7. Juni 2011

Literarische Randnotizen (2): Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Günter Grass (1980) kommentiert Thilo Sarrazin (2010) (Teil 2)

Gegen Ende der achtziger Jahre hörte ich einen Vortrag des Amsterdamer Demographen und Direktors des Netherlands Interuniversity Demographic Institute, Dirk van de Kaa, über die Bevölkerungsentwicklung in Europa. Seine Grafiken machten sinnfällig, daß die Geburtenrate in Deutschland weit unter derjenigen der anderen europäischen Länder lag. In der Diskussion fragte jemand, welche Erklärung die Demographie dafür hätte. Van de Kaa antwortete: "Nobody knows" - niemand wisse das.

Heute weiß im Grunde weiterhin niemand, warum Deutschland die niedrigste Geburtenrate der EU hat; und eine der niedrigsten der Welt. Berufstätige Frauen gibt es auch anderswo; auch in anderen Ländern fehlt es an Kinderkrippen und Ganztagsschulen. Am Geld, Kinder aufzuziehen, mangelt es im reichen Deutschland gewiß nicht. Sozioökonomische Faktoren reichen nicht aus, die deutsche Kinderarmut zu erklären. (Und es ist, nebenbei, bezeichnend, daß dieser Begriff inzwischen zunehmend in einer anderen Bedeutung verwendet wird).

Auch Thilo Sarrazin, dessen Bestseller des letzten Jahres "Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen" ja nicht die Einwanderung als zentrales Thema hatte, sondern die demographische Zukunft Deutschlands, läßt diese Frage unbeantwortet. Es geht ihm um die Folgen der geringen Geburtenziffer, nicht um ihre Ursachen. (Ich habe mich damals ausführlich mit diesem Buch und seiner Rezeption befaßt; Links zu den wichtigsten Artikeln finden Sie hier, hier und hier).



Im ersten Teil dieses Artikels habe ich ein Buch vorgestellt, das sich vor dreißig Jahren literarisch mit diesem Thema auseinandergesetzt hat: Günter Grass' "Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus". Es geht dort nicht um Krippenplätze und berufstätige Frauen, um die Notwendigkeit von Erziehungsurlaub oder dergleichen. Aber es geht dennoch um Geburten in Deutschland.

Die beiden "Kopfgeburten" des Autors Grass, das Lehrerpaar Harm und Dörte Petersen, quälen sich das ganze Buch über mit dem Problem, ob sie ein Kind haben wollen oder nicht. Sie diskutieren das aber nicht als eine praktische Frage, auch nicht im Hinblick auf ihre Gefühle - wollen täten sie schon -, sondern von höherer Warte aus: Ist es denn überhaupt moralisch gerechtfertigt, ist es politisch richtig, in Deutschland Kinder in die Welt zu setzen?

Da das Buch - siehe den ersten Teil des Artikels - zwischen den verschiedenen Erzählebenen irrlichtert, schaltet sich gelegentlich der Autor Grass selbst in diese Debatte ein; unter anderem mit einem radikalen Gedankenspiel. "Sollen sie doch aussterben, die Deutschen, von mir aus!", hatte Harm auf Seite 55 seiner Dörte an den Kopf geworfen, und das kommentiert nun Grass so:
Wäre das denn so schlimm? Sind denn nicht viele große Kulturvölker nur noch in Museen bestaunenswert? (...) Und könnte nicht die deutsche Sprache, wie heute das Latein der Römer, zur toten, aber doch zitierbaren Sprache werden? (...) Und kann nicht sein, daß erst nach dem Aussterben der Deutschen, ja, dank ihres Unterganges, die deutsche Kultur (und ihre Literatur) als ein vielfältiges Ganzes sichtbar und deshalb kostbar gehalten wird?
Später, auf Seite 95, wird Grass konkreter. Jetzt läßt er die Figur Harm eine ähnliche Idee kopfgebären, nachdem dieser sich in die Rolle eines "gesamtdeutschen Diktators" hineinsteigert hat:
"Freiwillig entschließt sich das deutsche Volk in beiden deutschen Staaten zum widerspruchslosen und sozial gesicherten, zum heiteren, jawohl zum heiteren, weil die Menschheit beglückenden Aussterben. Kein Kind wird mehr gezeugt. Jede versehentliche Schwangerschaft wird unterbrochen. (...) Nach biblischem Zeitmaß, also nach siebzig Jahren, und wenn es hochkömmt, nach achtzig, hat das deutsche Volk - und zwar hochgemut - aufgehört zu existieren. (...) Es lebe unser aussterbendes Volk!"
Gewiß, das ist eine (ironisch überzogene) Kopfgeburt von Harm, der seinerseits die Kopfgeburt von Günter Grass ist. Aber doch nur die Überpointierung dessen, was an durchaus ernsthaften Erwägungen das Buch durchzieht.

Dörte und Harm nämlich fragen sich wieder und wieder, ob sie in diese Welt, in dieses Deutschland zumal, überhaupt ein Kind setzen dürfen. Ihr Erfinder Grass hat sie nicht zufällig in Itzehoe angesiedelt, nahe dem KKW Brokdorf, dessen Bau damals heiß umkämpft war. Natürlich sind die beiden Lehrer Gegner der Kernkraft. Natürlich haben sie vor der Baustelle Brokdorf mitdemonstriert. Und Grass teilt uns über das Kind, das die beiden vielleicht bekommen wollen, auf Seite 78 mit, daß seine
ohnehin fragwürdige Existenz nun auch und immer mehr auch von der Kernenergiefrage abhängt: "Vom nächsten Schnellen Brüter an, der gebaut wird, ist bei mir jedenfalls, was das Kind angeht, der Ofen aus".
Das sagt Harm. Über dergleichen reflektieren die beiden immer wieder. Auf Seite 29 erfahren wir, daß Dörte bereits einmal abgetrieben hat, weil sie "nicht bereit war, ein Kind, 'mein Kind in diese zunehmend von Kernenergie verseuchte Welt zu setzen'". Und überhaupt die politische Lage in Deutschland, wo Franz-Josef Strauß Kanzler werden kann! "Das hängt jetzt alles vom Wahlausgang ab", sagt Dörte auf Seite 169. "Unter Strauß jedenfalls setz ich kein Kind in die Welt".



