Jean Ray, „Der Klub der Hundertjährigen“ (1964)
Als mein Großonkel sein fünfundneunzigstes Lebensjahr erreicht hatte, gründete er den „Klub der demnächst Hundertjährigen.“ Zu den Mitgliedern gehörten Martin Cobb, Jack Salwin, bob Raven, Ben Hass und mein Onkel Tim. Vom Alter her unterschieden sie sich nur in wenigen Monaten, und Onkel Tim wurde zum Vorsitzenden gewählt, weil es seine Idee gewesen war.
Er ließ mich zu sich kommen und sagte:
„Thomas: die Regeln unseres Klubs sind schlicht und einfach. Im Grunde gibt es nur eine einzige. Jedes der Mitglieder vermacht mit seinem Tod den Überlebenden etwas Wertvolles. Um was es sich dabei handelt, haben wir bereits festgehalten:
„Martin Cobb: ein Bauernhof mit Viehbestand.
„Jack Salwin: ein Landsitz.
„Bob Raven: sechs Rennpferde.
„Ben Hass, der Kunstsammler ist: ein Selbstbildnis von Rembrandt.“
„Und du selber, Onkel?“ fragte ich.
Der alte Mann bedachte mich mit einem schalkhaften Zwinkern.
„Meinen gesamten Besitz, Tom. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde es noch erleben, wenn man sie beerdigt. Ich werde nämlich hundert.“
„Bist du dir da so sicher?“ fragte ich.
„Ganz sicher. Schau mal: Martin Cobbs Herz fängt an, ihm Beschwerden zu machen; Salvin hustet, daß man davon taub werden könnte; Raven plagt die Gicht und Ben Hass schmilzt jeden Tag mehr dahin als Schnee auf einem heißen Ofen. Ich dagegen …“
Er klopfte sich auf die Brust und zwinkerte mir nochmals zu. Ich mußte zugeben, daß er für sein Alter noch verflixt gut aussah.
„Versteh‘ mich richtig,“ fuhr er fort. „Ich muß es nur so lange aushalten, bis ich die Hundert erreicht habe – und alle diese Schätze sind meine. Und wenn ich dann den Löffel abgebe, wer erbt alles? Wer anders als mein treu ergebener Neffe, Thomas Isidorus Trent?“
„Großartig,“ sagte ich.
„Jetzt mußt du nur noch dafür sorgen, daß ich es soweit bringe. Es liegt ganz in deinem Interesse.“
Das begriff sogar ich, und ich traf unverzüglich Vorkehrungen, damit Onkel Tim dieses hohe Lebensalter erreichen würde.
Ich ließ sein Zimmer gemütlich herrichten, kaufte ihm einen neuen Sessel, und ein gutes, teures Bett mit Daunendecken. Ich sorgte für schlichte, aber erlesene Mahlzeiten, und wenn er einen Wunsch äußerte, erfüllte ich ihn, ohne mich jemals darüber zu beklagen.
Onkel Tim erwies sich als guter Prophet: im Verlauf der folgenden fünf Jahre starben die anderen vier Klubmitglieder, und er blieb als einziges übrig.
„Tom,“ sagte er, als der letzte von ihnen gestorben war, „ich werde die Hinterlassenschaften meiner Freunde nicht anrühren, denn ich habe beschlossen, daß sie ganz und gar dir zukommen sollen. Wenn meine letzte Stunde geschlagen hat, dann geh bitte zu Encke, dem Notar. Er hat den Auftrag, die Angelegenheit mit dir ins Reine zu bringen.“
Onkel Tim hielt noch zwei weitere Jahre durch, denn ich pflegte ihn, sosehr ich konnte. Er starb wenige Wochen nach seinem hundertsten Geburtstag, und ich sorgte für eine sehr nette Beerdigung.
Dann machte ich Rechtanwalt Encke meine Aufwartung.
„Ein Hof mit Vieh, ein Landhaus, ein Selbstbildnis von Rembrandt: das steht Ihnen in der Tat zu, Mister Trent,“ sagte er.
Dann schellte er, und ein Angestellter brachte die Nachlässe des „Klubs der Fünf“ herein: eine Spielzeugdose, in der sich ein Bauernhof und ein paar Kühe und Kälbchen aus Holz befanden, eine Puppenstube, vor der ein paar Bäume standen, sechs Pferdchen aus Zinnguß, und ein Reklameschild für Worcestersauce, auf der ein Selbstbildnis von Rembrandt zu sehen war.
„Und was ist mit dem gesamten Besitz von Timotheus Trent?“ rief ich.
„Der ist hier,“ sagte der Rechtsanwalt und holte aus einer Schublade seines Schreibtisches ein Buch hervor.
Mechanisch nahm ich es an mich und las den Titel: Das Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam.
* * *
Jean Ray, „Die Wahrheit über Onkel Timotheus“ (1944)
„Es zeigte so wenig Überraschendes, so wenig Geheimnis war um ihn, daß er von den Leuten verachtet wurde, und doch schätzte man ihn und respektierte ihn.“ – Oskar Panizza, „Visionen der Dämmerung“
Zum sechsten Mal an diesem Abend fuhr sich mein Onkel Timotheus Forceville durch seine dürre Haarpracht und rief zum sechsten Mal: „Das geht entschieden zu weit! Da mache ich nicht mehr mit, Herr Pertwee!“
Unter dem grasgrünen Schirm der Lampe tanzten die Stricknadeln meiner Tante Sophronia ein stählernes Menuett, Sipp, der Kanarienvogel, unterbrach seine Triller und rieb seinen Schnabel an den versilberten Stäben seines Käfigs; draußen heulte der Novemberwind.
„Dick,“ sagte meine Tante und warf mir einen strengen Blick zu, „lieber Junge, ich hoffe, daß du da in einem guten Buch liest.“
„Gedichte von Coleridge,“ antwortete ich knapp, denn ich langweilte mich fürchterlich.
„Das ist eine anständige Lektüre,“ kam mir mein Onkel zu Hilfe. „Als ich noch jung war, hab‘ ich den ‚Alten Seefahrer‘ dieses ehrwürdigen Dichters deklamiert und damit einigen Erfolg errungen.“
„Timotheus, laß dich nicht von deiner Arbeit abhalten“ sagte meine Tante
„Du hast recht, Liebling,“ gab der alte Mann nach, “diese Arbeit ist tatsächlich wichtig. Weißt du, daß der Tonkrug, auf dem der Name Samuel Pertwee zu lesen ist, in den Berichten für dieses Jahr verzeichnet ist?“
„… die Insel Staffa liegt auf dem siebenundfünfzigsten nördlichen Breitengrad, sechzehn Meilen von der Insel Mull entfernt. Sie gehört zur Inselgruppe der Südlichen Hebriden und verdankt ihren Ruhm der berühmten Fingalshöhle, ein Name, der ‚die singende Grotte‘ bedeutet…“
„Bis zu diesen Punkt bin ich damit einverstanden. Ich hätte nur einen Einwand: ‚wohlklingende Grotte‘ wäre eine bessere Wortwahl gewesen.“
„Bis zum Jahr 1772 hatte kein Mensch einen Fuß auf diese abgelegene, unzugänglich Insel gesetzt, und diese Ehre gebührt Josiah Banks, einem der Weggefährten von Cook, der uns eine genaue Beschreibung davon gegeben hat, die allerdings nicht sehr abschreckend wirkt.“
„Und hier, Herr Pertwee, muß ich Einspruch erheben. Im Jahr 1768 wurde ein Seemann mit einem ausgezeichneten Ruf nach Staffa ausgeschickt und verblieb dort drei Tage lang, in denn er die Insel genau in Augenschein nahm. Dieser rechtschaffene Mann trug den namen Edward-Huxam Forceville.“
„Ein Pirat!“ brummte meine Tante.
