"Caishen! Caishen!" rumorte Jiang Dongli unter der hochgeklappten Motorhaube des maroden Zweitonners, der wie eine gestrandete Schildkröte so schräg am Rand der Schlammpiste stand, daß er jede Sekunde in das gelbe Brackwasser des Grabens abzurutschen drohte, der das Feld dahinter halb überschwemmt hatte. "Der Gott des Glücks ist mir gewogen. Ich kann mir keine bessere Weise vorstellen, den Doppel-Neunten (*) zu feiern, als im eisigen Regen einen abgesoffenen Motor gesundzupflegen, der mindestens zehntausend Jahre gelebt hat, während es stimmungvoll dunkel wird und nirgends ein Dorf zu sehen ist. Nicht mal ein Teehaus. Und das in Shandong, zehntausend Li von dem einzigen Ort, an dem ich jetzt sein sollte. Leuchtest du mal? Hier ist es dunkel wie in Buddhas..." - "Du hast recht," pflichtete ihm Cong Fengnian bei. während er versuchte, den Lichtkegel der klobigen Taschenlampe an Jiangs massigem Rücken auf irgendwelche bedeutsamen eisernen Eingeweide zu richten. "Du steckst unter dem Dach, und ich stehe hier unter den Tränen des Himmels." - "笨蛋! (**) Jedem Menschen ist ein Gleichmaß an Glück und Unglück zugemessen. Als Ausgleich werden mir hierfür drei Jahre lang Mißmut und angebrannte Nudeln und deine Witze erspart bleiben." Dann wandte er sich wieder seiner hoffnungslosen Aufgabe zu, die aus Congs Perspektive darin zu bestehen schien, mit dem Schraubenschlüssel Trommelwirbel auf dem Motor zu üben.
In diesem Moment fühlte er durch seine wattierte Jacke einen leichten, aber höchst bestimmten Druck im Rücken. Und eine Stimme, die sagte: "Ich möchte die ehrenwerten Herren nicht stören. Aber ich würde raten, sich ruhig zu verhalten, keine hastigen Bewegungen zu unternehmen und sich langsam umzudrehen. Und Shitzu kann sehr ungehalten werden, wenn es sein muß." Cong wandte sich mit einer, wie er hoffte, angemessenen Ruhe zu dem Sprecher um und sah einen großgewachsenen Chinesen vor sich, der nach englischer Mode in Breeches, eine Lodenjacke und hüfthohe Lederstiefel gekleidet war und neben dem ungeachtet des Namens kein Löwenhund, sondern eine höchst eindrucksvolle dänische Dogge zu erkennen gab, daß ihr nicht der Sinn nach Späßen stand. Die Läufe der Flinte im Arm des Neuankömmlings waren jetzt direkt auf Congs Brust gerichtet. "Kein Räuber!" entfuhr es ihm, sowohl aus Erleichterung wie auch, um Jiang vorzuwarnen. Weder Banditen noch versprengte Soldaten würden in einem solchen Aufzug daherkommen; und sie würden keine Wachhunde dabeihaben. - "Seid ihr allein?" "Wir sind allein. Wir hatten gehofft, es heute bis Jinan zu schaffen, aber irgendwann haben wir aufgehört, die Umwege zu zählen, und jetzt..." - "Wir sind ebenfalls keine Rotbärte," erklärte Jiang, überflüssigerweise, der mittlerweile aus seiner Versenkung aufgetaucht war. "Es wäre die erste Räuberbande, die nur aus zwei Generälen besteht," kam zurück. "Aber in diesen unsicheren Zeiten kann man nie vorsichtig genug sein."
