5. Juli 2018

Beschlagene Kristallkugel



(Bildquelle: Pixabay)

Die Schusterkugel ist beschlagen; der Ausblick in die Zukunft völlig ungewiss.

Der Protokollant kann sich nicht erinnern, zu irgendeinem Zeitpunkt der letzten nun dreieinhalb Jahrzehnte, die er sich als eigenständig urteilendes, sich die Weltläufe einen eigenen Reim machendes Zoon politikon einschätzt - für ihn stellten der Falklandkrieg und sein Eintreten dafür inmitten einer geschlossenen Front von kategorischen Ablehnern so etwas die die Äquatortaufe in politicis dar - jemals so ratlos auf die Folgen konkreter politischer Ereignisse geblickt zu haben wie nach dem Abschluß der hektisch inszenierten "Koalitionskrise" der letzten 19 Tage, den Folgen von Frau Merkels und Herrn Seehofer angeblich zerrüttetem Vertrauenverhältnis, dem kurz bevorstehenden Zerbrechen der jahrzehntealten Parteibruderschaft von christdemokratischer und christsozialer Union, von Frau Merkels atemlos aufgesetztem und präsentiertem "Asyldeal" - der sich umgehend als ein Klingklang aus leeren Worten und dem vagen Versprechen entpuppte, vielleicht demnächst mit dem Ziel vagester Vorstellungen einmal tatsächlich zu verhandeln. Ein "Deal," der umgehend von fünf der angeblich 14 beteiligten Staaten dementiert wurde. "Auf lange und mittlere" Sicht war es in den vergangenen Jahrzehnten stets unsicher, welche Folgen sich aus politischen Ereignissen ergeben würden: das Schicksal der DDR und des Kasernensozialismus des Ostblocks konnte über den größten Zeitraum der 1980er Jahre niemand erahnen - aber die unmittelbaren Folgen, für die nächsten Jahre, nachdem sich im Sommer 1989 die Risse in der Ost-West-Mauer zeigten und beständig verbreiterten: das ist eine andere Sache. Irgendwann wurde es, schon im Oktober '89, deutlich, daß der Fall der Mauer nur eine Frage der Zeit war, und daß diesem Ereignis die Wiedervereinigung beides Teile Deutschlands so unausweichlich folgen würde, wie es die Ahnung historischer Dynamiken zuläßt. Auch, daß der einzig relevante Antagonismus, die Schicksalsfrage des gesamten einunzwanzigsten Jahrhunderts, der Konflikt zwischen der freien Welt des Westens und dem unreformierbaren, expansionistischem Islam sein würde, war spätestens am 11. September 2001 jedem halbwegs aufmerksamen Beobachter eisern klar.