„Ich bitte um Nachsicht, meine Liebe: ein Freibeuter, ein, der im Besitz eines Kaperbriefs mit dem Siegel seiner Majestät war und dessen Schiff, die ‚Red Sail,‘ unter der Flagge des Königs fuhr. Aber gleich ob Pirat oder Seeräuber – dieser Ururgroßvater von ehrwürdiger Herkunft war der tapfere Entdecker. Und dieser Dummkopf von Pertwee weist sie Joshua Banks zu – zum Teufel mit dem gewöhnlichen Namen! - er war der erste, der seinen Fuß, der den unheimlichen Boden der Insel Staffa betreten hat. Ich kann es beweisen, und ich werde es jedem beweisen, der mir zuhört.“
Der Wind blies jetzt mit doppelter Stärke und begann einen Offensive gegen die geschlossenen Fensterläden; Sipp ließ von seinen Käfigstangen ab und fing an, eifrig seinen Futternapf leer zu picken: ein Regen von Buchweizenkörnern ergoß sich über die Strickarbeit meiner Tante.
“Ach, dieses kleine Ferkel!“ regte sich die brave Frau auf.
Bessie Barkis, das Dienstmädchen, stieß die Tür auf; in ihren ausgestreckten Händen trug sie ein großes Tablett mit Gläsern, aus denen der Punsch dampfte.
Meine Tante stand auf und raffte ihr Strickzeug zusammen.
„Ihr könnt gerne noch eine Pfeife rauchen,“ sagte sie zu uns. „Aber trinkt und redet bitte nicht so lange, bis es schändlich spät geworden ist.“
Sie gab ihrem Mann einen flüchtigen Kuß auf die Stirn, reichte mir ihre Fingerspitzen und wünschte uns eine gute Nacht.
Die Uhr auf dem Turnbull Market ließ zehn Schläge hören, während ein Waffelverkäufer, der dem Wind und den Sturzbächen trotze, in der Ferne mit brechender Stimme seine faden Süßigkeiten den Schatten am Straßenrand feilbot.
Mein Onkel legte seinen Stift ab, schob seine Bücher und Papier zur Seite und sprach wie ein wahrer Feinschmecker dem gesüßten Wein, dem Zimt und Ingwer zugefügt worden waren, zu.
Ich tat es ihm nach und stopfte schweigend dann meine rote Tonpfeife. Mein Onkel lehnte mit einer Geste den Tabaksbeutel aus Schweinsleder ab, den ich ihm abnot, und drehte den Kopf lauschend in Richtung der Haustür.
„Ich weiß nicht, ob ich noch Freude daran hätte, Coleridge wieder zu lesen,“ sagte er laut, „ehrlich gesagt, ziehe ich Southey vor, denn ich ertrage diese Angeberei nicht mehr…“
Er unterbrach seinen angefangenen Gedankengang.
„Das ist Bessie, die aus der Küche kommt. In fünf Minuten wird sie wie ein Brummkreisel schnarchen. Deine Tante ist jetzt oben in ihrem Schlafzimmer. … Hast du die Karaffe vorbereitet?“
„Orangenblüten und eine doppelte Prise.“
„Gut. Alle Kanonen der Flotte würden sie nicht aufwecken. Steck dir noch eine Pfeife an und trink noch einen Brandy. Du findest ihn hinter den Stapel mit der Contemporary Review von Straham, in der Bibliothek. Ich habe noch ein paar Minuten Zeit.“
Onkel Tim zog aus seinem Blätterstapel eine kleines Heft hervor, in dem er aufmerksam zu blättern begann.
„Cynanthropie,“ sagte er unvermittelt. „Was weißt du von diesem Thema?“
„Cynanthropie ist die Bezeichnung für die Geisteskrankheit, wenn sich Schwachsinnige einbilden, daß sie in einen Hund verwandelt worden sind.“
„Und wie benehmen sich diese Schwachsinnigen, wie du sie so nett nennst?“
„Sie bellen den Mond an und wenn sie schlecht gelaunt sind, beißen sie auch.“
„Sehr gut. Jetzt rauch deine Pfeife und nimm noch einen Schluck.“
„Ist es wirklich nötig … daß ich mitkomme?“ fragte ich zögerlich.
“Hm – nein – in einer halben Stunde wird das Wetter verflucht schlecht sein; der Wind steht verkehrt, und dann wird kein Hund mehr auf der Straße sein.
“In dem Fall warte ich lieber hier auf dich,“ gab ich zur Antwort.
Er zuckte mit den Schultern und in den Falten, die sich um seinen Mund zogen, vermeinte ich gleichzeitig Ironie und Geringschätzung abzulesen.
„Es stimmt schon, du bist da draußen keine große Hilfe,“ sagte er langsam, „aber ich hatte gehofft, daß du dich im Lauf der Zeit …“
Ich schüttelte heftig den Kopf.
„Ich habe wirklich kein Interesse daran,“ brummte ich.
Onkel Tim legte sein Heft wieder auf den Tisch und ging in die Bibliothek hinüber, wo er die großen Bänder der Encyclopedia Britannica aus dem Regal räumte. Kurz darauf htate er eine schwarze, wasserdichte Regenjacke angezogen, trug eine Art Südwester aus dunklem Leder auf dem Kopf und überprüfte mit kritischem Blick eine kleines Blendlaterne.
“Ich frage ich, wie du mir auf die Schliche gekommen bist,“ sagte er nachdenklich. „Schließlich bis du sonst nicht der Hellste…“
„Na dann,“ kicherte ich und genehmigte mir einen Schluck seines hervorragenden Brandy, „immerhin weiß ich es jetzt.“
„Vielleicht war es ja Absicht von mir. Oder es hat mir Spaß gemacht,“ antwortete mein Onkel Tim leise.
„Nein,“ sagte ich mürrisch. „An jenem tag hast du ausgesprochen schlechte Laune gehabt. Oder genauer: an jenem Abend, als …“
„Bis später. Ich bin um Punkt zwei Uhr wieder zurück.“
Ich mußte lachen.