Im ersten Teil habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß Harm und Dörte im Jahr 1980 die Repräsentanten eines bestimmten Milieus waren: Akademiker, in den Dreißigern, Achtundsechziger, SPD-Genossen. Jetzt, dreißig Jahre später, würden sie nicht mehr ein Milieu repräsentieren, sondern Deutschland.

Einige Jahre vor dem Erscheinen der "Kopfgeburten" hatte Richard Dawkins den Begriff des Mems eingeführt - eine kulturelle Gedankeneinheit; ein Konzept analog zum Gen als einer Einheit der biologischen Evolution. Wie Gene haben nach Dawkins Meme die Möglichkeit, weitergegeben zu werden oder unterzugehen; wie bei Genen hängt das davon ab, wie günstig die Bedingungen für ihre Reproduktion sind.

Meme genießen in unserer Gesellschaft umso günstigere Bedingungen für ihre Reproduktion, je mehr sie sich in den Köpfen von Multiplikatoren aufhalten - also von Professoren, von Lehrern, von Buchautoren und vor allem von Medienschaffenden jeder Art. Durch diese Überträger haben sich die Meme, wie sie Grass' Kopfgeburten Dörte und Harm in sich trugen, im Lauf der dreißig Jahre in alle Milieus hinein ausgebreitet. So, wie Harm und Dörte Petersen damals dachten, denken heute viele Deutsche, vielleicht schon die meisten.

Das gilt - wir erleben es in diesen Tagen - für die nachgerade religiöse Ablehnung der Atomenergie. Es gilt ebenso für die politische Grundhaltung. Jemand wie Franz-Josef Strauß wäre heute als Kanzlerkandidat der Union ungefähr so wahrscheinlich wie Sarah Wagenknecht als Chefin der Deutschen Bank. Und es gilt eben auch für die Haltung zu der Frage, "ob man Kinder in diese Welt setzen darf".

Schon die Frage selbst wäre den Angehörigen fast aller Kulturen zu fast allen Zeiten absurd erschienen. Nicht nur, weil sie nicht über die heutigen Möglichkeiten der Kontrazeption verfügten; sondern vor allem deshalb, weil man die Reproduktion so wenig in Frage stellte wie das Essen und das Trinken.

Ja, selbstverständlich hatte man Kinder. Ein Problem entstand nur dann, wenn es mit dem Kinderkriegen nicht klappte. Auch heute noch ist das weltweit so; mit wenigen Ausnahmen: Zum einen Ländern wie China, in denen der Staat die Reproduktion zu steuern versucht. Und zum anderen eben Länder des Westens, in denen immer mehr Menschen sich gegen die Reproduktion entscheiden; in denen ihre Entscheidungen in der Summe dazu führen, daß die Geburtenziffer unter das für eine Reproduktion erforderliche Maß absinkt.

Dabei spielen Momente der Lebensplanung eine Rolle, der Karriere, des Lebensstandards. Aber - ich habe das im ersten Teil ausgeführt - sie erklären nicht die besondere Lage Deutschlands, was die Geburtenziffer angeht. Diese scheint mir vielmehr auf ein Harm-und-Dörte - Syndrom zurückzugehen:

Dank der Meme, die heute in unseren Köpfen sitzen, fehlt es uns Deutschen an Vertrauen in die Zukunft. Wir sind ein ängstliches Volk, ein Volk von Bedenkenträgern und Sorgenvollen geworden; nicht ohne damit manches aus unserer nationalen Tradition wieder aufzunehmen.

Wenn im fernen Japan ein KKW eine Havarie erleidet, dann trifft uns das ins Mark, so wie Harm und Dörte an Brokdorf litten. Wir haben Angst, Kinder in die Welt zu setzen; so, wie wir Angst haben, verstrahlt zu werden. Dieses Deutschland, das sich nicht einmal traut, wie jede andere Land seine Einwanderer zu assimilieren, glaubt nicht an sich selbst. Wie sollten Deutsche da an eine Zukunft für ihre - für ihre etwaigen! - Kinder glauben?

Für den geplanten (und, wie gesagt, nicht realisierten) Film über Dörte und Harm Petersen hat sich Grass eine Schlußszene ausgedacht, die auch den Schluß des Buchs bildet: Die beiden sind mit ihrem "seit Referendarzeiten gepflegten VW" unterwegs. Auf einer Nebenstraße läuft ihnen ein Türkenjunge vor das Auto, aber dank scharfen Bremsens passiert ihm nichts. Und dann
kommen aus Nebenstraßen und Hinterhöfen, von überall her immer mehr Kinder, die alle fremdländisch sind. Indische, chinesische, afrikanische, heitere Kinder. Sie beleben die Straße, winken aus Fenstern, springen von Mauern, werden zahllos. Alle feiern den kleinen Türken, der nochmal Glück gehabt hat. Sie umdrängen, betasten ihn. Sie klopfen den gut erhaltenen VW ab, in dem unser kinderloses Lehrerehepaar sitzt und nicht weiß, was sagen auf deutsch.
Zettel



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