Im Gegensatz zu solchen Weichenstellungen sind die praktischen, konkreten Folgen aus dem Streit, dem Krach an der Spitze des Kabinetts Merkel IV absolut opak, absolut uneinschätzbar. Ob sich irgendwelche Veränderungen aus diesem Streit, diesem Sturm im Wasserglas, ergeben, und in wleche Richtungen sie führen werden, läßt sich - zumindest für den, der diese Zeilen tippt, ncht einmal ansatzweise spüren. Es liegt daran, daß aus den Zeichen, die hinter dem allfälligen Mediendonner, dem wüsten Krakeelen der erwartungsgemäßg beleidigten Genossen_Innen der Spezialdemokratie zwei gleichermaßen mögliche Kurse abzeichen, die einander diametral widersprechen. Zum einen ist dies die Möglichkeit, daß Horst Seehofer sich tatsächlich mit seinem Maßnahmenkatalog durchsetzt, daß es zur Einrichtung von "Transitzentren" kommt, daß tatsächlich Asylersuchende, die sich bereits in einem anderen Mitgliedststaat der EU mit dem gleichen Begehr haben registrieren lassen, an der Landesgrenze zurückgewiesen werden, daß Menschen, denen das Aufenthaltrechts in diesem Land gerichtlich abgesprochen worden ist, tatsächlich nicht mir-nichts-dir-nichts wieder einreisen dürfen, die Gerichte erneut in Anspruch nehmen, erneut ausgewiesen werden und dieses Katz-und-Maus-Spiel anscheinend beliebig oft wiederholen könnten, bis entweder ihnen oder diesem Staat der Spaß ausgeht. Bei Seehofers 64 (oder waren es doch 63? - auch hieran sieht man, wie wenig es um konkrete Maßnahmen geht, sondern um einen ganz anderen Aspekt) Punkten ging es um nichts Drastisches oder gar Neues: in der einen oder anderen Form handelte es sich bei allen Punkten um geltendes, verabschiedetes, kodifiziertes deutsches oder EU-Recht. Es ging vielmehr darum, festzustellen, ob selbst auf einem so bescheidenen Gebiet wie dieser Wiedereinreise noch Recht und Gesetz gelten soll, oder schiere Anarchie. Ob daem Belieben von Leuten, die in der EU oder in Deutschland kein Aufenthaltsrechts für sich geltend machen können, Primat vor der Gesetzeslage zu kommt. Im Fall eines Durchsetzens der "harten Linie" des Innenministers hätte sich hier - auf einem Gebiet, auf dem es in der Sache her eigentlich keinen rechtlich oder pragmatisch fundierten Dissenz geben kann, zum ersten Mal seit Beginn der Asylkrise vor drei Jahren nicht die selbstherrliche Willkür der Kanzlerin, sondern die Gesetzeslage, die praktisch-faktische Bewältigung dieser Krise durchgesetzt. Auf einem winzigen, aber symbolisch besetzten Gebeit: der Sicherung der Landesgrenze. Seehofer hätte  "Nägel mit Köpfen" gemacht, er hätte einen Keil, einen ersten, in diese Betonfassade der sturen Unbeirrbarkeit der eisernen Kanlzerin getrieben, die nichts als ihren eigenen blinden Willen gelten läßt: nicht die Beschlußlage von Schengen und den Nachfolgeverträgen von Dublin I bis III, nicht die Folgen - materiell wie sozial - ihres Treibens für Europa oder Deutschland - nicht die Rücksichtnahme auf die Partnerstaaten der EU. Seehofer hätte erreicht, was der einzig wirklich im deutschen Parlament agierenden Opposition, der AfD, nicht im Ansatz geglückt ist: eine tatsächliche, wenn auch erst nur minimale Kursänderung der Kapitänin auf der Brücke des staatlichen Narrenschiffs. Merkel hätte das Heft aus der Hand gegeben, als Preis für den vorerst gesicherten Amterhalt per Weiterbestehen der Regierungskoalition.

Auf der anderen Seite läßt sich aus den gleichen schütteren Signalen das stracke Gegenteil herauslesen: Daß es sich bei der "Krise" der letzten 19 Tage um nichts als Theaterdonner gehandelt hat, um eine nach dem bewährten Muster "Good Cop - Bad Cop" inszenierte Schmierenkomödie, daß das Ergebnis - daß sich nichts, aber auch nichts, ändern wird, daß man nie vorhatte, eine "Lösung" auch nur zu simulieren, sondern nur ein wenig Krisis vor der anstehenden Sommerpause angesagt war, um dem längst kaltgestellten Souverän, dem Wähler, dessen Wahlentscheidungen längst ohne jede Konsequenz und Bedeutung für das nach Belieben agierende Kartell aus Politik und Staatsmedien ein kleines Divertimento zu bieten. Daß die Koalition nie in Gefahr war, daß es nur, gewissermaßen, "Böhmermann auf der Bühne des Politischen" war, als die Drohung des Innenministers, Recht und Gesetz anzuwenden, dazu führte, daß die Regierungschefin halb Europa rebellisch machte, um dies zu verhindern und zum Schluß sogar vor frechen Lügen nicht zurpckschreckte, von denen sie wissen mußte, daß sie nur bis zum nächsten Dementi aus Tschechien, Polen, aus Österreich und Italien halten würden. In diesem Fall hätten wir es mit einer zynischen Farce zu tun, nicht nur mit der üblichen "Simulation als Ersatz für politisches Handeln": es wäre ein Signal an die Bürger, daß weder Ochs noch Esel die Kurssetzung in eine endlose Fortsetzung der Asylflutung aufhalten, daß die politischen Regularien, die "checks and balances" tatsächlich nicht mehr greifen. Man hätte den Bürgern Apokalpyse vorgespielt, man hat getan, als ginge es tatsächlich um eine Beendigung des bestehenden Chaos, als sollte dies zumindest einmal versucht werden - und man hätte diese Farce im sicheren Bewußtsein gespielt, daß die EU-Bürger davor hilflos kapitulieren müssen. Weil nur die Regularien der parlamentrischen Demokratie ihnen Werkzeuge zum Eingreifen an die Hand geben, weil es per Wahlentscheid keine denkbare Kombination mehr gibt, der Kamarilla aus Regierung und Regierung die Macht zu entziehen. Falls sich diese zweite Möglichkeit als das tatsächlich Gegebene erweist, wäre dies ebenso eine Aufkündigung des contrat social zwischen dem Bürger und der Regierung wie der Koalitionsbruch zwischen CDU und CSU eine endgültige Zäsur zur politischen Landschaft des nachkriegsdeutschen Demokratie wäre.