„Es würde weniger Zeit kosten, um mit dem Sultan der Türkei in seinem Palast, wo immer der auch liegen mag, abzurechnen. Und der alte Hundringhan wohnt keine zehn Schritte von hier.“
„Hundringham?“ fragte Onkel, während in seinen Augen ein Funkeln aufschien.
„Soweit ich weiß, ist er der einzige, der unter Cynanthropie im letzten Stadium leidet.“
„Ich habe noch eine Abrechnung mit ihm offen,“ antwortete mein Onkel. „als er noch nicht im Wahn lebte, daß er ein Wolfhund wäre, war er ein ganz forttrefflicher Zeitgenosse und ein guter Nachbar.“
* * *
Nach all diesem glauben Sie jetzt sicher, daß Sie die Wahrheit über der ehrwürdigen Timotheus Forceville kennen, Friedensrichter im guten Städtchen Weston, Verfasser achtbarer Broschüren zur Beförderung des Fremdenverkehrs und einer Studie über die Kristallbildung in den Felsformationen der Cumbrischen Berge.
Ein nächtlicher Einbrecher, womöglich gar ein Mörder?
Ach, ihr lieben Unwissenden, wie weit seit ihr doch von der furchtbaren Wahrheit entfernt!
Das Krankenhaus von Weston liegt am Ende der Caister Street, und grenzt an die Gemeindeweide. Es ist ein kleines Gebäude im schlechten Stil der Tudorzeit, und den Giebel schmücken – meine Güte, welch eine ironische Bezeichnung! – einige Statuen, die Schüsseln tragen und die eine entfernte Ähnlichkeit mit den vier Damen Bricklayer aufweisen, die dieses Todesasyl gestiftet haben.
Ich muß feststellen, daß die Einwohner von Weston sich einer hartnäckig guten Gesundheit erfreuen und sich beharrlich weigern, an einem anderen Tod als unter ihren eigenen Federbetten und vornehmen Laken aus dem Leben zu scheiden! Es sind nur ein paar arme Teufel, die es als ihre Pflicht ansehen. Ihr Leben im Bricklayer-Asyl auszuhauchen, weil es unter ihrer Würde ist, auf den Straßen oder unter den Brücken, die über die Ribble führen, zu sterben.
Ich hatte damals mein glänzendes Studium der Medizin in London beendigt. Harvey Street war stets des Lobes für mich voll, und der alte Löwe Doves, der heute als heller Stern am Himmel der Medizin unserer Tage leuchtet, brummte in seinen Bart: „Ich weiß nicht … wenn Richard Forceville etwas älter ist, könnte er mein Nachfolger werden.“
Dann passierte die schmutzige Geschichte.
… Zwei Jahre im Zuchthaus von Pentonville … die Tretmühlen … die Schuhe aus dünnem Stoff … die Wassersuppe mit grauen Linsen … die große Zahl, die mit schwarzer Tinte auf den groben Stoff der Jacke aufgemalt war … Bah!
Ich kam am Abend in Weston an, beim Platzregen, mit zwei Shilling in der Tasche. Tante Sophronia fiel in Ohnmacht, Bessie Barkis kündigte beinahe den Dienst. Mit zitternder Stimme verwendete sich Onkel Tim für mich.
„Er ist ein Forcevlile. Er wird dafür sorgen, daß wir vergessen, was passiert ist .. Ich habe ein paar Verwandte und ein wenig Einfluß.“
Ich wurde Assistenzarzt bei Doktor Pulley, dem Leiter des Bricklayer-Asyls, ein alter Narr, der dem schlechten Whisky verfallen war.
Bah! Meine Arbeit war nicht schwer: die Menschen kamen – manche eher, manche später – allein ins Krankenhaus, um dort zu sterben.
* * *
Meine Doktorarbeit, die ich leider nie beendet habe, trug den ziemlich gewöhnlichen Titel: „Das orphische Leben und die grundlegende Erkenntnis des Todes.“ Doves, der die ersten Seiten davon gelesen hatte, hatte mich mit einem stechenden Blick bedacht, während der wie ein altes wildes Tier knurrte.
„Zum Teufel, Freundchen, Sie wagen sich hier an die gefährlichsten Grenzen der Erkenntnis!“
Mit seinem braunen Fingernagel hatte er zornig auf die letzte handgeschriebene Zeile gezeigt.
„Beim Tod handelt es sich um eine materielle und intelligente Erscheinung, die mit Willenskraft und einer Persönlichkeit ausgestattet ist.“
„Ich hoffe,“ sagte er, „daß es sich hier um das Zitat eines Propheten oder eines Hellsehers handelt, denn andernfalls …“
„Morgen rechne ich mit Beweisen, die nicht zu widerlegen sein werden,“ antwortete ich.
Ich beugte mich vor und ich erzählte ihm Genaueres und ich legte ihm diese Beweise vor.
„Forceville, Sie sind mit dem Teufel im Bunde!“ schrie er. „Es tut mir außerordentlich leid, daß wir uns nicht mehr im sechzehnten Jahrhundert befinden. Dann hätte es mir eine ungeheuer Freude gemacht, Sie vor die Richter des Obersten Gerichtshofs zu bringen, und dann wäre Ihnen lebendig die Haut abgezogen und Sie anschließend in Tyburn verbrannt worden, als der abscheulichste Schwarzkünstler der Welt!“
Aber meine Pläne erfüllten sich nicht: das Zuchthaus in Pentonville setzte meinen Studien und meiner feurigsten Hoffnung ein Ende.
* * *
Im Bricklayer-Krankenhaus verdiente ich achtzehn Shilling in der Woche, um die Menschen sterben zu sehen und ihre Totenscheine auszufüllen. Ihre letzten Krankheiten und ihr Tod waren mir gleichgültig kalt und ich entwickelte kein Interesse für einen der Patienten, gleich um wen es sich handelte – bis zu dem Tag, als eine Ambulanz der Polizei Jonathan Wakes bei uns einlieferte.
Er war ein merkwürdiger Mensch, dessen Gesicht im Profil verblüffend an einen Raubvogel erinnerte. Er war im Hafenviertel gefunden worden, wo er zwischen den Baumwollballen wie ein Tier auf der Flucht zusammengebrochen war.
Wir konnten kein Leiden bei ihm feststellen, aber trotzdem starb er.
Das Leben floß aus seinem Körper wie Wasser, das aus einem gesprungenen Krug rinnt.
Pully, der, wie ich zugeben muß, nicht völlig verblödet war (wenn er denn einmal nüchtern war), hatte seinen ungewaschenen Kopf geschüttelt und gebrummt: „Ich möchte doch zu gern wissen, woran der blöde Kerl da gerade krepiert. Junger Forceville, finden Sie das bitte heraus. Für mich ist das nichts.“
Zu meiner Enttäuschung mußte ich aber ebenfalls passen.
An jenem Abend begann der Todeskampf von Wakes.
