(Jorge Luis Borges und Osvaldo Ferrari in Borges' Wohnung, 1984)
Osvaldo Ferrari: Es gibt ein besonderes Merkmal für unsere Zeit, das Sie in besonderer Weise beeindruckt zu haben scheint, Borges, von dem aber allgemein wenig die Rede ist. Ich rede hier von der Reise der Menschen zum Mond.
Jorge Luis Borges: Ja; ich habe darüber ein Gedicht verfaßt. Aber die meisten Menschen neigen dazu, die Bedeutung dieses Themas abzutun oder zu vernachlässigen, das den größten Erfolg unseres Jahrhunderts darstellt – und zwar aus politischen, also zufälligen und unwichtigen Gründen. Und so seltsam es scheinen mag: es ist oft mit der Entdeckung Amerikas verglichen worden. Eigentlich verbietet sich das, aber es passiert trotzdem häufig. Natürlich führt das Wort „Entdeckung“ die Menschen in die Irre: sie haben immer von der „Entdeckung Amerikas“ gehört, und deshalb reden sie von der „Entdeckung des Mondes.“ Aber es geht hier um etwas anderes, wie mir scheint. Sobald einmal der Schiffsbau erfunden worden war, und Ruder, Masten und Segel zur Verfügung standen, war die Entdeckung Amerikas nur noch eine Frage der Zeit. Ich würde sogar sagen, daß es frivol ist, von „der“ Entdeckung Amerikas zu reden; man sollte lieber von „den Entdeckungen Amerikas“ sprechen, weil es so viele davon gab. Wir können im Bereich der Mythen und Legenden beginnen – mit Atlantis, das wir in den Seiten Platons und Senecas finden, und den Reisen des Heiligen Brendan, auf denen er zu Inseln gelangte, auf denen silberne Jagdhunde goldene Hirsche hetzten. Lassen wir solche Legenden einmal beiseite, hinter denen sich möglicherweise verzerrte Reiseschilderungen verbergen, und dann landen wir im zehnten Jahrhundert. Und dort stoßen wir auf ein ganz bestimmtes Jahr, und die Fahrten eines ganz bestimmten Mannes, eines Wikingers, der aber auch, wie so viele Männer seiner Zeit und aus jenen Ländern, der Mörder war. Es heißt, daß Erik, Erik der Rote, mehrere Männer in Norwegen auf dem Gewissen hatte, wie wir heute zu sagen pflegen. Aus diesem Grund mußte er nach Island fliehen, wo er weitere Morde beging und weiter nach Westen flüchten mußte. Wir dürfen uns vorstellen, daß die Entfernungen damals größer waren als sie es heute sind, denn die zurückgelegte Distanz ergibt sich aus der Zeit, die dafür benötigt wird. So erreichte er mit seinen Schiffen eine Insel die er „Grünland“ nannte. Auf Isländisch heißt es „greneland,“ soweit ich weiß. Dafür bieten sich zwei Erklärungen an: daß der Name auf die grüne Farbe zurückgeht, was unwahrscheinlich scheint – oder daß Erik ihm den Namen „grünes Land“ („Grönland“) gab, um Siedler anzulocken. Erik der Rote ist ein passender Name für einen Helden, nicht wahr, noch dazu einen aus dem Norden.
OF: Vor allem für einen blutbefleckten Helden.
JLB: Für einen Helden mit Blut an den Händen, ja. Erik der Rote war Heide, aber es ist mir nicht bekannt, ob er Odin verehrte, der dem Mittwoch im Englischen seinen Namen verliehen hat – Wednesday – oder Thor, der mit dem Donnerstag – Thursday – gleichgesetzt wurde. Auf jeden Fall steht fest, daß er Grönland erreichte, daß er zwei Fahrten unternahm, daß er Siedler mitbrachte. Und daß sein Sohn, Leif Eriksson, das Festland entdeckt hat, daß er bis Labrador gekommen ist, und vielleicht das Gebiet der Vereinigten Staaten betreten hat, dort, wo heute die Grenze zu Kanada verläuft. Und dann haben wir die späteren Entdeckungsfahrten – die von Christoph Kolumbus und von Amerigo Vespucci, dessen Name der Kontinent trägt. Und im Anschluß verliert man den Überblick über all die Portugiesen, Holländer, Spanier, aus allen Herren Länder, die unseren Kontinent entdeckten. Natürlich suchten sie in Wirklichkeit nach Indien, und fanden nur züfallig diesen Kontinent, der uns so wichtig erscheint, weil wir uns gerade dort befinden und darüber reden.
OF: Sie glaubten, daß es sich dabei um einen Teil Indiens handeln würde.