* * *
Während das Essen aufgetragen wurde, bemühten sich Cong und Jiang darum, die kleine Episode nicht zu erwähnen, und zwar so, daß es nicht auffiel, daß sie nicht erwähnt wurde. Erleichtert wurde das dadurch, daß ihr Gastgeber sich als ein Ausbund an Neugier entpuppte, der sich alles aus Shanghai berichten ließ, von wo Cong und Jiang sich vor vier Wochen auf den Weg in den Norden gemacht hatten, alles über die wechselvollen Verhältnisse auf diesem Weg, und nicht zuletzt, welche Art von speziellem Wahnsinn zwei unbegleitete und unbewaffnete Reisende im Jahr siebzehn der Republik dazu trieb, ihr Schicksal ausgerechnet in der unruhigen Provinz Shandong aufs Spiel zu setzen. "Unbewaffnet nicht ganz," sagte Jiang. "Wir haben einen Colt und zwei Smith & Wesson unter den Sitzbänken versteckt. Aber natürlich hat man uns auch erzählt, daß wir damit womöglich unser Todesurteil unterschreiben, wenn uns eine Horde Rotbärte damit erwischt." "Oder gar Soldaten," antwortete Herr Chen. "Sie wissen ja, das Sprichwort sagt, daß es fast so schlimm ist, Soldaten in die Hände zu fallen wie Räubern, egal ob als Frau oder Mann." "Von General Feng haben wir das Gegenteil gehört; er soll seine Truppen mit eiserner Hand disziplinieren." "Er diszipliniert auch die Bauern und Städter mit eiserner Hand. Es braut sich hier einiges zusammen, es würde mich nicht wundern, wenn es noch in diesem Jahr zu einem neuen Aufstand kommen würde. Und dann mögen die Himmlischen denen Gnade erweisen. General Feng Yuxing wird es jedenfalls nicht tun." "Wir hatten gehofft, daß nach der Großen Nördlichen Expedition in dieser Provinz einigermaßen sichere Verhältnisse eingekehrt sein würden." "Hier im Westen, ja. Han Fuju steht - zumindest jetzt noch, auf der Seite der Generalissimus Tschiang, als General der elften Division. Wer weiß, wie lange noch?" "Stimmt es, daß das - mit der Disziplin - daran liegt, daß General Feng Christ sein soll? Stimmt es, daß er seine Truppen mit Massentaufen bekehrt, indem er die Feuerwehr mit Löschschläuchen ausrücken läßt?" Herr Chen mußte, ganz überraschen, schallend lachen, was man ihm bei seinem ernsten und fast melancholischen Benehmen nicht zugetraut hätte. "Bauern und Zeitungsschreiber glauben gerne solche Geschichten! Nein. General Feng ist es mit seinem Glauben nach allem, was man hört, ernst. Er würde sich nicht darüber lustig machen. Es wäre auch höchst unvorsichtig. In seiner Truppe dienen viele Moslems und Mongolen. Aber ich kann mir vorstellen, daß solche Gerüchte verbreitet werden, um unter seinen Soldaten Stimmung gegen ihn zu machen."
Dann erkundete sich Herr Chen wieder danach, welcher Leichtsinn seine Gäste angetrieben hatte. Oh ja, Filme kenne er. Man sei hier zwar weder in Shanghai noch in Nanking noch in Beiping (***), aber völlig unbekannt sei die Moderne nicht. Es gebe sogar im Haus ein Grammophon. Nein, von einem Studio 龙电影, Long Dianying, Drachenfilm, habe er niemals gehört. "Wie niemand sonst," meinte Cong melancholisch lächelnd. Er berichtete, wie er auf einer Reise nach Hong Kong eine Filmkamera erstanden hatte, die aus Mangel an Ersatzteilen von einer amerikanischen Filmcrew als wertlos zurückgelassen worden war; wie er und Jiang (Jiang mit seinem unbzweifelbaren mechanischen Talent, jedenfalls) das Malteserkreuzgetriebe halbwegs wieder hergerichtet hatten. Wie ihn die Belichtung der Einzelbilder auf die Idee gebracht hatte, mit Scherenschnitten kleine Episoden aus den Legenden oder den klassischen Romanen zu inszenieren: die Brücke der Amseln am Himmel, die es dem himmlischen Hirten und dem Webermädchen einmal im Jahr ermöglichen, sich eine Nacht lang zu treffen, Chang'e, die das Elixir der Unsterblichkeit, das ihr Gatte Yi, der die neun Sonnen vom Himmel geschossen hatte, gestohlen hat, verbotenerweise trinkt und zur Strafe in den Mond versetzt wird ("Hat sie es nicht getrunken, damit es nicht seinem Gehilfen Fengmeng in die Hände fiel?" fragte Herr Chen. "Wir haben beide Fassungen verfilmt," sagte Jiang), der Schwur der drei Generäle