Ich setzte mich an das Kopfende seines Bettes und während ich dort Wache hielt, wiederholte ich mir wie ein Mantra der Hilflosigkeit: „Seine Organe sind in Ordnung, keine einzige vitale Funktion ist beeinträchtigt … und trotzdem stirbt er.“
Und mit einem Mal fiel mir der letzte Satz aus meiner Doktorarbeit wieder ein:
„Der Tod ist eine materielle und intelligente Erscheinung, die mit Willenskraft und einer Persönlichkeit ausgestattet ist.“
Vor Freude stieß ich einen lauten Schrei aus: „Verdammt noch mal! Das ist der Tod, der ihn holen will!“
Und ich ballte die Hände zu Fäusten und rief. „Und jetzt zu uns beiden!“
In jenem Moment vernahm ich ein leises Geräusch.
Das Nachttischchen, das am Kopfende des Bettes stand, hatte sich soeben in Bewegung gesetzt, ich sah, wie das Glas und die Wasserkaraffe, die darauf standen, schwankten, dann kippte das Glas um und stürzte auf den Steinboden, wo es in Scherben zerbarst.
Ich befand mich allein im Raum, mehr als drei Schritte von dem Möbel entfernt. Und der Sterbende hatte keine Bewegung gemacht.
Ich rührte mich nicht. Ganz im Gegenteil: ich tat so, als würde mich das alles nicht interessieren. Ich gähnte und ließ mich auf meinen Stuhl fallen wie ein Mann, der es sich gemütlich macht, um ein Nickerchen zu machen. Wakes lag regungslos auf dem Bett; er erinnert an einen Grabstein in einer Kirche. Ich hielt meine Augen halb geschlossen, aber unter den Lidern hielt ich meinen Blick fest auf ihn gerichtet.
Dann entstand eine Bewegung auf der Bettdecke. Fast sah es so aus, als ob dort eine große, schlüpfrige Schlange vorwärtskriechen würde, die langsam auf die Kehle des Sterbenden zukroch.
Deutlich konnte sehen, wie sich die Erscheinung bewegte. Plötzlich öffnete Wakes seine großen Augen: in ihnen war Furcht zu lesen. In diesem Moment sprang ich auf.
Blitzschnell schlug ich mich der Hand nach der unsichtbaren, kriechenden Gestalt und ergriff …
Ja, ich umklammerte etwas, das vorhanden war, etwas, das lebte … vielleicht eine Hand. Sofort entstand ein Kampf.
Unsichtbare Arme versuchten mich zu packen, ein Fuß trat mir hart gegen die Waden, dann kratzte mir etwas im Gesicht. Aber mit grimmiger Genugtuung merkte ich, daß ich stärker war. Ich war dabei, den Kampf gegen das unsichtbare Etwas zu gewinnen.
Plötzlich drang eine klägliche Stimme an mein Ohr: „Nein! Dick ... ich kann das nicht! Nicht dich!“
Ich erkannte die Stimme und glaubte in Ohnmacht zu fallen.
„Onkel Tim!“ schrie ich.
Wie aus weiter Ferne hörte ich einen Donnerschlag und Onkel Tim stand vor mir, in schwarz gekleidet und sehr bleich.
„Onkel Tim,“ flüsterte ich, „dann bist du…“
„Das bin ich.“
„Der Tod?“
„Ja.“
* * *
Wenn ich behaupten würde, daß mein Onkel Timothy Forceville mir das ganze Geheinmis seiner Natur, seiner Macht, seines Auftrags enthüllt hätte, würde ich lügen. Er hat er damit begonnen, und ich weiß erst sehr wenig darüber, denn es übersteigt den schärfsten und klügsten Menschenverstand.
Wenn er selbst höchstpersönlich eingreift, dann liegt der Grund darin, daß es Menschen auf der Welt gibt, die schwer zu töten sind; sie sind von Natur aus unsterblich. Zum Glück „wissen“ sie nichts davon. Das ist alles.
Ein Ungeheuer in zahllosen Gestalten, und im Sinne des Wortes allgegenwärtig. Timothy Forceville ist dabei, wenn ein Kuli in Shanghai stirbt und im selben Moment ein Indianer im hohen Norden, während er gleichzeitig aufmerksam den Klagen von Frau Ruff lauscht, die von ihrem Mann verprügelt und im Elend zurückgelassen wurde. Was hat er vor, wenn er mich mitunter mitnimmt an die Orte, an denen er seiner nächtlichen Pflicht nachkommt?
Langsam „weiht er mich ein“ – ohne daß ich es recht begreife. Er erweckt in mir eine seltsame, eine schreckliche Kraft. Manchmal, wenn wir allein sind und er seine Arbeit an seinen Broschüren für die Fremdenverkehrswerbung für einen Augenblick unterbricht, lädt er mich ein, mit ihm ein Gläschen Branntwein zu trinken und dann nennt er mich lachend „den Herrn Stellvertreter des Todes.“
Einmal habe ich unverblümt gefragt: „Und was ist mit Gott?“
Er antwortete leise: „Das muß ‚mit den Göttern‘ heißen, denn es gibt viele von ihnen. Sie sterben, denn die Zeit arbeitet gegen sie.“
„Und die Zeit?“
„Wenn du erst einmal alles weißt, wird die Schöpfung für dich kein einziges Geheimnis mehr bewahren. Aber bis dahin müssen wir uns an diese Götter halten, wer immer sie auch sein mögen. Sie fürchten uns sehr, denn wir können ihnen keinerlei Hoffnung bieten.“
Diese merkwürdige Mehrzahl, die er hier gebraucht, erfüllt mich mitunter mit Stolz, aber auch mit Angst.
Ich würde ihn gerne dazu näher ausfragen – aber dann vertieft er sich von neuem in seine Papiere und ruft wieder: „Dieser Esel von Pertwee! ... Sein Vortrag über die Geschichte von Dumfrees wimmelt nur so von Fehlern!“
* * *
I.
