22. Juli 2018

Die ZEIT und das Erbe der Sarrazin-Debatte

Es ist schwierig, nicht allzu lange zurückliegende Ereignisse in ihrer historischen Bedeutung korrekt zu erfassen. Unter diesem Vorbehalt scheint dem Urheber dieser Zeilen eine Einschätzung der Debatte um Thilo Sarrazins Werk "Deutschland schafft sich ab" als Kulminations- und Wendepunkt bestimmter Entwicklungen in der Kulturgeschichte der Bundesrepublik gleichwohl gerechtfertigt zu sein.

Vieles, was die damalige Kontroverse mit sich brachte, war zwar nicht neu, trat bei jener Gelegenheit allerdings in einer derart gehäuften und plakativen Form auf, dass es zu einer Mobilisierung von Menschen führte, die den betreffenden Tendenzen zuvor keine nähere Beachtung geschenkt hatten: So erinnerte das Einschreiten der Kanzlerin und anderer Exponenten der Staatsgewalt in einer rein gesellschaftlichen, mangels Rückendeckung durch eine im Parlament vertretene Partei eben noch nicht politischen Debatte an die Moralaposteleien der Leinwand-Saubererhalter früherer Dekaden. Neu war dagegen der Schulterschluss zwischen dem Gros der Medien und der Mehrzahl der hohen Staatsfunktionäre. Angela Merkel mag durch diese Solidarisierung für ihre von der Presse frenetisch beklatschten, da dem in den einschlägigen Kreisen dominierenden Weltbild entsprechenden Kursänderungen der Jahre ab 2011 ermutigt worden sein.
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Am beklemmendsten und wohl auch folgenreichsten dürfte sich hingegen eine andere Erscheinung im Zuge der Auseinandersetzung um das Sachbuch des ehemaligen Finanzsenators erwiesen haben: die Verweigerung der inhaltlichen Diskussion. Freilich: Eine Wissenschaftlerin wie Naika Foroutan erntete als gern gesehene Antipodin des Geschmähten ihre fünfzehn Minuten Ruhm. Mit deren nicht immer nachvollziehbaren Zahlenzitaten sowie ähnlich oberflächlichen Statements anderer mehr oder minder qualifizierter Fachleute war aber die Grenze dessen, was die Multiplikatorenszene dem Publikum und sich selbst an Austausch in der Sache zumuten wollte, schon erreicht. Dominierend war indessen die Ansicht, dass Sarrazin mit seinen nicht hilfreichen Thesen den öffentlichen Frieden gestört habe und eine solche soziale Brandstiftung per se und ohne weiteres Gehör sanktionswürdig sei.

Ein Bedürfnis, die in Sarrazins Buch aufgeworfenen Fragestellungen zu erörtern, war in einem quantitativ nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung jedoch vorhanden. Da die Majorität der Medien die als toxisch empfundenen Themen noch nicht einmal mit der Beißzange anfassen wollte, verlagerte sich die inhaltliche Diskussion zum Teil ins Private, zum Teil aber auch in die vergleichsweise kleine Öffentlichkeit diverser Internet-Portale. Das World Wide Web erlaubte den Abweichlern dabei einen Grad an Vernetzung durch gegenseitige Rezeption, wie er in der vordigitalen Epoche undenkbar gewesen wäre. Diese gleichsam dezentrale Sarrazin-Debatte hat den nach der Kölner Silvesternacht einsetzenden Umschwung in der Berichterstattung der großen Periodika dieses Landes zweifellos vorbereitet.

Im Zusammenhang mit dieser Beobachtung steht die Erkenntnis, dass sich Debatten und Meinungen, an denen ein ausreichend großes Interesse gegeben ist, nicht unter den Teppich kehren lassen. Das war schon vor dem Siegeszug des Internet so. Durch das globale Netzwerk ist die Diskurskontrolle aber noch schwieriger geworden. Anders formuliert: Die Diskussionen, welche die politischen und medialen Eliten ablehnen, werden trotzdem geführt, jedoch abseits der inhaltlichen Einflussmöglichkeiten der Meinungsbildner.

Die ZEIT hatte in diesem Sinne eigentlich alles richtig gemacht, indem sie zu dem heiklen Thema mit dem inzwischen gängigen Label "private Seenotrettung" ein Pro und Contra ihrer Autorinnen Caterina Lobenstein und Mariam Lau publizierte. Die Ansicht, dass die im Mittelmeer kreuzenden Helferschiffe im Geschäftskalkül der Schlepper vorkommen, dürfte eine nicht ganz geringe Verbreitung genießen. Dass man das maritime Aktivisten-Engagement in Grautönen beschreiben kann, so wie Mariam Lau das tat, war für das Milieu der Gutdünkenden aber schon ein inakzeptabler Affront. Die ZEIT-Chefredaktion leistete daraufhin Abbitte, wobei der erhobene Zeigefinger, die Contra-Autorin hätte doch bitte schön ihren "großen Respekt" vor den idealistischen Seeleuten zum Ausdruck bringen sollen, nicht fehlen durfte.

Es ist zu erwarten, dass die ZEIT von derlei heißen Eisen in Zukunft die Finger lassen wird. Die Diskussionen zur Migration über das Mittelmeer werden dann wieder abseits des medialen Mainstreams stattfinden, dies möglicherweise auch in Echokammern, in denen tatsächlich das befürwortet wird, was die Empörten der Vertreterin des kritischen Standpunktes in der ZEIT-Debatte in schlechtester Strohmann-Argumentation unredlicherweise unterstellten.

Noricus

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