JLB: Ja, sie haben es für einen Teil Indiens gehalten und deswegen das Wort „Indio“ benutzt, um die die hiesigen Eingeborenen zu bezeichnen. Das bedeutet: es handelt sich hier um ein Ereignis, das unausweichlich erfolgen mußte, und das zeigt sich daran, daß es geschichtlich schon im zehnten Jahrhundert erfolgt ist, sobald die Möglichkeiten in der Seefahrt dafür zur Verfügung standen. Bei der „Entdeckung des Mondes“ dagegen handelt es sich um etwas völlig anderes. Das ist nicht nur eine physische Leistung – ich will damit den Mut von Armstrong und den anderen nicht schmälern – sondern eine geistige und wissenschaftliche Leistung. Und es sie verdankte sich der Planung und ihrer Umsetzung, nicht dem Zufall. Das ist etwas völlig anderes. Und zudem handelt es sich um einen Erfolg – es war, glaube ich, im Jahr neunundsechzig, aber ich bin mir nicht ganz sicher – das der Menschheit zur Ehre gereicht, nicht nur, weil Menschen aus vielen Ländern daran beteiligt waren, sondern weil es keine Kleinigkeit darstellt, den Mond zu erreichen. Interessanterweise haben zwei Autoren Bücher über dieses Thema geschrieben – der erste war, zeitlich gesehen, Jules Verne, und der andere natürlich H. G. Wells; beide haben sie nicht daran geglaubt, daß dergleichen durchführbar sein würde. Und ich erinnere mich: als Wells seinen ersten Roman veröffentlicht hat, war Verne empört und erklärte: „Er erfindet!“ - denn Verne war ein nüchterner Franzose, der Wells‘ Träume und Visionen als bizarr und exzentrisch empfand. Beide hielten dies für unmöglich, obwohl Wells in einigen seiner Bücher – ich erinnere mich nicht mehr an die Titel – schrieb, daß der Mond der erste Schritt bei der Eroberung des Alls sein würde. In den ersten Tagen nach der Mondlandung war ich sehr glücklich, und ich glaube, ich habe das auch in meinem Gedicht so geschrieben: daß es jetzt, nachdem dieses Ziel erreicht ist, keinen glücklicheren Menschen auf der Erde gibt. Der Kulturattaché der sowjetischen Botschaft hat mich damals besucht. Er ließ die Differenzen, die zwischen uns über die Gestaltung der Welt in Mode sind, einfach beiseite und sagte zu mir: „Das war die glücklichste Nacht meines Lebens.“ Er überging die Tatsache, daß die Mondlandung von den Vereinigten Staaten durchgeführt worden war und betonte: wir haben den Mond erreicht; die Menschheit hat es bis zum Mond geschafft. Aber mittlerweile zeigt sich die Welt gegenüber den Vereinigten Staaten bestürzend undankbar. Zweimal ist Europa durch die Vereinigten Staaten vor unvorstellbarer Gewalt gerettet worden, in den beiden Weltkriegen. Die heutige Literatur kann man sich nicht vorstellen ohne … lassen sie mich nur drei Namen nennen: Edgar Allan Poe, Walt Whitman und Herman Melville, ganz zu schweigen von Henry James. Ich weiß nicht, warum das keine Anerkennung findet. Vielleicht liegt es an der Stärke der Vereinigten Staaten. Nun – bereits Berkeley, der Philosoph, war der Ansicht, daß das vierte und größte Weltreich der Geschichte in Amerika liegen würde. Und er machte sich daran, die Kolonisten auf Bermuda und die Rothäute auf ihre zukünftige Führungsrolle in der Weltgeschichte vorzubereiten (lacht). Wir haben also diesen Erfolg miterlebt, wir waren glücklich darüber. Aber jetzt neigen wir dazu, ihn zu vergessen. Aber ich reiße unser Gespräch ganz an mich allein (lacht).
OF: (lacht) Es ist höchst interessant. Den Anfang dazu hat die Sowjetunion gemacht, im Jahr 1957, als sie den ersten künstlichen Erdsatelliten gestartet hat. Und nur ein Dutzend Jahre später …
JLB: Das heißt, daß die beiden rivalisierenden Mächte letztlich zusammengearbeitet haben.
OF: Also Zusammenarbeit beim Wettlauf ins All.
JLB: Ja, es war ein Wettstreit. Aber dieser Rivalität verdanken wir diesen Erfolg.
OF: Für die Menschheit.
JLB: Ja, dieser große Schritt für die Menschheit, der für mich die größte Leistung in diesem Jahrhundert darstellt. Natürlich ist er auch durch die Computer möglich gemacht worden, die ebenfalls eine Erfindung dieses Jahrhundert sind. Das heißt … wir alle haben in diesem Jahrhundert den Eindruck, daß wir uns in einer Zeit des Niedergangs befinden – aber wir denken hier in Begriffen der Moral oder der Wirtschaft. Vielleicht war die Literatur des 19. Jahrhunderts wirklich reicher. Heute hat man eine ganze Reihe sinnloser Disziplinen erfunden, zum Beispiel die Psychodynamik, oder die Soziolinguistik. Aber das sind auch kurzlebige Witze, oder? (lacht) Wir können nur hoffen, daß sie bald wieder vergessen sein werden. Aber die Leistungen der Wissenschaft kann man nicht leugnen.
OF: Da haben Sie recht. Wie wir schon gesagt haben, hat die Menschheit erst vor 28 Jahren mit dem Abenteuer begonnen, die Erde zu verlassen. Aber trotzdem wird über das Thema nicht öffentlich so gesprochen, wie es das verdient hätte …
JLB: Nein, stattdessen reden wir über Wahlen, über das tristeste Thema überhaupt, nämlich Politik. Ich möchte betonen – sicherlich nicht zum ersten Mal, daß ich ein Feind des Staates, aller Staaten, bin – und des Nationalismus, der eine der Geißeln unserer Zeit ist. Daß jedem der Vorzug, in dieser oder jener Ecke auf diesem Planeten geboren zu sein, so bedeutend erscheint – und daß wir uns so weit vom alten Traum der Stoiker aus jener Zeit, als noch wichtig war, aus welcher Stadt man stammte, entfernt haben: Tales von Milet, Zenon von Elea, Heraklit aus Ephesus, und so fort: sie haben erklärt, daß sie Weltbürger wären. Für die Griechen muß dies ein empörender Widerspruch gewesen sein.
OF: Lassen wir die Griechen einmal beiseite. Könnte man die Ankunft des Menschen auf dem Mond als den letzten Schritt dessen bezeichnen, was Denis de Rougemont „das westliche Abenteuer der Menschheit“ genannt hat?
JLB: Mit Sicherheit.
OR: Das schließt sich an die Fahrten an, die wir in der Ilias und der Odyssee sehen, und natürlich auch denen von Christoph Kolumbus.
JLB: Wir haben es uns angewöhnt, schlecht über den Imperialismus zu reden. Aber Weltreiche waren immer ein Grundpfeiler des, sagen wir, Kosmopolitischen.
OR: Reden Sie über Weltoffenheit?
JLB: Ja. Ich denke, daß die Imperien in diesem Sinn Gutes bewirkt haben. Etwa, was die Verbreitung mancher Sprachen betrifft. In der nahen Zukunft wird das das Englische und das Spanische betreffen; das Französische befindet sich leider auf dem Rückzug, und Russisch und Chinesisch sind zu schwierig. Aber kurz gesagt: das alles sind Schritte auf einen weiteren Weg zu einer Einheit, die die Gefahr künftiger Kriege, die heute die größte Gefahr darstellen, beseitigen würde.