Daß Autoren - oder „schreibende Menschen“ (in diesem Metier wirkt die zeitgeistlich verordnete substantivierte Verlaufsform ausnahmsweise einmal nicht als eine unfreiwillige Selbstparodie *) – sich bei Verfassen ihrer Texte einer anderen Sprache als ihrer Muttersprach bedienen, ist kein neues Phänomen. Es mag das Erbe von alten Kolonialreichen sein (dem sich der Umstand verdankt, daß Autoren in Indien ihre Bücher in aller Regel auf Englisch verfassen; oder afrikanische wahlweise auf Englisch oder Französisch). Oder dem Ansehen einer Sprache als „Medium der Bildung und Kultur“ (statt der Abwicklung von Alltagsgeschäften – aus diesem Grund hat der römische Kaiser Mark Aurel seine „Selbstbetrachtungen“ - Τὰ εἰς ἑαυτόν – auf Griechisch niedergeschrieben, so wie der römische Historiker Cassius Dio seine Geschichte Roms ab urbe condita als Ῥωμαϊκὴ ἱστορία. Aus diesem Grund galt das Hochchinesische über Jahrhunderte hinweg in den angrenzenden Ländern der Sinosphäre als einziges Idiom, das einem Literaten würdig war (Japan hat sich als erstes Land dieser kulturellen Hegemonie entzogen, seit dem Beginn der Heijan-Periode mit dem Kojiki, der ältesten Sammlung historischer Anekdoten, Lieder und Legenden zu Beginn des 8. Jahrhunderts nach unserer Zeitrechnung – und voll erblüht mit der Abfassung der „Erzählung vom Prinzen Genji“ durch Murasaki Shikibu und dem „Kopfkissenbuch“ der Sei Shonagon gute drei Jahrhunderte später. Dennoch blieb die Kenntnis der chinesischen Sprache und Schrift auch in Japan bis ins 19. Jahrhundert hinein Grundbedingung für jede intellektuelle Betätigung (einmal abgesehen von der Tatsache, daß auch im heutigen Schriftgebrauch gute zweieinhalbtausend Kanji – also chinesische Schriftzeichen – im alltäglichen Gebrauch sind). Ebenso steht es mit dem Gebrauch des Lateinischen im Westen im Mittelalter bis in die frühe Neuzeit nicht nur als Sprache der Kirche, sondern auch der Wissenschaft, die dann sukzessive auf das Französische, das Deutsche und schließlich das Englische überging. Daß Wissenschaftler seit einem Jahrhundert den Englischen als Kommunikationsmedium bedienen, hat so einleuchtende wie handfest praktische Gründe.
(* der kleine Zyniker merkt an, daß „schreibend gelesene Menschen“ einen gewissen sardonischen Unterton mitschwingen läßt, den Paul Valéry traf, als er Blaise Pascals berühmtes Bonmot angesichts des „Schweigens der unendlichen Räume“ auf die endlosen Regalmeter der Bibliothéque nationale ummünzte: „le silence éternel de ces volumes innombrables m'effraie.“)
Bei Vertretern der Belles lettres findet eine solche Konvertierung weniger häufig statt – etwa wenn ein Autor sich durch die Zufälle der eigenen Biographie, zumeist aber durch die Flucht vor Gewalt und Diktatur in einem anderen Sprachgebiet wiederfindet und sich bewußt zur Annahme der neuen Sprache entschließt. So etwa bei Paul Groussac, 1848 in Toulouse geboren und 1888 zum Leiter der Biblioteca national in Buenos Aires ernannt, von dem sein späterer Amtsnachfolger Jorge Luis Borges erklärte. „Groussac, que era francés, me enseñó cómo debe escribirse en castellano“ (“Groussac, der Franzose war, lehrte mich, wie man auf Spanisch schrieb“). So schreibt Wladimir Kaminer, 1967 in Moskau geboren und seit 1989 in Deutschland lebend, seine Bücher ausschließlich auf Deutsch; Jonathan Littell, 1967 in New York geboren, hat bis auf 3 Ausnahmen seine bis heute 17 Bücher auf Französisch geschrieben, vor allem den „Skandalroman“ Les Bienveillantes,“ der auf mehr als 900 Seiten die Gräueltaten der SS im Zweiten Weltkrieg aus der Binnenperspektive eines der Täter erzählt und der 2006 bei den Éditions Gallimard in Paris erschien. Oder, um auf die leichte Muse der anspruchslosen Unterhaltung zu schwenken: so hat der in Teplitz geborene Drehbuchautoir Friedrich Kohner, von dem das Drehbuch für den Film „SOS Eisberg“ mit Ernst Udet und Leni Riefenstahl stammt, nach seiner Emigration in die USA 1935 in den fünfziger Jahren seine literarische Karier mit den acht Romanen über Sommer, Sonne und Surfbretter um die Figur Gidget als Frederik Kohner auf Englisch geschrieben; die Romane sind zwischen 1957 und 1966 in New York bei Putnam und Bantam Books erschienen (seltsamerweise hat der deutsche Verlag Droemer aus der Gestalt der Gidget, für die Kohners Tochter Kathy, 1941 in Los Angeles geboren, von der der schreibende Papa seine Kenntnisse über die Interessen und den Jargon der Wellenreiter-Szene in Malibu bezog – bei den Namen der Buchfigur handelt es sich um eine Portmanteau-Wort aus „girl“ und „midget,“ vom deutschen Verlag in „April“ umgewandelt. Erst die Neuübersetzung von Hanna Hesse, im April 2023 im S. Fischer Verlag erschienen, hat dem ursprünglichen Namen zu seinem Recht auf dem Titel verholfen.)
In der Regel bleiben aber Exilanten, wenn sie nicht von Kindesbeinen auf in ihrem zweiten Idiom aufgewachsen sind, bei ihrer Muttersprache, sei es, weil diese ein „portatives Vaterland“ darstellt (wie es der Pariser Exilant Heinrich Heine ausdrückte) oder sich Autoren an der literarischen Szene des eigenen Landes orientieren – vor allem, wenn sich der Umzug einer rein persönlichen Präferenz verdankt und nicht der Suche nach einem sicheren Hafen für den Rest des Lebens. Ein etwas extrem anmutender Fall dürfte in dieser Hinsicht die Dichterin Elizabeth Eybers sein, 1915 in Südafrika in Klerksdorp im Transvaal geboren, die zwischen 1936 und 1958 ihre ersten acht Gedichtbände auf Afrikaans publizierte, 1961, nach ihrer Ehescheidung nach Amsterdam umzog und dort ihr nachfolgendes Werk bis zu ihrem Tod 2007 beharrlich ebenfalls auf Afrikaans abfaßte – immerhin 22 Bände mit Gedichten. Der für niederländische Ohren recht befremdliche Sprachgebrauch (in holländischen Ohren klingt das Afrikaans mit seinen fehlenden Flektionen und der altertümlichen Aussprache ungefähr ebenso nach “Halskrankheit“ wie für „gewöhnliche Deutsche“ das Holländische) hat nicht verhindert, daß die Dichterin 1991 die höchste literarische Auszeichnung, den die Republiek van de lage landen zu vergeben hat, den P.C.Hooft-prijs, für ihr Gesamtwerk zuerkannt bekam.
II.