aus der Geschichte der Kämpfenden Reiche . "Dafür braucht man kein großes Studio," sagte Cong. "Unser kleines Dachgeschoß ganz am Ende der Bubbling Well Road reichte aus." Wie sie ihre kurzen Streifen den immer zahlreicheren Kinos in Shanghai als Vorprogamm angeboten hatten. "Es war nicht ganz einfach. Sie wissen, daß fast alle Kinos feste Verträge mit einem der großen Studios haben, mit Changcheng Dianing, dem Studio 'Große Mauer', oder der Star Motion Picture Company." Nein, es war nicht einfach, denn natürlich wollten die Studios die völlige Kontrolle und am liebsten jeden Yuan einbehalten. "Aber wir konnten in unseren besten Zeiten alle zwei oder drei Wochen einen kleinen Film liefern. Und niemand hat diese Art von Film gemacht. So konnten wir uns ein wenig Freiheit erkämpfen." Kleine nachgestellte Szenen aus Pekingopern kamen nach ein paar Jahren hinzu; Artisten schlugen Salti, Magier zauberten Blumensträuße und ganze Gingkobäume aus ihren Hüten; ein Hase verwandelte sich in einen Hahn. Congs liebste Erinnerung war an ihre Umsetzung von der Erzählung von Meng Longtan aus dem Liaozhai von der bemalten Mauer, in deren Bildern sich Meister Meng plötzlich wiederfindet, und der Erzählung vom "Gemalten Pferd", das nach dem letzten Pinselstrich des Künstlers lebendig wird und davongaloppiert. Nun, dabei wäre es auch geblieben, bis zu jenem verhängnisvollen Tag im vergangenen Jahr, als eine der mittlerweile angeschafften Jupiterlampen explodierte und sie entdecken mußten, mit welcher Gewalt Nitratfilm in Flammen aufgeht. Eine einzige Kamera, ironischerweise auf Jiangs Werksbank in ihre Bestandteile zerlegt, hatte das Inferno überstanden.
Cong und Jiang hatten ihre Optionen überschlagen. "Die Große Nordische Expedition war gerade abgeschlossen; in allen Zeitungen hieß es, China würde jetzt wieder Frieden bevorstehen, Tschiang ließ die 'Wiedervereinigung Chinas' ausrufen. Wir dachten uns, wir könnten es zumindest versuchen, ein paar Bilder von diesem neuen Land einzufangen. Wir könnten uns von denen, die viel gesehen und erlebt hatten, einiges erzählen lassen und das als Texttafeln zwischen die Szenen von Tempeln, von alten Marktplätzen und Festungen montieren." "Gibt es genügend Filmbesucher, die das auch lesen können?" "Nein, auch in Shanghai nicht. Aber es gibt Leute, die das laut vorlesen. Auch wenn ich mitunter glaube, daß sie nicht einmal die Hälfte wirklich lesen können und den Rest nur dazuerfinden." Die Vorbereitung hatte länger gedauert, als sie geplant hatten; nicht zuletzt die Organisation des Lastwagens warf erhebliche Schwierigkeiten auf. Cong und Jiang erwähnten vorsichtshalber nicht, was sie auf manchen Etappen ihrer Fahrt in den Norden an heimlicher Fracht unter ihrer Filmausrüstung versteckt transportiert hatten. Der Süden war als Ziel von vornherein ausgeschieden. Jianxi, Fujian und Guangdong waren die Rückzugsgebiete von Maos Kämpfern, nachdem General Tschiang die Kommunisten mit einer wahrhaft blutigen Säuberung im April 1927 aus Shanghai und Nanking vertrieben hatte. "Und als wir losfuhren, hörten wir vom Aufstand der Roten Speere in Shandong. Wir wollten ursprünglich nach Qingdao und Yantai; aber jetzt ist unser Ziel Liaocheng oder Jinan."
Herr Chen nickte. "Es sind unsichere Zeiten, und sie bleiben unsicher. Vielleicht ist es gut, wenn man versucht, die alten Städte, die alten Marktplätze für die aufzubewahren, die nach uns kommen werden. Die alten Geschichten...und dann wieder denke ich: nein. Nicht alle alten Geschichten. Nicht die, die niemanden angehen. Nicht die von Schmerz und Trauer, die kein gutes Ende haben. Und doch...Man fragt sich, wozu sie dann passiert sind. Wenn sie aussterben. Wenn sich niemand an sie erinnert. Wir sind in China, und so viele unserer Geschichten kennen nur Leid und Tod. Betrug und Verlust. Mandarinenten und Schmetterlinge (*****) mögen nett zu lesen und zu hören sein, aber wieviele Enten enden im Topf? Und wieviele Schmetterlinge verbrennen im Licht oder werden von der Katze in Fetzen gerissen?"