OR: Wenn Sie schon über die Weltreiche sprechen, und über diese Einstellung des Westens, dieser Neugier des Abendlands, die diese Entdeckungen möglich gemacht hat, sollten wir uns daran erinnern, daß Kolumbus seine Entdeckungen im Namen „der Christenheit“ gemacht hat, und daß er „Columba Christi Ferens“ genannt worden ist, also: „die Taube, die Christus trägt.“
JLB: Sehr schön; das wußte ich noch nicht. Ja sicher, „columba.“
OF: Und “Cristóbal” spielt natürlich auch auf Christus an…
JLB: Ja, ich erinnere mich gerade an einen Holzschnitt – ich weiß nicht, von wem er stammt, aber er ist berühmt – auf dem der heilige Christophorus dargestellt ist, wie er das Jesuskind über einen Fluß trägt.
OR: Kann man also jene Christenheit, die sich der Entdeckung von Kolumbus verdankt, als eine Erscheinung eines damaligen Weltreichs sehen?
JLB: Warum nicht? Gegenwärtig hat der Islam diese Rolle übernommen und ist politisch geworden. Aber wir sollten daran denken, daß dieses langfristige Entwicklungen sind – und auf lange Sicht wirken sich diese Dinge zum Guten aus.
OR: Diese Entdeckungen sind erfolgt, als man ins Unbekannte aufgebrochen ist. Vielleicht führen diese Flüge der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion am Ende auch wieder ins Unbekannte.
JLB. Natürlich. Was den Mond betrifft, so gab es den Mond Vergils und Shakespeares ja auch schon, bevor die Mondflüge unternommen worden sind.
OR: Natürlich.
JLB: Ja, er ist lange Zeit unser Begleiter gewesen. Der Mond hat etwas überaus Vertrauliches … Es gibt einen merkwürdigen Vers von Vergil, in dem er von „Amica Silentia Lune“ spricht. Damit meint er die kurzen dunklen Neumondnächte, die es den Griechen möglich gemacht haben, sich in ihrem hölzernen Pferd zu verbergen und Troja zu erobern. Wilde, der bestimmt soviel über den Mond wußte wie ich, schreibt lieber von „the friendly silences of the moon“ und ich habe in einem meiner Gedichte geschrieben „die stille Freundschaft des Mondes / (ich zitiere Vergil falsch) begleitet dich.“
OR: In jedem Fall sind wir aber darauf angewiesen, daß das Unbekannte auch vorhanden ist.
JLB: Ich glaube, daß das sehr nötig ich. Aber es wird uns nicht fehlen, solange wir uns in der wirklichen Welt befinden. Und ich bin überzeugt, daß unser Verstand und unsere Sinne dazu einen Zugang ermöglichen. Voltaire konnte sich vorstellen, daß der Mensch über hundert verschiedene Sinne verfügen könnte, und jeder neue davon würde unsere Sicht auf die Welt verändern. Das hat die Wissenschaft bereits zustande gebracht: Wo wir einen festen Körper sehen, sieht die Wissenschaft eine Wolke aus Atomen, Neutronen und Elektronen. Auch wir bestehen aus solchen Molekülen und Atomkernen.
OR: Gerade die Leistung, den Mond zu erreichen, hätte aber die Menschen die Menschen in den vergangenen Jahrhunderten erstaunt und zum Nachdenken über das Unbekannte angeregt.
JLB: Und sie hätten sie gefeiert.
OR: Wells selbst, der unserem Jahrhundert ebenso wie dem vorherigen angehörte, hielt es für unmöglich, wie Sie gesagt haben.
JLB: Ja, aber im Gegensatz zu Verne hat Wells betont, daß seine Erfindungen unmöglich waren. Er war sich sicher, daß man keine Maschine bauen könnte, mit der man nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit reisen kann – und zwar schneller, als wir das auf natürlichem Weg tun. Er war sich sicher, daß es keinen Unsichtbaren geben könnte, und er war sich sicher, daß der Mond nicht zu erreichen war. Das war sein Programm. Aber es scheint so, als ob sich die Wirklichkeit vorgenommen hätte, ihm zu zeigen, daß das, was er für reine Phantastik ansah, in Wirklichkeit nur eine Vorwegnahme war.
* * *
Zu den letzten publizistischen Unternehmungen, die Jorge Luis Borges unternahm, bevor er in November 1985 Buenos Aires verließ, seine langjährige Sekretärin Maria Kodama heiratete, um sie als Erbin und Sachwalterin seines Werkes einzusetzen und seine letzten fünf Lebensmonate in Genf verbrachte (wo die Familie des Diplomaten Jorge Guillermo Borges die Jahre des Ersten Weltkriegs in der neutralen Schweiz verbracht hatte & sein einziger Sohn ein französischsprachiges Gymnasium besucht hatte), gehören die wöchentlichen kurzen Gespräche, die Borges mit dem Journalisten Osvaldo Ferrari über Gott und die Welt – und Borges‘ beständige literarische Obsessionen – geführt hat. Zwischen März 1984 und Oktober 1985 entstanden so Causerien, die jeweils am folgenden Sonntag im Programm des Radiosenders Radio municipal gesendet und zumeist am darauffolgenden Mittwoch (mitunter auch am Donnerstag im Kulturteil der Boulevardzeitung „Tiempo Argentino“ abgedruckt wurden. Jeweils 30 dieser Dialoge wurden in Buchform beim Verlag Sudamericana herausgebracht: „Borges en diálogo“ (1985), „Libro de diálogos“ (1986), und „Diálogos últimos“ (1987). Eine einbändige Ausgabe alle 90 Gespräche folgte 1998. Eine definitive Ausgabe aller 118 Dialoge wird am 21. Februar 2024 im Madrider Verlag Seix Barral erscheinen (Jorge Luis Borges, Osvaldo Ferrari, „Los diálogos: Edición definitiva,“ Seix Barral, 792 Seiten, €23,66, ISBN 8432242837). In einem Gespräch mit der argentinischen Tageszeitung La Nación vom 16. Dezember 2023 hat Ferrari unter anderem darüber berichtet, wie Maria Kodama, darin einer alten Tradition von Künstlerwitwen folgend, in den folgenden fünf Jahren um die Rechte daran einen Gerichtsstreit ausgefochten hat, der geradezu archetypisch für das Bild überlebender Sachwalterinnen von Yoko Ono bis Alice Schmidt steht. Darin sagt er zum Ablauf der jeweils eine Viertelstunde dauernden Interviews, die in Borges‘ Dreizimmerwohnung im obersten Stock des Hauses in der Calle Maipú aufgenommen worden, in die er 1944 mit seiner Mutter gezogen war:
(Das Haus in der Calle Maipú 944 und die Gedenktafel, die dort 1996, zum 97. Geburtstag des Dichters, angebracht worden ist.)