Im Bereich des „Genres“ – in diesem Fall jenes recht ungenau einzugrenzenden Bermudadreiecks, dessen Eckpunkte die Bezeichnungen „Science Fiction“, “Fantasy“ (oder „Phantastik“ – was keineswegs dasselbe bedeutet) und „Horror“ tragen, zeigt sich dieses Phänomen noch einmal in verschärfter Form. Kaum ein Autor auf dem Gebiet der literarischen Phantastik verläßt während seiner Zeit als Textmacher sein angestammtes Idiom (im übrigen darf auch die Kriminalliteratur, in der dies ebenfalls zu beobachten ist, hier mitgezählt werden). Und doch gibt es hier, anders als im Bereich des literarischen „Mainstreams“ jene Ausnahmen zu vermelden, die die Regel in aller Regel bestätigen. So hat etwa Robert van Gulik (1910-1967), niederländischer Sinologe und Diplomat im fernen Osten – zwei Jahre vor seinem Tod an Lungenkrebs wurde er Botschafter der Niederlande in Tokyo – die 15 Kriminalromane um den Richter Di, die zur frühen Tang-Zeit in der Mitte des 7. Jahrhunderts in China spielen, nicht nur auf Englisch verfaßt, sondern auch noch eigenhändig die niederländische Fassung besorgt. Für das erste Trio dieser Fälle – in jedem Band obliegt es dem Richter, drei Meuchelmörder der irdischen Gerechtigkeit zu überantworten - The Chinese Maze Murders, lesen sich die Daten der Erstveröffentlichungen besonders ausgefallen: Van Gulik hat den Text ursprünglich auf Englisch verfaßt, ihn durch einen befreundeten japanischen Sinologen, Ogaeri Yukio (鱼返善雄, 1910-1966), ins Japanische übersetzen lassen, wo er 1951 unter dem Titel „迷路の殺人“ /Meiro-so satsujin, „Mord im Labyrinth“, im Verlag Kodansha erschien. Anschließend übersetzte van Gulik seinen eigenen Text ins Chinesische, wo er 1956 bei der Nanyang Press in Singapur als Buch herauskam (unter dem Titel《狄仁傑奇案》/ Di rénjiè qiàn, „Der seltsame Fall des Richters Di“), und drei Jahre darauf erschien der englische Text im Verlag W. Van Hoeve – einem niederländischen Druckhaus mit Sitz in Den Haag und Bandung. Bij – Entschuldigung: bei – Van Hoeve verscheen dann ook, pas éen jaar later, en 1957, Van Guliks eigen vertaling in het Nederlands, onder de titel “Labyrinth in Lan-Fang.”
Nun darf Van Gulik, als Diplomat, der im fernen Osten geistig in gleicher Weise zuhause war wie im Westen und der die Literatur aus privater Passion betrieb, als eine Ausnahme im regulären Literaturbetrieb angesehen werden. Aber während der letzten, sagen wir 15 Jahre haben sich „im Genre“ (im oben erwähnten Segment des literarischen Karpfenteichs) einige Autoren einen Namen gemacht, die nicht zur Gilde der Heimatlosen zählen – obschon sie sich durchaus, und mit Recht, als Weltbürger sehen: Erzähler, die ihr zum Teil recht umfangreiches Werk auf Englisch verfaßt und publiziert haben, obwohl dies nicht ihre Muttersprache ist und sie selbst in einem Land leben, in dem Englisch Geschäftssprache ist (aus diesem Grund zähle ich Autoren wie etwa Kevin Kwan nicht zu dieser Kategorie; da der Autor von „Crazy Rich Asians“ seit mehr als drei Jahrzehnten in der Vereinigten Staaten lebt). Da wäre etwa Aliette de Bodard zu nennen, 1982 in New York als Tochter eines französischen Adligen, Éric de Bodard de La Jacopière und einer Vietnamesin, Nguyen Thi Phuong Mai, geboren, aber seit ihrer frühestens Kindheit in Paris zuhause, deren Muttersprache Französisch ist, die aber die Prägung durch die Kultur ihrer Mutter immer sehr stark betont hat. Ihr gesamtes Werk, zumeist Science Fiction, die in einem überaus exotischen galaktischen Milieu der fernen Zukunft spielt und viele Leser des Genres an die Welten erinnert, die Autoren von Cordwainer Smith und Jack Vance ausgemalt haben, sind dagegen ausschließlich auf Englisch verfaßt worden (eine Ausnahme zum chinesisch geprägten Xuja-Zyklus ist die Trilogie „Dominion of the Fallen“, zwischen 2015 und 2019 erschienen, in denen gefallene Engel nach einem verlorenen Aufstand gegen die Macht Gottes, der in unserem Kontinuum die Erde im Jahr 1914 verwüstet hat, ihre verbliebenen Claims untereinander in der verheerten Ruinen der irdischen Großstädte ausfechten. Sollte einem Leser der Sinn danach stehen, eine Version von Mario Puzos „Der Pate“ vor dem Hintergrund von Miltons „Das verlorene Paradies“ kennenzulernen, in der der - weibliche - Erzengel Selene den Part des Don Corleone übernommen hat, dessen Clan im Haus Silverspire residiert, das den Sterblichen unsere Zeit noch als Notre Dame de Paris geläufig ist, so gibt es keine bessere Leseempfehlung als für „The House of Shattered Wings“ und seine beiden Fortsetzungen“)
Das Haus war gewaltig, und der größte Teil davon war verlassen oder lag in Trümmern. Wie fast alle Gebäude in Paris war es von Ruß bedeckt, die typischen schwarzen Striche, die die Ausbrüche magischer Energie hinterlassen hatten. Früher mußten hier einmal Tausenden Unterkunft geboten - ein natürlicher Fluchtort, eine Insel die mit der Rest der Stadt nur über sieben Brücken verbunden war. Aber lag es leer und düster dort, und der Fluß, der einst die vorderste Verteidigungslinie gebildet hatte, war zu einem ungezähmten Element geworden, eine Macht, die alles überwältigte und umbrachte, was sich dem Ufer zu nähern wagte.
„Komm,“ sagte Isabelle, stieß eine kleine steinerne Seitentür in einem der kleinen Flure auf, und Philippe folgte ihr seufzend.
Und blieb stehen, wie vom Donner gerührt von dem, was sich dahinter verbarg.
Es war einmal eine Kirche gewesen. Die Säulen waren noch zu sehen und der Anfang einer gewölbten Decke, eine erste Reihe von Bögen, die sich graziös einander näherten, und die Reste von hölzernen Bänken, die zu Asche verbrannt waren. Die bunten Glasfenster waren geborsten oder fehlten, aber der Blick wurde immer noch unwiderstehlich in die Tiefe des Kirchenschiffs gezogen, hin zum Altar am andere Ende – oder zu der Stelle, an der der Altar sich befinden würde, wenn er nicht schon seit langer Zeit nur noch ein Trümmerhaufen gewesen wäre – und des einzige, was noch verblieben war, waren die Reste dreier Statuen – die in der Mitte war am wenigsten beschädigt, und hatte vielleicht die Jungfrau Maria dargestellt, die den Leichnam Jesu in den Armen hielt.
Nein – keine Kirche. Eine Kathedrale, wie das rosafarbene Gebäude, das die Franzosen in Saigon errichtet hatten. Es war … es war, als ob einem langsam eine Messerklinge über das Herz gezogen würde: es war fast, als wäre er wieder zuhause – nur hatte dieses Gebäude die falsche Form, die falsche Atmosphäre, stand am falschen Ort. Er konnte noch die Hingabe der Erbauer spüren, der Gläubigen, als ob sie die Luft zum Schwingen bringen würde: nur noch ein schwacher Schatten dessen, was sie einst gewesen war, aber dennoch so aufgeladen, so mächtig, so groß.
