gestrige Wahl betrifft, so sei verstattet, sie als rein deutsche Angelegenheit, als Teilmenge innerdeutscher Politik zu betrachten. Und eines ihrer herausragenden Kennmerke ist es, seit einigen Jahren die Aufgabe übernommen zu haben, sämtliche weiteren Teilbereiche des Mixtum compositum dessen, was die Medien (ohne deren Mitwirkung diese Politik ja keine "Öffentlichkeit" herstellen kann) - vielleicht mit Ausnahme des Sports - gleichfalls abzudecken. Musiker und Schauspieler (und die Konzerte und Filme, in denen sie auftraten und mitwirkten) scheinen - zumindest in Deutschland  -nur noch als Echokammer der weniger von der Politik gesetzten Agenden vorzukommen. Es kommt nicht mehr darauf an, daß sie unvergeßliche Rollen spielen oder Lieder trällern, die dem Sommer eines bestimmten Kalenderjahres eine akustische Signatur aufprägten (so, wie etwa 1965 das Jahr war, in dem Summer in the City aus allen Radios drang, 1966 Obladi-Obladah oder 1983 keine Rettung vor dem Sonderzug nach Pankow war)  -sondern nur als als Verstärker jener drei oder vier zwanghaften Obsessionen, auf die sich seit gut 10 Jahren das gesamte politische Themenspektrum in Deutschland reduziert hat. Frau von der Leyens Kür zur Gallionsfigur der EU für das kommende Jahrfünft kann, schlicht und einfach, als der dritte Teil der "Uschi"-Trilogie angesehen werden - eben Uschi kann brauchen, was es gelernt hat - nach dem noch in bescheidenen Dimensionen inszenierten 1. Teil "Zensursula" und dem Dauerbrenner der sechs Jahresstaffeln "Flintenuschi" (2013-2019) (was es freilich gelernt hat, außer eine Spur der Verwüstung nach sich zu ziehen, sei dahingestellt.). Die Rückwirkung der unlösbar vermengten Amalgamierung aus Entertainment und politischem Geschäft hat auch den erleichternden Effekt, daß sich Gedanken über die längerfristige Wirkung weitgehend erübrigen.  Was uns hier geboten wird ist eine Moritat über die dunklen Seiten der Macht, inszeniert im Geist von Mel Brooks. So eine Art invertierte Reality TV-Version von The West Wing, nur ein paar Hausnummern größer. Ein Innocent Abroad (um Mark Twains Ausdruck aufzugreifen) eine gegenderte Ausgabe von Mr. Chance ("Welcome, Mr. Chance" - sei es in dem Roman von Jerzy Kozinski oder der Verfilmung mit Peter Sellers von 1979) oder Forrest Gump, deren einziges Kennzeichen darin besteht, in ausnahmslos allen Vorhaben gescheitert zu sein, wird als Resultat zur Frontfrau des dysfunktionalen Gebildes namens EU gefördert, nach einer Wahlfarce, die dem dummen Souverän als "Jahrhundertwahl" verkauft wurde und die realiter das Prinzip "Hinterzimmergeschacher" zur Kenntlichkeit für alle entstellt. Wir sehen nicht mehr das Peter-Prinzip am Werk, sondern dessen Travestie. 