-¿Hablaron de María Kodama?
-No… Bueno, una vez mencionó algo sobre ella, pero dijo: “Usted sabrá quién es María Kodama”, y siguió hablando de otra cosa.
-¿La conociste?
-Estaba ella en la casa de Borges el día el primer diálogo y le ofrecí participar, pero prefirió no hacerlo. Luego me hizo un juicio que duró diez años, y yo lo gané. Estuvo cinco años en la Corte Suprema.
-¿Por qué motivo fue el juicio? ¿Por los derechos de autor de los diálogos?
-Sí. Borges me hizo cesión de derechos de autor y ella cuestionó la cesión, confundiéndola con un testamento. Diez años para que la Corte expresara que no tenía nada que ver con un testamento y era una auténtica cesión de derechos de autor válida para siempre. Ahí fue cuando LA NACION me hizo una entrevista y expresé a partir de ese momento que los libros, Borges y yo éramos libres para siempre. Con eso se dio por terminada mi relación con Kodama.
Haben Sie mit Maria Kodama gesprochen?
Nein. Gut: er hat sie ein Mal erwähnt, und gesagt: „Sie wissen sicher, wer Maria Kodama ist“ und dann das Thema gewechselt.
Haben Sie sie getroffen?
Als ich das erste Gespräch mit Borges führte, war sie zuhause. Ich habe ihr angeboten, daran teilzunehmen, aber sie hat abgelehnt. Anschließend hat sie mich ein Jahrzehnt lang verklagt; der Prozeß vor dem obersten Gerichtshof hat fünf Jahre lang gedauert.,
Worum ging es in dem Prozeß? Um die Rechte an den Gesprächen?
Ja. Borges hat mir die Rechte daran abgetreten, und sie hat das infrage gestellt, weil sie sich auf das Testament berufen hat. Es hat zehn Jahre gedauert, um gerichtlich feststellen zu lassen, daß das Testament hier keine Gültigkeit besaß und es sich um eine gültige Abtretung dieser Rechte handelte, ohne Ablaufdatum. Nach dem Urteil hat mich La Nación interviewt und ab da habe ich erklärt, daß Borges, die Bücher und ich jetzt für immer frei wären. Damit waren alle Kontakte mit Kodama beendet.
30 dieser Gespräche sind 1990 von Gisbert Haefs, dem Herausgeber der definitiven deutschen Edition der Werke Borges‘ bei Hanser und Fischer, ausgewählt und ausgewählt worden und im Zürcher Arche Verlag unter dem Titel „Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn“ erschienen. „La llegada del hombre a la luna,“ zuerst im zweiten Band der Reihe veröffentlicht, findet sich nicht darunter.
Borges letzter Band mit Erzählungen, „El libro de arena“ (Das Sandbuch) ist 1975 erschienen; darauf folgten drei Gedichtbände („Historia de la noche,“ 1977, „La cifra,“ 1981 und „Los conjurados,“ 1985). Die 30 schmalen Bände der „Bibliothek von Babel,“ in denen Borges Erzählungen seine Lieblingsautoren von Chesterton bis Kipling zusammengestellt hat, und bei denen das Erscheinungsdatum der deutschen Ausgabe einen oberflächlichen Leser in die irre führen könnte (alle 30 Bände erschienen 1983 in der Edition Weitbrecht im Verlag K. Thienemann in Stuttgart) sind zuerst zwischen 1975 und 1981 im Verlag von Franco Maria Ricci in Mailand herausgekommen, der sich auf bibliophile Preziosen kaprizierte – in einer Auflage von jeweils 4000 Exemplaren; die französische Ausgabe dagegen brachte es nur auf die ersten 12 Bände; die beiden ersten erschienen im Dezember 1977.
„…sie haben erklärt, daß sie Weltbürger wären…“: Zur Entstehung des Konzeptes der „Bürgers der ganzen Welt“ (statt der Gebundenheit an die Herkunft aus einer Polis und ihrer Herrschaft) sh. das Buch von Peter Coulmas, „Weltbürger. Geschichte einer Menschheitssehnsucht“ (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1990), der die Entstehung als Gegenzug zu der sich entwickelnden „Stadtanbindung“ in Zuge der Ausbildung der kolonisierenden Stadtstaaten des alten Griechenland mit dem Aufkommen der Stoiker nachzeichnet sowie die Blütezeit der idealistischen Vorstellung im Rahmen des Siècle des lumières während der Aufklärung des 18. Jahrhunderts.
„Ich habe darüber ein Gedicht verfaßt“: Gemeint ist das Gedicht „La luna“ aus dem Band „El Hacedor“ von 1960 (auf deutsch unter dem Titel „Borges und ich“ erschienen“, da die übliche Widergabe mit „Der Schöpfer“ unweigerlich eine theologische Nuance aufweist, die dem spanischen „hacer“, „machen,“ „verfertigen“ fremd ist), dem ersten Gedichtband, dem Borges auch kurze Prosatexte beigab, „Prosagedichte“ nach der Art von Baudelaires „Spleen de Paris.“ „La luna“ umreißt die Metaphorik, die Symbolkraft und die Mythologie der „bleichen Diana“ in 23 bündig gereimten Vierzeilern, und bislang hat sich kein Nachdichter in einer anderen Sprache gefunden, der diese Strophen unter Wahrung des Reims nachzubilden versucht hat.
