20. November 2017

Prankenhieb: Regiert werden um jeden Preis?


Denn die Liberalen und ihr Chef Christian Lindner sind damit nicht nur aus schwierigen Verhandlungen geflohen. Sie haben sich vor allem aus der Verantwortung für Deutschland gestohlen. Erst die Partei, dann das Land – das ist die Devise, nach der Lindner gehandelt hat. Er zeigt sich damit als verantwortungsloser und pflichtvergessener Politiker.
Quelle: shz.de (stellvertretend für eine Vielzahl ähnlich lautender Artikel).

Schon wieder so ein Weltuntergang. Staatskrise. Schaden an "unserem Land". In so schwierigen Zeiten (Trump, Flüchtlinge, AfD, Klima, Diesel, 1. FC Köln zwölf Spiele ohne Sieg) ist der Abbruch der Sondierungsgespräche (bin ich eigentlich der einzige, dem dabei die Assoziation der Magensonde, also einer künstlichen Ernährung von etwas, das allein nicht lebensfähig ist, auffällt?) durch die FDP - so ruft es aus allerlei Ecken - noch verwerflicher.

Nun kann die FDP ja bekanntlich machen, was sie will, eine gute Presse bekommt sie nie. Und so ist es auch kein Wunder, dass all diejenigen, die der Lindner-Truppe noch bis vor kurzem das Etikett der prinzipienlosen Umfallerpartei angehängt haben, nicht den Widerspruch zu dem sehen, was sie ihr jetzt vorwerfen. Geschweige denn zum ziemlich einhelligen Lob für die SPD, überhaupt nicht an den Verhandlungen teilzunehmen. Und es ist keine überbordende Spekulation anzunehmen, dass - wäre der Abbruch von den Grünen gekommen - die Reaktionen wohlwollender gewesen wären. Obwohl die Verhandlungsführung von Jürgen Trittin mittels Springerpresse auch nicht gerade die feine Art war. 

Nachdem Christian Lindner mit seinem Aphorismus "Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren" vor die Kamera getreten war, folgte die typisch deutsche Reaktion auf jegliche Art von Scheitern: Eine Dolchstoßlegende. "Im Felde unbesiegt" - nein, im Konferenzraum mit dem unsäglichen Balkon - die Einigung zum Greifen nah, und dann kommt der Verräter Lindner und schmeißt hin. Die Vizepräsidentin (C.R.) und der Teilverunsicherer (T.d.M.) liegen sich erschöpft in den Armen, unglaubliche Szenen spielen sich ab:
Die Grüne Claudia Roth, die über viele Stunden einen Kompromiss zur Migration auszuhandeln suchte, schaut erst grimmig. Dann umarmt sie CDU-Innenminister Thomas de Maizière. "Unverantwortlich", sagt Roth. "Manchen geht es eben nur um die Person oder die Partei, aber nicht ums Land oder Europa." Es gibt noch andere nächtliche Verbrüderungsszenen zwischen Schwarzen und Grünen. "Bier oder so?", fragt Schleswig-Holsteins grüner Umweltminister Robert Habeck den CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Kanzleramtsminister Peter Altmaier pflügt wie ein Schiff durch die Menschen, die jetzt ins Foyer strömen. Er geht schnurstracks auf Claudia Roth zu und streckt ihr die Hand entgegen. "Liebe Frau Roth", sagt er, "Sie waren großartig!" Roth kämpft mit den Tränen.
Nun gut, dass die Präferenz der CDU unter Merkel Richtung Grün gehen ist nix Neues, und trotz der Empörung mag vielleicht schon bei dem einen (Horst) oder der Anderen ein wenig Erleichterung mitgespielt haben, dass man, anstatt das Scheitern selbst einzugestehen, sich jetzt darauf konzentrieren kann, den Überbringer der schlechten Nachricht zu vierteilen.

Es ist ja überhaupt amüsant: Irgendwie wollte keiner - außer vielleicht Angela Merkel - die Jamaikakoalition haben. Instabil, chaotisch, kein klarer Wählerauftrag, mehr "weiter so" als ein Neuanfang. Begeisterung war nirgends. Aber gestern kurz vor Mitternacht. ist Jamaika plötzlich zum Herzensanliegen der veröffentlichten Meinung geworden. 

Ich erkläre mir das so: Im Gegensatz zu den liederlichen Anarchisten im Benelux ist der Gedanke, keine richtige Regierung zu haben, unerträglich, und zwar weltanschauungsunabhängig. Denn morgen fahren wieder Millionen von Dieseln, und bestimmt wird auch morgen ein neuer Lebensmittelzusatz erfunden, den man dringend verbieten und eine Moschee gebaut, die man dringend verhindern muss. Und darum schläft man schlecht, wenn man nicht das Gefühl hat, da ist eine Mutti (oder ein Basta-Gerd, ein Dicker, ein Alter, eine Schnauze oder ein Willi), der auch morgen wieder über uns wacht. Ja natürlich soll der vorrangig das verbieten und verhindern, was ich nicht haben will. 


Aber im Zweifel wollen viele lieber falsch regiert werden als gar nicht. Denn dann gibt es wenigstens einen Schuldigen am nächsten Weltuntergang. Ohne Regierung bliebe er einfach aus... 

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Meister Petz

© Meister Petz. Titelvignette: Christian Lindner im Münchner PresseClub (09/2017). Foto: Michael Lucan, Lizenz: CC-BY-SA 3.0. Für Kommentare bitte hier klicken.