Denn genau das ist, was abseits aller Frotzelei, diesen Vorgang so kennzeichnend macht: die Vorgänge mögen zwar vom Buchstaben der Regeln der Geschäftsordnung gedeckt sein, sie verstoßén aber - mit Vorsatz und jedem sichtbar - gegen den Geist dessen, was demokratisch verfaßte Gemeinwesen als inneren Kern für sich geltend machen müssen, um vom vorgeblichen Souverän, dem Bürger, als solche akzeptiert zu werden. Die Europawahl vor zwei Wochen zeichnete sich durch genau zwei Punkte aus: die absolute Inhaltsfreiheit der Wahlsprüche, bis hin zu dadaistischen Parodien ("Europa: die beste Idee, die Europa je hatte") - und die Herausstreichung als Kernstück demokratischer Partizipation von nicht weniger als 440 Millionen stimmberechtigter EU-Bürger. Die Nominierung einer Spitzenkandidatin, deren Name im Wahlkampf nie gefallen war, die als Person gar nicht für den Wähler zur Auswahl stand - die überdies als einzige Kandidatin beim gestrigen Wahlgang zur Auswahl stand (und die mit einen denkbar knappen Votum von neun Stimmen über dem erforderlichen Quorum die Wahl für sich entschied): eine symbolischere Brüskierung des Wählers ist eigentlich kaum denkbar unterhalb des tatsächlichen Gesetzbruchs. Die Personalie von der Leyen verstärkt dies: es ist ein alter zynischer Gemeinplatz, das EU-Parlament als Gnadenhof für Politiker zu sehen, die an der Heimatfront gescheitert sind - für Frau von der Leyen trifft dies in einem nachgerade galaktischen Ausmaß zu. Sie hat in keinem ihrer bisherigen drei Ministerämter einen Anflug von Fortüne gezeigt; als Bundesminister der Verteidigung war sie die krasseste Fehlbesetzung, die dieser Staat jemals in einem Regierungsamt gesehen haben dürfte - und das mindestens seit der Reichseinigung von 1871. Die zahllosen Skandale, die unendliche Geldverschwendung, die Tatsache, daß von der Bundeswehr der Auftrag der Landesverteidigung im Ernstfall nicht einmal im Ansatz wahrgenommen werden könnte, die nur als lächerlich zu bezeichende pseudofeministische Symbolpolitik (mit Umstandskleidern für Soldatinnen und einer Bestuhlung für Hochschwangere in Kampfpanzern (!!)) - all das ist hinlänglich bekannt. Der Protokollant hat darin freilich in den letzten fünf Jahren einen Gradmesser für den Niedergang unseres politischen Systems gesehen. Das Amt des Bundesministers der Verteidigung war seit der Einführung den neuen Heeres 1957 immer ein sprichwörtlicher "Schleudersitz". Acht Amtsvorgänger von Frau von der Leyen sind über wirkliche (wie etwa Franz Josef Strauß) wie unwirklich aufgebauschte Skandale (wie etwa Manfred Wörner 1984) des Amts verlustig gegangen. Nach den jahrzehntelang geltenden Maßstäben hätte "Flintenuschi" spätestens im Herbst 2014 entlassen werden müssen, im Kielwasser des "Besenstilmanövers in Norwegen" - als die in der Folge der russischen Krimbesetzung und des Ukraine-Kriegs gebildete "schnelle Eingreiftruppe", die im Fall eines Angriff auf NATO-Territorium (in diesem Fall die drei baltischen Staaten und Polen zum Einsatz kommen sollte)  auf ihre tatsächliche Einsatzfähigkeit geprüft wurde und mangels Geschützrohren auf den Radpanzern mit schwarz angemalten Besenstielen ins Manöver zog. Kein Ausfall von Großgerät, kein Versagen bei der Organisation hat auch nur zu Forderungen nach Demission in der Öffentlichkeit geführt. Daß eine solche Negativbilanz jetzt mit der Weiterbeförderung ins höchste Amt belohnt wird, das die EU zu bieten hat, hat nicht nur "ein Geschmäckle". Es zeigt, daß Erfolgsbilanzen, Sachverstand, zielführende Politik nicht länger auf der Agenda dieser institution stehen. Es geht nur noch um die reine Personalpolitik, völlig unbeachtet vom Versagen im Amt, in der Vergangenheit wie der Gegenwart. Frau von der Leyens Amtsvorgänger hat dies bei seinen notorischen Ausfällen während seiner offiziellen Auftritte hinreichend vor Augen geführt.

An Vorgängen dieser Art läßt sich, so meine ich, ablesen, mit welcher Art von Institution wir es - hinter den vordergründigen Protokollen parlamentarischer Abläufe und Protokollen, bei der EU-Bürokratie zu tun haben.  Zum einen: Ich habe, gerade im Diskussionsforum, das diesem Netztagebuch angeschlossen ist, dem "Kleinen Zimmer", diverse Male dargelegt, warum dieses System dysfunktional ist. Warum es nicht mehr zielführend handeln kann, zu keiner Korrektur oder grundsätzlichen Remedur mehr fähig, auf Blindflug, im eigenen, auf Reflexe reduzierten Infantilismus gefangen. Ich nehme die gestrige Scharade als weiteren Beleg. Dieses politische System ist das, was man im Fall einer Einzelperson psychotisch nennen würde. Als System ist es nicht mehr der Einsicht ins die eigene Fehlsteuerung fähig. Ich habe hierfür diverse Male den Ausdruck der kognitiven Dissonanz verwendet. Ich halte auch stark dafür, daß es bei den einzelnen Personen, die im Raumschiff Berlin agieren, um nichts besser bestellt ist. Es gibt einen Punkt, an dem es sinnlos ist, diese Analyse zum x-ten Mal zu wiederholen. Eingreifmöglichkeiten bieten sich uns nicht. Es bleibt nur das Warten darauf, daß dieser Irrsinn durch Selbstzerlegung beendet wird - da die Voraussetzungen nicht gegeben sind, ist das eitel. Die Verwaltungsabläufe, die bürokratischen Mechanismen, die den Politikbetrieb am Laufen erhalten, laufen weiter. Gestoppt wird das mithin nur durch äußere Eingriffe - Blackout, Wirtschaftskrise in XL, tatsächliches Auseinanderbrechen der EU. Ein Überschlag, was dieses Personal auf den neuen Posten an Kompetenz oder Position zu bieten habe, "wofür sie stehen", ist müßig; sie kann mit Schweigen beantwortet werden: sie stehen für NICHTS. Sie haben keine eigenen Positionen (es wäre Ihnen ganz unmöglich, die aufzuführen), sie haben keinerlei Kompetenzen, sie sind, höchstens, Symbolfiguren ("weiblich!", "CDU!"). Dieser Pöstchen-Rangierbahnhof ist längst zum in sich kreisenden Selbstläufer degeneriert; eine Monade, der bei Gelegenheit passende Sprechblasen produziert. Wir sind in die Zerfallsphase dieses Systems eingetreten - in diesen manifest lächerlichen Rochaden manifestiert sich das.