De otra luna de sangre y de escarlata
habló Juan en su libro de feroces
prodigios y de júbilos atroces;
otras más claras lunas hay de plata.
Pitágoras con sangre (narra una
tradición) escribía en un espejo
y los hombres leían el reflejo
en aquel otro espejo que es la luna.
De hierro hay una selva donde mora
el alto lobo cuya extraña suerte
es derribar la luna y darle muerte
cuando enrojezca el mar la última aurora.
(Von einem anderen Mond aus Blut und Scharlachrot / sprach Johannes in seinem Buch, das Wunder und Schrecken verheißt. / Andere Monde sind klarer als Silber. // Pythagoras schrieb einst mit Blut auf einen Spiegel (so sagt es eine Tradition) und die Menschen lasen die Worte / im Licht jenes anderen Spiegels, der der Mond ist. // In einem Wald aus Eisen lebt der große Wolf / dessen Schicksal ihm bestimmt, den Mond zu überwältigen und zu töten / wenn das Meer rot im Anbruch des letzten Tages aufleuchtet.)
Im zweiten Gesang der „Aeneis“ heißt es bei Vergil:
Et iam Argiva phalanx instructis navibus ibat
a Tenedo tacitae per amica silentiae lunae
litora nota petens
Das Heer der Argiver verließ mit gerüsteten Schiffen
Tenedos, und unter der freundlichen Stille des schweigenden Mondes
Glitt es hin zum Ufer, das ihn vertraut war.
Was das Schweigen des Mondes im Plural betrifft, so bezieht sich Oscar Wilde in diesem Fall auch auf die Zunftgenossen John Keats und Robert Browning:
Als wir aus dem Kloster traten, war es bereits Nacht geworden, und das Mondlicht warf phantastische Schatten durch die Blätter auf den Weg, als wir durch einen Wald zum Ufer hinabgingen.
„Du erinnerst dich doch an die Worte Vergils – per amica silentia lunae – sie sind mir immer wunderbar vorgekommen; der schönste Vers, der je über den Mond verfaßt worden ist – mit Ausnahme der Zeile von Browning, in der er Keats erwähnt. Ich bewundere dieses ‚amica silentia.‘ Was war das für eine feine Natur, die das ‚freundliche schweigen des Mondes‘ spüren konnte.“ (Frank Harris, Oscar Wilde: His Life and Confessions, New York: Brentano’s, 1916, Band II, S. 473.)
„…die stille Freundschaft des Mondes / (ich zitiere Vergil falsch) begleitet dich“: Die Anfangszeilen des Gedichts „La cifra“
La amistad silenciosa de la luna
(cito mal a Virgilio) te acompaña
desde aquella perdida hoy en el tiempo
noche o atardecer en que tus vagos
ojos la descifraron para siempre
en un jardín o un patio que son polvo.
¿Para siempre? Yo sé que alguien, un día,
podrá decirte verdaderamente:
No volverás a ver la clara luna,
Has agotado ya la inalterable
suma de veces que te da el destino.
Inútil abrir todas las ventanas
del mundo. Es tarde. No darás con ella.
Vivimos descubriendo y olvidando
esa dulce costumbre de la noche.
Hay que mirarla bien. Puede ser la última.
Das Zeichen
Die schweigende Freundschaft des Mondes (ich zitiere
Vergil hier falsch) begleitet dich seit jener
Jetzt von der Zeit verschlungenen Nacht,
In jener Dämmerung, als deine trüben Augen
Ihn zuerst lesen lernten, in einen Garten
Oder einem Hof, die jetzt für immer Staub sind.
Für immer? Ich weiß: eines Tages sagt jemand
Und der die Wahrheit spricht, zu dir:
Du wirst den hellen Mond nie wieder sehen.
Du hast die Zahl der Blicke, die
Das Schicksal dir bestimmt hat, jetzt erschöpft.
Vergebens reißt du alle Fenster auf.
Es ist zu spät. Du findest ihn nicht mehr.
Wir leben, weil wir dies vergessen:
Diese Gewohnheit, die die Nacht schön macht.
Sieh ihn gut an. Vielleicht ist dies das letzte Mal.
(„Cifra“ meint gewöhnlicher im Spanischen „die Ziffer,“ aber das Wort steht auch die die „Chiffre,“ das verschlüsselte Zeichen oder Symbol, das offensichtlich der Bedeutung von Borges‘ Versen eher angemessen ist als das nüchterne Zahlzeichen.)
Bei „Tiempo Argentino,“ der Zeitung, in der die Dialoge zwischen Borges und Ferrari in Druckform erschienen, war ein wenig glücklicher Versuch des Verlegers Raúl Horazio Burzaco (1930-2004), sich auf dem argentinischen Zeitschriftenmarkt eine Marktlücke zu erschließen: eine Tageszeitung im großen Format, dessen Schwerpunkt auf großformatig bebilderten Reportagen über die laufende Fußball- und Baseballsaison lag, sich daneben aber auch noch einen Kulturteil leistete. Die erste Nummer erschien am 27. November 1982, aber die redaktionelle Mischung erwies sich als wenig leserfreundlich, da die Sportfans wenig Interesse an Hochkultur zeigten, während das eher intellektuell eingestimmte Bürgertum seinerseits kein Fiable für Wettkämpfe in der Arena aufbrachte. Nach weniger als vier Jahren erschien am 12. September 1986 die letzte Ausgabe. (Mit der seit 2010 ebenfalls in Buenos Aires erscheinenden Tageszeitung gleichen Namens, die vom Verleger Sergio Szpolski begründet wurde und sich als „progressiv, pluralistisch, demokratisch und engagiert“ versteht, hat das Blatt nur eben -den Namen gemein.)