„Notre Dame,“ flüsterte Philippe.
Isabelle hatte sich nicht geregt; ihre Augen waren auf den Himmel gerichtet, und auf die wenigen Sterne, die vor dem dunklen nächtlichen Hintergrund zu sehen waren. „Das ist… wie die Stadt,“ flüsterte sie. „So … intensiv.“
„Glaube,“ sagte Philippe, obwohl ihr Glaube nicht der seine war. „Der Glaube hat das hier errichtet.“
(Diese Passage aus dem ersten Band der Trilogie ist im August 2015 veröffentlicht worden – und heute acht Jahre später, und vier Jahre, nachdem Notre Dame in der Nacht vom 15. auf den 16. April 2019 von einem katastrophalen Brand verheert wurde, erhält die Erwähnung des verbrannten Kirchengestühls eine gespenstische Note, die von der Autorin keineswegs beabsichtigt gewesen sein kann – die aber deutlich macht, warum der Gang der Ereignisse manchen Texten im Nachhinein etwas absolut Unheimliches verleiht.)
(Der kleine Pedant merkt an dieser Stelle an, daß keinem Rezensenten – weder im Fall der englischen Ausgabe noch der französischen Übersetzung, die 2017 unter dem Titel „La Chute de la maison aux flèches d'argent“ beim Verlag Fleche erschienen ist, aufgefallen zu sein scheint, daß sich die Grundkonstellation der Trilogie dem Roman „La révolte des anges“ von Anatole France verdankt, der im erwähnten Jahr 1914, wenige Monate vor dem Ausbruch des „Grande guerre,“ bei Calman-Lévy erschienen ist. In diesem letzten Roman von France geht es – ganz nach dem Anregung durch Milton, um eine Gruppe von Engeln, die zur Erde gesandt worden sind, um ein Auge auf die gottlosen und skeptischen Zeitläufte des Fin de siècle zu haben und die durch den engen Kontakt mit den revolutionär gestimmten Intellektuellenzirkeln und Predigers eines utopischen Sozialismus zu dem Schluß gelangen, daß nur die Revolte und der Sturz der himmlischen Heerscharen eine Erlösung versprechen. Bei France sieht Satan allerdings am Ende von der Durchführung seines Vorhabens ab, weil er erkennt, daß er und seine Getreuen sich im Fall eines Erfolgs an die Stelle der gestürzten Himmelhierarchie setzen würden – und ihre Machtfülle ebenso mißbrauchen würden.)
Als zweiter Name aus diesem Bereich wäre neben Aliette de Bodard (deren Werk mittlerweile 9 Romane, 5 kürzere in Buchform erschienen Kurzromane und gut 110 Kurzgeschichten umfaßt), der von Lavie Tidhar zu nennen. Der Autor ist 1976 in Afula im Norden Israels geboren, aber sein ansehnliches Schaffen im Bereich der Science Fiction - mehr als ein Dutzend Romane (etwa die „Bookman“-Trilogie (2010-2012), der Alternativweltroman „Osama“ (2011), für den er im Jahr darauf die angesehenste Genre-Auszeichnung, den World Fantasy Award, erhielt, den „Mosaik-Roman“ „Central City“ (2016) und weit über 200 Kurzgeschichten – ist ausnahmslos auf Englisch erschienen. Zwar bilden jüdische (und israelische) Themen den Schwerpunkt seines Schaffens - „Central City“ schildert nach dem Muster eines Roman fleuve die miteinander verflochtenen Lebensschicksale mehrerer Familien in einem Tel Aviv in ferner Zukunft, in dem die Stadt zum wichtigsten interplanetarischen Raumflughafen avanciert ist; „Neom“ greift das seit 2017 von der Regierung Saudi-Arabiens propagierte utopische Stadtprojekt auf, das sich nach den Vorstellungen der Planer in einigen Jahrzehnten über eine Länge von 170 Kilometern durch die Wüste ziehen soll, verwandelt es aber in eine Jahrhunderte alte, schon halb zerfallene und vom Sand zurückeroberte Ruinenkulisse; „Unholy Land“ (2018) greift das „Uganda-Projekt“ auf, das der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain kurz nach der Jahrhunderte propagierte, um den von den Pogromen im Zarenreich bedrohten Juden eine Zuflucht unter britischer Schirmherrschaft zu bieten (die Vertreter der zionistischen Bewegung lehnten den Plan vehement ab, weil sie, sicher zurecht, befürchteten, die Gründung eines solchen Refugiums könnte die Schaffung eines jüdischen Staates auf dem Boden des heiligen Landes unmöglich machen). Aber bislang ist erst ein einziger Text Tidhars, die Kurzgeschichte שירה auf Iwrit publiziert worden, und diese auch nur in elektronischer Form, während die beiden „Totholz-Versionen“ unter dem Titel „Shira“ auf Englisch und Deutsch (2008 bzw. 2011)erfolgt sind.
III.
Als Ausnahme zu den oben referierten Fällen darf das Werk von Jean Ray gelten, dem „Vater der belgischen Horrorliteratur“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Raymond Jean Marie de Kremer, im Juli 1887 in der belgischen Hafenstadt Ghent geboren und dort 1964 gestorben, verfaßte gut die Hälfte seines hunderte von Titeln umfassenden Oeuvres auf Französisch unter dem Nom de plume Jean Ray und den Rest auf Flämisch, wobei er zumeist den Verfassernamen „John Flanders“ benutzte. Diese Trennung ist freilich nicht stringent durchgehalten worden; was in der Regel den Redakteuren der Zeitschriften und Jugendmagazine geschuldet war, bei denen er seine Texte einreichte. „John Flanders“ war für eher anspruchslose Jugendlektüre zuständig, während „Jean Ray“ sich, zumindest zeitweise, als würdiger Fortsetzer der Erzähltradition von Edgar Allan Poe in Szene zu setzen suchte - etwa in dem Roman „Malpertius“ (1943), dessen Ereignisse um das titelgebende Gemäuer, in dem die in Menschengestalt gebannten antiken Götter, deren Gedächtnis gelöscht worden ist, wie unter Hypnose die Revolte der Titanen wiederholen müssen, zu den Klassikern der frankophonen Phantastik zählen. Zum Werk „Jean Rays“ zählen auch die gut 170 Hefte der „Harry Dickson“-Reihe, die Ray bzw. de Kremer zwischen 1928 und 1938 verfaßte. Der formelle Anlaß war der Auftrag des belgischen Verlegers Hip Janssens, die seit Ende 1927 erschienen niederländischen Versionen der deutschen Groschenheftserie um den „amerikanischen Sherlock Holmes“ ins Französische zu übertragen. Nach wenigen Nummern entschied sich de Kremer dafür, angesichts der Mängel und Schludrigkeiten des Originals seiner eigenen Geschichten zu schreiben. Seine Begründung war, daß es ihn die gleiche Mühe kosten würde, jeweils gut 50 Druckseiten zu übersetzen und zu korrigieren oder selbst zu ersinnen. Für „Harry Dickson“ begann de Kremer auch mit dem, was ihm als Autor bis heute nachhängt: wie seine Zunftgenossen Karl May in Deutschland in dem italienischen Vater des malaiischen Piraten und Fürstensohns Sandokan, der „Tigers von Mompracem,“ wurde Jean Ray zu seiner phantastischsten eigenen Erfindung: angeblich konnte er all das, was Harry Dickson erlebte, aus eigener Erfahrung schildern: hatte als Alkoholschmuggler während der Prohibitionszeit zwischen Neufundland und Boston hochprozentige Sore geschmuggelt, als Scharfrichter in Venedig gewirkt, wilde Tiere in der Dschungeln Afrikas gejagt und die Opiumhöhlen im Londoner Westend kennengelernt. Daß der italienische Bankbeamte Salgari so wenig wie der sächsische Kolportage-Zeilenschinder oder der Beamte der dritten Klasse in der Ghenter Stadtverwaltung nie nennenswert über die Grenzen der eigenen Provinz hinausgekommen waren, spielte für die jugendliche Leserschaft nie eine Rolle.