Zum anderen:: wir brauchen von diesen Personen, was die EU angeht, nichts zu erwarten. Sie haben kein Programm, keine Vorhaben. Allerhöchstens reagieren sie noch, wenn überhaupt (das Versagen des transnationalen Gebildes EU in der Finanzkrise und der Flüchtlingskrise hat augenfällig gemacht, das dieses Gebilde nicht in der Lage ist, auf Krisen adäquat zu regieren; sondern eben nur, dne Status Quo in die Zukunft zu verlängern). Agendasetzung gibt es keine mehr, nur noch Phrasen in Gestalt der aneinandergereihten Buzzwords. Frau von der Leyens Bewerbungsrede war ein Paradebeispiel ("Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent machen"). Die einzig auszumachende Agenda ist die Prolongierung des gegebenen Status Quo. In diesem Fall etwa die Aufrechterhaltung des Schleppergeschäfts. Von der politischen Ausprägung sehen wir in Brüssel und Straßburg die Wiederbelebung des alten Feudalsystems, das das Heilige Römische Reich bis in die frühe Neuzeit geprägt hat. Eine Adels- respektive Politikerkaste, die untereinander paktiert, von der Basis komplett entkoppelt ist, die letztlich politisch wirkungslos ist, aber ein religiös begründetes "Europa" als Legitimation nimmt. Die Kommissionsposten haben die Kurwürde ersetzt. Die Akklamation durch die Fürstenversammlung, in denen die einzelnen Herrscher nominell primi inter pares darstellen, ist durch die EU-Wahl substituiert; mit dem Wähler als vorgeblichem Souverän, dessen Belange man vertritt, was aber in der tatsächlichen Wirklichkeit schlicht entfällt. Die Bündnisse und Seilschaften agieren wie die alten Herrscherdynastien transnational. Hinzu kommt, daß wie im Mittelalter die neuzeitliche Idee des Nationalstaates durch "Europa" (statt des Christentum) und des Lokalen substituiert wird.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: ich will keineswegs ein Gleichheitszeichen zwischen "ce corps qui [...] n’était en aucune manière ni saint, ni romain, ni empire" (Voltaire) und die EU-rokratie setzen. Schon weil wir es hier, pace Hegel (bzw. seines Interlokutors Karl M. - im vielleicht einzigen Satz von ihm, der die Zeiten überdauern wird), mit der Repetition als Farce zu tun haben. Es handelt sich vielmehr um strukturelle Gleichheiten, die sich aus der Selbstorganisation eines gesellschaftlichen Subsystems - im diesem Fall die entkoppelte und machtlose Führungselite eines multipolaren Konglomerats - ergeben. Diese Wirkungen sind - im alten wie im neuen Fall - nicht so geplant oder intendiert. Sie sind emergent. Checks and Balances werden in politische Systeme eingebaut, um das unausweichliche Entgleisen in diese Richtung zu verhindern. Ich messe den Wert eines Gebildes wie der EU auch einzig an seiner Fähigkeit, Krisen adäquat einzuschätzen und zu bewältigen. Hier hat die EU in den Stresstests, denen sie in den letzten Jahren, seit 2011, ausgesetzt war, in den entscheidenden Fällen eklatant versagt - also der Eurokrise wie der durch die deutsche Grenzschleifung im Herbst 2015 explodierende "Flüchtlingskrise". Der Schluß ist unabweisbar, daß dergleichen transnationale Gebilde nicht lebens- und zukunftsfähig sind, und alles, was über die Grenzen des Nationalstaatlichen hinausgeht, reine und strikt aus ökonomische oder militärische Kooperation beschränkt werden muß. Freihandelszonen, aber auf keinen Fall ein gemeinsames europäisches Haus. Mit irgendeinem Antieuropäismus hat das nichts zu tun.

Ein Nebenaspekt davon ist: daß Nationen ohne eine "größere Idee", eine nationale Mythologie, eine Klammer für das Selbstverständnis der Bürger innerhalb dieser Nation, keine Zukunft haben (daß Berlin das nicht hat, ist ein wesentlicher Faktor für den Ritt in die infantile Dekadenz). Ein "EU-Staat" muß notwendigerweise diese Schiene bedienen; er tut es in einem Automatismus, der sich aus dem imaginierten Telos des Kollektivs ergibt (in der UdSSR war das der Mythos "Sozialismus") und der auf der anderen Seite gegen die Partikularismen der alten nationalen Kratone gerichtet ist, aus denen sich der künstliche Kontinent namens "Europäische Union" aufbaut.



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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.