* * *
Borges hatte Maria Kodama 1966 während eines der Seminare, die er an der Universität von Buenos Aires über englische und altnordische Literatur als Gastdozent abhielt, kennengelernt Kodama, 19337 als Tochter einer aus der Schweiz stammenden Mutter und eines japanischen Vaters 1937 in Buenos Aires geboren, hatte einen Kurs belegt, den Borges über die isländischen Sagas veranstaltete, die ihn seit seiner Jugend fasziniert hatten (seinen ersten kleinen Essay über die „Kenningar,“ die alliterierenden Metaphern des altnordischen Sagas, „Noticia de los Kenningar,“ erschien 1932 im fünften Heft der von Victoria Ocampo herausgegebenen Literaturzeitschrift „Sur,“ die bis Ende der vierziger Jahre das wichtigste Publikationsorgan für Borges‘ Essays und Erzählungen darstellte. Seine maßgebliche Darstellung „Los Kenningar“ erschien im Jahr darauf als eigenständige Broschüre mit einem Umfang von 26 Seiten). (Von „Sur“ erschienenen zwischen 1931 und 1966 isgesamt 331 Ausgaben, und bis zur Einstellung der Magazins 1992, elf Jahre nach dem Tod der Gründerin, weitere 66 Nummern.) Während seiner Zeit als Gastdozent ab Mitte der fünfziger Jahre hatte sich dieses Interesse zu einer Faszination ausgeweitet, und Borges, der seit 1955 vollständig erblindet war, empfand das Erlernen dieser Sprache, nicht zuletzt aufgrund der nahen Verwandtschaft mit dem Altenglischen als ein probates Mittel, seinem Geist die Sprungkraft zu erhalten. Dazu trug nicht zuletzt die Mischung aus Vertrautem und völliger Fremdheit bei, die die Sprache des „Beowulf“ auch für einen englischen Muttersprachler ausmacht. Borges war in seinem Elternhaus zweisprachig aufgewachsen; mit seiner Großmutter Fanny Haslam, die aus Schottland stammte, hatte er von kleinauf an Englisch parliert (bei den Gewohnheiten, in auf Englisch geführten Interviews etwa Fragesätze mit einem nachgestellten ¿no? Wie im Spanischen abzuschließen, handelt es sich um eine bedächtig gepflegte, „auf exotisch gemachte“ Marotte – sobald Borges sich des Französischen bediente, wie etwa an Gastvorträgen an der Sorbonne, ist von dergleichen nichts mehr zu hören.)
Nach Borges‘ desaströser Ehe mit der frisch verwitweten Elsa Astet Millán (1910-2001), die er 1967 auf Drängen seiner Mutter heiratete, und von der er sich drei Jahre später trennte, entwickelte sich ab Anfang der siebziger Jahre das Verhältnis zu seiner ehemaligen Studentin zu dem, was Ernst Jünger bei der Gelegenheit des Besuchs des Paars in Wilflingen im Herbst 1982 als „ein fast symbiotisches Verhältnis“ bezeichnete.
Wilflingen, 27. Oktober 1982
Borges ist seit Jahren fast völlig erblindet; er kam begleitet von einem jungen Mann, der ihm vom Auswärtigen Amt attachiert worden war, und seiner Betreuerin. Die wenigen Stunden hier im Hause ließen uns ermessen, daß sie nicht nur eine unschätzbare Hilfe für den Blinden, sondern zu seinem anderen ich geworden ist. Sie führte ihm die Hand zum Glase, wenn er trinken wollte, und zu einem Stück Kuchen, bevor er darum bat, und wirkte in jeder Hinsicht wie ein ihm zugeordnetes Organ.
Die Unterhaltung zwischen uns fünfen, die wir in der Bibliothek saßen, war polyglott: deutsche, spanische, französische und englisch Sätze durchkreuzten sich. Borges rezitierte auf deutsch Angelus Silesius, auch altenglische Verse; dabei wurde seine Sprache deutlicher, als ob er auf seine Jugend zurückgriffe. Ich bedauerte, daß ich nicht Spanisch gelernt hätte, um Cervantes und Quevedo im Urtext lesen zu können – natürlich auch Borges. (…) Borges hat seit sechzig Jahren meine Entwicklung verfolgt. Als erstes meiner Bücher las er ‚Bajo la Tormenta de Acero,’ das 1922 im Auftrag der argentinischen Armee übersetzt wurde. ‚Das war für mich eine vulkanische Explosion.‘“ („Siebzig verweht III,“ Stuttgart: Klett-Cotta, 1993, S. 191-92)
Der Protokollant vermutet an dieser Stelle, daß Borges hier möglicherweise der Höflichkeit gefolgt ist, nach der man im Hause des Gehängten darauf verzichten soll, vom Strick zu sprechen. Die einzige Bezugnahme, die sich in seinem Werk auf Jünger findet, ist eine kurze Rezension, die Borges im Rahmen der Kolumne verfaßt hat, die er zwischen 1936 und 1939 im zweiwöchigen Turnus für die Frauenzeitschrift „El Hogar“ („Der Herd“) verfaßt hat. Der biedere Titel soll nicht in die Irre führen: „El Hogar“ wandte sich an das moderne, gehobene Bildungsbürgertum, und entsprach somit in etwa ihrem deutschen Pendant „Die Dame“, die bis etwa 1940 in Berlin noch ein weitgehend unabhängiges Forum der „inneren Emigration“ darstellte. Im Rahmen der Vorstellungen zahlreicher Neuerscheinungen in englischer, französischer und italienischer Sprache stellte Borges dort am 1. Oktober 1937 auch Jüngers kleiner Schrift „Der Kampf als inneres Erlebnis“ vor. (Gisbert Haefs, der 1994 beim Hanser Verlag eine Auswahl aus dieser Kolumne zusammengestellt hat, hat diese Besprechung nicht darin aufgenommen.)
(JLB im Oktober 1982 zu Besuch in Wilflingen)
„Der Kampf als inneres Erlebnis“ von Ernst Jünger
Der unvergleichliche Dr. Johnson, der einmal erklärte: ‚Der Patriotismus ist die letzte Zuflucht eines Schurken‘‘, schrieb um das Jahr 1777 herum auch: „der Beruf des Seemanns und des Soldaten zeichnet sich durch die Würde aus, die die Gefahr verleiht.‘ Dieser kurze Text von Ernst Jünger ist eine Rechtfertigung des Krieges: in ihrem Zentrum steht die Würde, die aus der Gefahr erwächst.