Er überlegte kurz. "Ich weiß: es ziemt sich nicht. Die Geschichte, an die ich gerade denke, ist eine Familiengeschichte. Sie geht niemanden etwas an außer uns. Niemand sonst kennt sie. Und dennoch... Vielleicht ist es gut, wenn ich sie Ihnen, die ich gar nicht kenne, einmal erzähle. Damit Sie wissen, was man Ihnen erzählen könnte - und nicht erzählen wird. Damit sie noch jemand kennt außer den wenigen Mitgliedern unserer Familie, die noch am Leben sind. Und wenn Sie sie erzählen werden, wird niemand wissen, daß es in Chen Zuoqians Familie passiert ist. aber die Geschichte wird weiterleben - vielleicht." Er winkte einem der Dienstboten, ein paar Flaschen Reiswein zu öffnen und sie allein zu lassen. Nachdenklich zündete er sich eine Zigarette an und sah dem aufsteigenden Rauch nach.
"Ich habe wohl gemerkt, daß Sie draußen am Eingang die Begegnung mit --- nun, mit Songlian verstört hat. Sie waren so höflich, das Gesicht zu wahren; dafür bin ich Ihnen dankbar, aber sie ist Teil der Geschichte, und ich werde mich jetzt über die Schicklichkeit hinwegsetzen. Sie ist, nun..., sie ist meine Frau. Meine dritte Frau, um genau zu sein. Ich habe sie vor fünf Jahren geheiratet. Ihr Vater war gestorben - nun... Nun ja: ich habe mich entschlossen, auf die Schicklichkeit zu verzichten: er hat sich das Leben genommen, als sein Teehandel bankrott ging. Sie hatte niemanden auf der Welt, der für sie sorgen konnte. Ich bin kein reicher Mann, aber ich bin auch nicht arm. Meishan und Zhuoyun sind über das Alter hinaus, in dem sie mir noch Söhne... noch Kinder schenken könnten. So kam eines zum anderen zusammen. Ich weiß, die moderne neue Zeit findet, daß ein Mann im Alter von fünfzig eine junge Frau, die noch keine zwanzig Jahre zählt, nicht als Gefährtin haben sollte, nicht als Nebenfrau, nicht als Hauptfrau. Es mag in Shanghai so sein und Nanking; aber wir sind auf dem Land, und alte Sitten überwinden sich schwer. Ich konnte ihr ein gutes, geborgenes Leben bieten; ich konnte sie vor all dem bewahren, was jungen Frauen droht, wenn sie keinen Schutz haben. Und, auch wenn ich es sage, und ich sicher nicht der zuverlässigste Zeuge dafür bin: ich glaube, daß sie mich auch geliebt hat, zumindest ei wenig, am Anfang. Aber sie --- nun: sie hat den Verstand verloren. Sie kennt niemanden von uns mehr. Sie lebt in ihrer Welt, in der es nur sie gibt. Und das Gespenst."
Cong bemühte sich, sein Gesicht zur ausdruckslosen Teilnahme einfrieren zu lassen. Ein Gespenst zum Chongyangfest, eine tragische Geschichte von Wahnsinn und Tod zum Chysanthemenfest... "Ein Gespenst?" "Ja. Sie glaubt, daß es in diesem Haus spukt. Sie glaubt, daß hier der Geist eines Fremden umgeht. Nachts hört sie Musik, die im Obergeschoß gespielt wird - als ob dort eine Hochzeit gefiert würde. Nun -" (das "nun" schien Herrn Chens Lieblingswort zu sein) "- es steht leer, seit vielen Jahren. Niemand betritt diese Räume. Das war schon so, als sie in dieses Haus kam. Es läßt sich verstehen, daß das auf eine junge Frau, die nie auf dem Land gelebt hat, unheimlich wirken mag. Sie war immer verträumt und romantisch und neigte zu lebhaften Einbildungen."
"Hinten an der Gartenmauer gibt es einen Brunnen. Er wird auch nicht mehr benutzt - das Wasser ist verdorben und brackig, es liegt das ganze Jahr ein Schleier wie ein Ölfilm darüber - es ist kein guter Ort. Vor allem ist es ein Ort, an dem sich - nun - " (Cong seufzte innerlich) "..mehrere Frauen aus unserer Familie das Leben genommen haben sollen. Es heißt, daß sie sich ertränkt haben. Genaues weiß man nicht. Ich habe ja gesagt, daß manche Geschichten besser vergessen werden. Songlian fing, ein paar Monate nach unserer Hochzeit, an, Stimmen zu hören, die sie aus dem Brunnen riefen. Die ihr sagten, sie solle zu ihnen kommen. Zu ihr. Und sie träumte, das Gespenst wäre nachts zu ihr auf ihr Zimmer gekommen und sei an ihrem Bett vorbeigestrichen. Habe sie berührt. Und Yan'er -die alte, tumbe, abergläubische Närrin, die sie ist - Yan'er ist ihre persönliche Dienerin, und niemand weiß mehr, seit wie vielen Jahrzehnten sie schon in unserer Familie ist, aber eine Närrin, eine ungebildete Bäurin, die kein einziges Zeichen lesen kann, die alles glaubt, was Kinder erschreckt, das ist sie dennoch - Yan'er hat ihr gesagt, daß das der Geist des Deutschen sei."