(Umschlagbild der Erstausgabe, erschienen im Juni 1943 bei den Auteurs Associés)
« Elle est là, avec ses énormes loges en balcons, ses perrons flanqués de massives rampes de pierre, ses tourelles crucifères, ses fenêtres géminées à croisillons, ses sculptures menaçantes de guivre et de tarasques, ses portes cloutées. Elle sue la morgue des grands qui l'habitent et le terreur de ceux qui la frôlent. La façade est un masque grave où l'on cherche en vain quelque sérénité. C'est un visage tordu de fièvre, d'angoisse et de colère, qui ne parvient pas à cacher ce qu'il y a d'abominable derrière lui. »
("Da liegt es, mit seinen riesigen Balkonlogen, seinen Treppen, gesäumt von schweren steinernen Geländern, seinen Türmchen mit dem kreuzförmigen Querschnitt, den Gitterwerken vor den Fenstern, den bedrohlichen Skulpturen in Gestalt von Gewürm und Fabelwesen, den mit metallenen Nieten beschlagenen Türen. Es schwitzt den Hochmut seiner Bewohner aus und die Angst derer, die es in seinen Bann schlägt. Diese Fassade ist eine Totenmaske, hinter der man vergeblich nach Ruhe sucht. Sie zeigt ein Gesicht, verzerrt von fiebernder Angst und Jähzorn, das das Entsetzen dahinter nicht zu verbergen vermag.")
(Harry Dickson No. 139, erschienen am 3. Januar 1935)
Den Auftakt von „Jean Rays“ Laufbahn als wiedergeborener E.A.Poe bildete ab Ende eine Reihe kurzer Erzählungen, die in der Zeitschriften „Le Journal de Gand“ und ab Anfang 1923 in der von de Kremer gegründeten Literaturzeitschrift „L’Ami du Livre“ publiziert wurden, und von denen zwei Dutzend 1925 seinen ersten Erzählband, „Les Contes du whisky,“ bildeten, der im Verlag Renaissance du livre herauskam. Dieses zweite Blatt erwies sich gleichzeitig als die Achillesferse ihres Verfassers. De Kremer hatte sich zur großzügigen Finanzierung seines Herzensvorhabens von einem seiner Onkel, einem der namhaftesten Bankiers Ghents, ein Darlehen in Höhe von umgerechnet gut 50.000 Euro geben lassen, die allerdings zum größten Teil für einen mondänen Lebensstil zwischen Brügge und Monte Carlo im Stil der Roaring Twenties verjubelt wurden. Nachdem de Kremer wiederholt aufgrund der blamablen Vertriebszahlen seines Magazins in Zahlungsverzug gekommen war, wurde er im März 1926 angeklagt und wegen vorsätzlichen Betruges zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt; im Februar 1929 wurde er aufgrund guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen. Es steht zu vermuten, daß die stattliche Anzahl dämonischer Onkel-Gestalten, die in der Folgezeit in Rays Texten ihren Auftritt haben, auf diese als traumatisch empfundene Zeit zurückgeht: etwa Onkel Cassave in „Malpertius“ und die beiden Timotheus, von denen weiter oben zu lesen ist. Da ihm fortan jeder respektable Berufsweg verwehrt war, blieb ihm nur noch die Wahl, fortan vom Erlös der Texte zu leben, die er in rasender Eile auf der Underwood-Schreibmaschine tippte, die heute in der Universitätsbibliothek von Ghent aufbewahrt wird (Inventarnummer BIB.REALIA.001752).
IV.
„La Vérité sur l’oncle Timotheus“ gehört zu den beiden Erzählungen, die Jean Ray während der deutschen Besatzungszeit in der in Brüssel verlegten Zeitschrift „Cassandre“ publiziert hat; dort erschien sie am 16. August 1944; die Bucherstveröffentlichung erfolgte im März 1947 in dem Band „Le Livre des fantômes“ in den Éditions de la Sixaine als erster Band einer Buchreihe unter dem Motto „Le Roman Noir“ (diesem Auftakt folgte allerdings als einziger weiterer Titel die ebenfalls von de Kremer zusammengestellte Anthologie „La Gerbe noire,“ die 13 mehr oder weniger klassische Gruselgeschichten umfaßte, etwa Ambrose Bierces „A Watcher by the Dead“ und Heinrich Heines „Doktor Ascher und die Vernunft,“ zuerst 1826 in der „Harzreise“ veröffentlicht und seit langem als Einzelepisode ein Dauerbrenner im Sammlungen zu diesem Thema.
Für den ersten von mir ausgewählten Text, „De club der eeuwelingen“ erweisen sich die bibliographischen Nachweise als erheblich schütterer. Den Text entnehme ich dem Band „Griezelen“ (Gruselgeschichten), 1964 im Verlag Heideland als Band 108 der Reihe „Vlaamse Pockets“ auf dem Markt gekommen. Für keinen der 50 kurzen Texte auf diesen 174 Druckseiten findet sich im Impressum eine Angabe für einen früheren Journalabdruck. Auch die Bibliographien in dem umfangreichen Band der „Cahiers de l’Herne,“ den François Truchard und Jacques Van Herp 1980 dem Autor gewidmet haben und die stattlichen Anhänge im zweiten Band der ersten Biographie des Autors, „Soms overtreft de werkelijkheid de fantasie: Raymond De Kremer alias Jean Ray, John Flanders 1887-1964,“ die Geert Vandamme 2019 bei Poespa Producties herausgebracht hat, halten in dieser Hinsicht bedeckt.
Bei beiden Texten handelt es sich um eine Erstübersetzung ins Deutsche.
U.E.
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