Der Fall von Ernst Jünger ist merkwürdig. Mit 19 Jahren kämpfte er in den Schützengräben der Westfront; mit 24 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel ‚In Stahlgewittern‘ (Entre las huracanes de Acero), in dem er den Krieg lobt und ihn würdigt. Dieses erste Buch war als Erzählung gehalten; es möchte eine mystische Auffassung des Kampfes begründen und beschreiben.
Für Ernst Jünger ist der Krieg kein Mittel zum Ziel, sondern ein Zweck an sich. Er ist die intensivste Erfahrung, zu der der Mensch fähig ist; es ist eine Aktivität, die um ihrer selbst willen geschieht – so wie die Kunst oder die Ausübung der Religion. Es handelt sich um etwa, das (wie die Kunst und die Religion) eine besondere Gabe und eine Ausbildung darin erfordert.
„Die Gabe, sich in den Krieg wie in den Sternenhimmel oder in Musik zu vertiefen,“ schreibt Ernst Jünger, ist nur wenigen vergönnt. Die anderen, die den Krieg nicht als eigene Bestätigung erleben, sondern nur als Schmerz und Leid erfahren, erleben ihn nach der Art von Sklaven, nicht nach der freier Männer.“
Mit anderen Worten: für Jünger ist der Krieg eine Kunst, die einer Minderheit vorbehalten ist oder eine Art exotischer Glaube. Viele werden dazu aufgerufen – mitunter alle, etwa, wen eine Stadt bombardiert wird – aber nur wenige sind dafür auserwählt.
Die Sicht folgt einer strikten Logik: Jüngers mystische Sicht auf den Krieg schließt den Haß aus – nicht aber die Grausamkeit. Wie kann ein Soldat seinen Gegner hassen, ohne den er nichts ist? Jünger, der Soldat von 1914, schreibt gegen den Haß an: diese bösartige Leidenschaft bleibt den Zivilisten und den Schriftstellern vorbehalten. In seinem Buch finden sich viele Erzählungen von Heldenmut; manche von ihnen preisen den Mut der französischen, englischen oder amerikanischen Soldaten.
Es ist bedauerlich, daß dieser Soldat bei der Abfassung auf die Kürze und Lakonie verzichtet hat, die sein Thema erfordert. Stattdessen gefällt er sich in einer Aneinanderreihung sinnloser Metaphern: „die Knochenfaust des Deliriums, die sich die Gehirne unterwirft“ (Seite 86), „die Knochenhand des Todes auf den verwüsteten Feldern“ (Seite 19). Bei ihm heißt es nicht: „..während der Kampf einige Zeit nachließ...“ sondern er spricht in seinem allegorischen Furor von „den Spielpausen, in denen der Kriegsgott mit seiner eisernen Keule weniger auf die Erde einschlägt.“ Ich übertreibe nicht; der ungläubige Leser möge auf Seite 22 nachschauen.
(El Hogar, 1° de Octubre de 1937; ich entnehme den Text den Band „Borges en El Hogar,“ Emecé Editores, 2000)
Kleine Adnote des Übersetzers: ich habe hier nach dem spanischen Zitat in Borges‘ Rezension übersetzt. Im Original lautet die Stelle bei Jünger:
Auch zu Zeiten der Trockenheit und wenn der Kriegsgott selten die stählerne Keule auf den Boden stampfte, waren hundert starre Augen auf das Vorland, auf die andere Seite gerichtet. Hundert Ohren hingen ewig an den wechselnden Stimmen der Nacht, dem Ruf eines einsamen Vogels, dem Klirren des Windes im Draht. Schlimmer als die schnellen Stunden offener Feldschlacht war diese ewige Bereitschaft, das Auf-der-Lauer-Liegen, Anspannung aller Sinne, Erwartung mörderischen Begegnens, während Wochen, Monate versickerten. (zit. nach der zweiten Auflage, Berlin: Mittler & Sohn, 1926, S. 22)
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Osvaldo Ferrari war nicht der einzige, mit dem Maria Kodama durch ihre, wie Kritiker fanden, selbstherrliche Vereinnahmung des Nachlasses von Borges im Zwist lag. Die jahrzehntelange Freundschaft mit seinem ältesten Freund und literarischen Weggenossen Adolfo Bioy Casares (1914-2000) ist daran in die Brüche gegangen; auf ihr Betrieben hat hin hat der Verlag E. P. Dutton dem Übersetzer Norman Thomas di Giovanni, de4r seit Ende der sechziger Jahre Borges‘ Stammübersetzer ins Englische war, die Verträge gekündigt, weil die Erlöse aus den Verkäufen paritätisch zwischen Autor und Übersetzer geteilt wurden. Nach einem jahrelangen Streit mit dem französischen Verlag Gallimard um die Veröffentlichung der Œuvres completes verklagte sie den Autor Pierre Assouline, der sie im „Nouvel observateur“ ein „Hindernis bei der Pflege von Borges‘ Werk“ genannt hatte, im Sommer 2006 auf einen symbolischen Schadensersatz von einem Euro. Der Prozeß zog sich bis zum Mai 2010 hin. Zum letzten kleinen Skandalon kam es Ende 2019, als Maria Kodama sich weigerte, Manuskripte von Borges, der der Geschäftsmann Alfredo Roemmers ihr für die Ausstattung eines geplanten Museums zum Andenken an den Schriftsteller schenken wollte, anzunehmen. Die Begründung: die Papier seien aus Borges‘ Haushalt gestohlen worden. Roemmers konnte allerdings nachweisen, daß er die Blätter rechtmäßig erworben hatte. In Argentinien wirbelte die Causa immerhin so viel Staub auf, daß sich sogar Staatspräsident Alberto Fernández in der Sacher zu Wort meldete.
Am 26. März 2023 ist Maria Kodama in der Stadt Vicente Lopez in der Nähe von Buenos Airs in Alter von 86 Jahren an Brustkrebs gestorben.
