24. Juni 2011

Kurioses, kurz kommentiert: Wovon ist hier die Rede? Nebst einem Nachtrag

Niemand will den deutschen Arbeitnehmern ihren über Jahre hart erarbeiteten Erfolg nehmen. Sie sollen auch vom Aufschwung profitieren. Doch inmitten der Euro-Krise (von der wir noch nicht sicher sein können, dass sie gut ausgeht) Geschenke zu verteilen, ist zu früh. Sagt es doch: Wir haben's reichlich, wir geben's nur nicht jedem.

Karsten Polke-Majewski in "Zeit-Online", dessen stellvertretender Chefredakteur er ist.


Kommentar: Wovon, denken Sie, ist hier die Rede? Spricht sich der Autor gegen Lohnerhöhungen für den deutschen Arbeitnehmer aus, die er als "Geschenke" ablehnt? Denkt er dabei an griechische Arbeitnehmer, die im Gegenteil - jedenfalls sofern im Staatsdienst - mit Lohnkürzungen rechnen müssen?

Ach nein. Mit "Geschenken" an "Arbeitnehmer" meint Polke-Majewski die von der Koalition nach Medienberichten ins Auge gefaßten Steuersenkungen. Sie sollen, wie es heißt, vor allem die Steuerlast von Steuerpflichtigen mindern, die von der sogenannten "kalten Progression" oder dem "Mittelstandsbauch" betroffen sind; die also allein aufgrund der allgemeinen Einkommensentwicklung innerhalb der Progressionszone nach oben wandern.

Ein solches Stück mehr Steuergerechtigkeit - oder sagen wir ein Stücklein; denn viel wird es bei einem Gesamtvolumen von (laut den Berichten) zehn Milliarden Euro ja für den Einzelnen nicht werden - sieht der stellvertretende Chef von "Zeit-Online" als ein "Geschenk" an, das der gütige Staat gewähren würde.

Und wem soll da nach Meinung von Polke-Majewski etwas geschenkt werden? Nicht etwa den Steuerbürgern, sondern den "Arbeitnehmern". Daß sich im Bereich der kalten Progression auch viele kleine Selbständige und Freiberufler befinden, ignoriert der Autor. Es scheint, daß es für ihn in den mittleren Einkommensgruppen nur Lohnabhängige gibt.

Kurios, finden Sie nicht? Wenn der Staat seinen Bürgern etwas weniger Geld aus der Tasche zieht, dann sieht das Polke-Majewski als ein Geschenk an, das er ihnen zuteil werden läßt. Und die Gesellschaft stellt sich ihm zweitens als ein Oben und Unten dar, wobei unten nur die Lohnabhängigen und oben die Selbständigen sind. Jedenfalls muß man das aus seiner Formulierung schließen.

Vielleicht ist das aber doch auch wieder nicht kurios. Denn beide Sichtweisen fügen sich zu Teilen eines Gesellschaftsmodells zusammen, in dem der Staat grundsätzlich ein Anrecht auf das Geld "seiner Menschen" hat, von dem er ihnen - als "Geschenk" - einen Teil läßt; und in dem "wir da unten" die Lohnabhängigen und "die da oben" die Selbständigen sind.

So zu denken ist nicht kurios, sondern sozialistisch oder, wenn man dieses Wort vorzieht, sozialdemokratisch. Kurios ist allerdings, daß ein Leitender Redakteur der Internetausgabe eines liberalen Blatts diese Sichtweise hat.

Oder auch wieder nicht kurios.

"Liberal und unabhängig" hat Ralf Dahrendorf einst "Gerd Bucerius und seine Zeit" genannt. Diese Zeit freilich ist lange her. Und die "Zeit" ist nicht mehr das Blatt, das Gerd Bucerius 1946 mit anderen Liberalen wie Ewald Schmidt di Simoni und Richard Tüngel gründete und dessen Linie von liberalen Publizisten wie Marion Gräfin Dönhoff und Theo Sommer geprägt wurde. Die "Zeit" und ihr Online-Ableger sind heute Medien, in denen Polke-Majewskis Vorstellung von Staat und Gesellschaft keineswegs minoritär ist.



Nachtrag am 25. 6., 17.30 Uhr: Erst jetzt habe ich erfahren, daß Eva Ziessler schon am Donnerstag in ihrem Blogartikel "Steuersenkungen oder: Orwells Geschenk" denselben Gedanken entwickelt hat. Ich möchte Sie auf diese schöne Glosse aufmerksam machen und zugleich Eva Ziesslers Blog empfehlen.
Zettel



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