Daß verschiedene Beobachter, bei unterschiedlichen Standpunkten, zu konträren Schlüssen hinsichtlich politischer Ereignisse kommen, ist normal. Daß sie es nicht nur in Bewertung und Gewichtung, sondern in der Frage: WAS denn nun eigentlich geschehen ist, welche Folgen das für die Zukunft hat, ist wesentlich seltener. Daß nicht nur aus der Sicht desselben Lagers völlig konträre Bewertungen vorliegen, kommt selten, sehr selten vor. Seehofers Drohung mit Rücktritt und Koalitionsbruch hat in der Filterblase des Protokollaten in den Tagen seit Sonntag solche absolut konträren Urteile auf sich gezogen: von "als absoluter Bettvorleger" gelandet bis "Sieg auf ganzer Linie: Er hat Merkel als Preis des Machterhalts sein Programm aufgezwungen" war alles dabei. Daß einem einzelnen Betrachter beides gleichermaßen denkbar ist, zeigt vor allem, in welche Schieflage die Entscheidungsfindung und deren Kommunikation geraten ist.

Eines ist freilich klar. Egal ob sich in dieser Scharade doch, endlich, die "Merkeldämmerung" ankündigt, weil die Kanzlerin die Machtbasis in der Regierungskoalition, auch bei der CSU und sogar in der eigenen Partei verliert - und anders ist ihre Abberufung schlicht nicht denkbar; Frau Merkel besteht aus nichts als sturem, zu allem entschlossenem Machterhalt - oder ob, au contraire, einfach zur gewohnten Tagesordnung übergegangen wird (ein Nebeneffekt wäre, daß sich der Skandal um die Vorgänge am BAMF in heiters Wohlgefallen aufgelöst haben. Dieser Skandal, der zu en Zeiten von Adenauer bis Schröder eine handfeste Staatskrise ausgelöst hätte, ist einfach Schnee von gestern. Im 21. Jahrhundert werden solche Krisen icht mehr zugelassen; ihre Bewältigung besteht darin, daß sich jemand, vorzugsweise die Kanzlerin selbst, vor ein Mikrophon stellt und den Satz sagt: "Selbstverständlich trage ich persönlich die volle Verantwortung dafür" - ohne daß es irgendwelche weiteren Konsequenzen tragen würde) - ein ist klar: Frau Merkels Einfluß in der EU ist ab jetzt bei exakt Null zu taxieren. Diese "EU", in deren Namen sie mantrahaft "europäische Lösungen" beschwört, die nichts anderes sind als Ausreden, um aus eigener Kraft von jedem Bemühen um Lösung Abstand zu halten,  wird ihr nichts mehr abnehmen: sie hat vermeintlich Zusagen ihrer prospektiven Partner erfunden, um den eigenen Hals zu retten. Sie hat nicht nur nichts geboten, sondern auch klargemacht, daß ihr das Ergebnis solcher Übereinkünfte schon im Vornherein egal ist, selbst das OB solcher Übereinkünfte. Damit hat sie sich als Vertragspartnerin ein für allemal unmöglich gemacht. Als "wahnsinnig" geltende Autokraten wie etwa Kim jong-un sind, bei aller Negativität, berechenbar; Frau Merkel ist es aus Sicht eines Vertragspartners nicht mehr. Ihr Parkett ist jetzt nur noch Berlin. Der Machterhalt, die Fortsetzung der endlosen Reihung von solchen Farcen, wird sie jedesmal mehr an Energie und Einfluß kosten. Die Agonie ist sich über Jahre hinziehen, es ist durchaus wahrscheinlich, daß Frau Merkel bis zum Ende der Wahlperiode durchhält. Aber es ist ein System, dessen finale Agonie begonnen hat. Das einzige, was uns unter Frau Merkel noch ins Haus steht, ist das Siechtum ihrer Herrschaft.

INsofern ist der Blick in die Kristallkugel nicht völlig getrübt. Unklar ist nur, was die Folgen ihres Appells, "geben sie mir 14 Tage Zeit!" sein werden.




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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.