Der Kleine Zeichendeuter, der mir beim Schrieben stets über die Schulte schaut (für zur Ägide Umberto Ecos und Carlo Ginzburgs wurden solche Leute als „Semiotiker“ bezeichnet, aber seit Dan Browns Robert Langdon aus dem „Da Vinci Code“ kennt man sie nur noch als „Symbolologen“), der Kleine Haruspex also bemerkt an dieser Stelle, daß in Borges erstem Prosaband, der kleinen Sammlung von „imaginären Lebensläufen“ nach dem Vorbild von Marcel Schwobs „Vies inaginaires“ von 1896 (im Deutschen auch als „Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe“ bekannt), der „Historia unversal de la infamia,“ 1935 als kleines Buch beim Verlag Tor in Buenos Aires verlegt, bereits das Porträt einer leicht zwielichtigen Witwe mit ostasiatischem Hintergrund findet: „La viuda Ching, pirata,“ das in der Wochenzeitschrift Crítica: Revista Multicolor de los Sábados am 26. August 1933 vorabgedruckt worden war und iin der ersten Buchausgabe noch den Untertitel „pirata puntual“ trug: ein durch Legenden ausgeschmückter Lebensabriß der chinesischen Seeräuberin Zheng Yi Sao (鄭一嫂), die tatsächlich von 1775 bis 1844 in Südchina lebte und zwischen 1801 und 1810 die Küstenbereiche nördlich und südlich von Kanton (heute nur noch unter den Mandarin-Namen Guangdong bekannt) unsicher machte – dem einzigen Hafen im Reich der Mitte, der vor den „ungleichen Verträgen als Folge des verlorenen ersten Opiumkriegs für die Schiffe des Westens offenstand. Nachdem ihr Gemahl, Zheng Yi (der überlieferte chinesische Name bedeutet schlicht nur dies: „die Frau von Zheng Yi“) bei einem Sturm über Bord gegangen und ertrunken war, bedrohte sie mit ihrer Flotte von 200 hochseetüchtigen Dschunken und 60.000 Halsabschneidern den Küstenhandel derart, daß ihr der Gouverneur von Kanton eine Amnestie und den Einbehalt ihrer Beute anbot, wenn sie im Gegenzug auf die Seeräuberei verzichten würde. Die Witwe Zheng verbachte den Rest ihres Lebens in Kanton und beteiligte sich am damals aufblühenden Opiumhandel bis sie friedlich im Alter von 69 Jahren, anders als die meisten ihrer ihre Berufskollegen wie Klaus Störtebecker, Henry Morgan oder William Kidd, friedlich im Bett starb.
Aber das ist eine andere Geschichte.
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PS.
Weiter oben habe ich in Bezug auf die Zeitschrift „El Hogar“ geschrieben, daß der „biedere Titel nicht täuschen soll.“ Um einen kleinen Eindruck zu geben, in welcher Art von Journal Borges im 14-tägigen Wechsel mit seinem Zunftkollegen José Bianco (1908-1986) zwischen Oktober 1936 und Juli 1939 seine kurzen Ausflüge in die Welt der Belles Lettres unternahm – wobei Bianco das Segment „Libros y autores de idioma español“ abdeckte, während sich Borges um den kleinen Rest der Welt kümmerte („Libros y autores extranjeros“), möchte ich zum Abschluß eine kleine Bilderstrecke aus dieser Illustrierten bringen – angefangen mit Borges‘ „Guia de lecturas“ aus der Nummer 1437 vom 30. April 1937, an deren Kopf eine kleine „biografía sintetica,“ eine Kurzvorstellung eines Autors steht, der in diesem Netztagebuch kein ganz Unbekannter sein dürfte: Edward John Moreton Drax Plunkett, achtzehnter Baron Dunsany (1878-1957), dem Borges auch den achten Band seiner „Bibliothek von Babel“ gewidmet hat. „El Hogar,“ von dem Verleger Alberto M. Hayes als kulturell anspruchvolle Frauenzeitschrift gegründet, die sich, wie oben erwähnt, an der großstädtische Bildungsbürgertum richtete, erschien zuerst am 30. Januar 1904 unter dem Titel „El Consejero de Hogar“ (etwa: Der Küchenratgeber) im zweiwöchigen Turnus; zwei Jahre darauf wurde der Titel geändert und die Erscheinungsweise auf wöchentlich umgestellt. Gründer war Albert M. Haynes, geboren 1865 und 1887 nach Buenos Aires ausgewandert, der in der Neuen Welt als „Alberto Haynes“ firmierte, zudem der Begründer der Tagezeitung „El Mundo“ war und im Juni 1929 starb.
(Titelbild von "El Hogar" vom 30. April 1937)
(Da die Ausgabe der Zeitschrift vom 30. Oktober 1937, aus der die oben übersetzte Besprechung von Ernst Jüngers Buch entnommen ist - auch den diversen Archiven des Weltnetzes - noch - nicht verfügbar ist, habe ich mich statt dessen für die übernächste Nummer vom 12. November 1937 entschieden, um einen kleinen Eindruck das Anblätterns zu vermitteln.)
(Aus heutiger Sicht mutet es etwas amüsant - oder bizarr, je nach Standpunkt - an, daß vor 85 Haiti als touritisches Ausflugsziel empfohlen worden ist, "aufgrund seiner landschaftlichen Schönheiten")
Weiter oben habe ich auch die Jahre erwähnt, in denen sowohl „Sur“ wie „Tiempo Argentino“ ihr Erscheinen eingestellt haben. Wenn ich das im Fall von „El Hogar“ unterlassen habe, so hat das seinen guten Grund: das Magazin erscheint nach wie vor – mittlerweile im 121. Jahr. Zum Abschluß gibt es einen Blick in die gerade aktuelle Ausgabe des Magazins.
(Auch Lesern, denen das Spanische eher .... spanisch vorkommt, dürften "ensalada de pasta" ohne Mühe als Nudelsalat erkennen. Und Orecchiette sind jene kleinen, halbrunden Nudeln, die uns in unseren Breiten eher aus Nudelsuppen bekannt sind.)
Aber daß ein Ausflug zum Mond einmal mit einem Rezept für Nudelsalat enden würde, hätte sich selbst der Kleine Zyniker nicht träumen lassen.
U.E.
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