"Des Deutschen?" "Ja. Nun -" (Cong seufzte innerlich) - "genau hat es niemand gewußt, ob er ein Deutscher war, ein Holländer, ein Schwede. Niemand von uns verstand ein Wort von seiner Sprache. Aber es schien nicht abwegig. Es war - lassen Sie mich überlegen - drei oder vier Jahre bevor die Deutschen ihren Handelshafen in Qingdao eröffnet haben. Er kam eines Tages zu uns; mein Vater las ihn auf der Straße auf, so wie ich Sie heute nachmittag getroffen habe. Er schien verwirrt, er sprach ein paar Worte Englisch, aber niemand hier im Landkreis konnte damit viel anfangen. Sein Chinesisch bestand nur aus ein paar rudimentären Brocken: xiexie, ni hao, chi le ma? - aber er fing an, es schnell zu lernen. Und er konnte sich im Haus und auf dem Hof nützlich machen: er war ein geschickter Handwerker. Eine gebrochene Pflugschar, ein rostiges Scharnier, Schnitzwerk aus Holz: er reparierte es, er fertigte es. Wir haben geschlossen, daß er vielleicht Seemann war, weil er so viele Knoten beherrschte, die nur Seeleute kennen und niemand sonst. Es war in jenem Jahr, als Japan gegen uns den Jinwu-Krieg führte - als die japanische Flotte den Schlachtkreuzer Dingyaun versenkte -" "Soweit ich weiß, hat der Kapitän die Dingyuan versenkt, damit sie nicht den Japanern in die Hände fällt," ward Jiang ein. "Ja, aber das ändert nichts am Ergebnis. Und vielleicht werden Sie sich erinnern - oder auch nicht: wer weiß, welche Schande man in den Zeiten der neuen Republik gern vergessen möchte - daß es fast die gesamte Beiyang-Flotte war, die vor Liuyang verloren ging. Die Dingyuan war ein paar Jahre vorher, sieben oder acht Jahre, auf einer Werft in Deutschland gebaut worden; die Ausbilder für die Matrosen und Offiziere waren Deutsche - und Engländer. (****) Die acht Westler, die den Untergang überlebten, kamen aus Deutschland und England. Niemand weiß, wer unter den Ertrunkenen noch gewesen sein mag. Und ein paar Wochen danach kam der, nun, Gast zu uns. Wir haben deshalb vermutet, daß er zu ihnen gehört haben könnte. Vielleicht hatte er sein Gedächtnis verloren. Vielleicht wollte er sein altes Leben hinter sich lassen, aus welchen Gründen auch immer. Aber niemand wußte es. Er weigerte sich über seine Vergangenheit zu sprechen. Er sagte, er habe kein anderes Zuhause mehr. Niemand hat nach ihm gefragt, niemand suchte ihn. Und so blieb er bei uns. Er hatte keine großen Ansprüche: eine kleine Bretterkammer, ein enges Bett, eine Holzkohlenpfanne für den Winter. Er lehrte die Kinder Zeichnen. Er baute ihnen Drachen und Puppenhäuser; er erzählte ihnen Märchen in seinem putzigen Dialekt; niemand wußte, ob sie aus seiner Heimat stammten oder ob er sie sich gerade ausgedacht hatte. Manche Menschen werden Buddhisten und gehen in ein Kloster; unser Hof war sein Kloster."
Herr Chen zündete sich eine neue Zigarette an. "Es dauerte nicht viele Jahre. Was passierte, geschah kurz, bevor der Aufstand der Bewegung für Gerechtigkeit und Harmonie - ja, im Erfinden von blumigen Namen sind wir Chinesen ganz groß; wenn es eine Hölle gibt, werden wir sie sicher die Halle der Höchsten Harmonie nennen - so viel Unglück über das Land brachte, wieder einmal. Ich war in diesen Jahren nicht viel hier. Mein Vater lebte noch; er war das Familienoberhaupt, und ich - nun -" (Cong seufzte) "ich betrieb einen Teehandel hier, der mich durch ganz Shandong führte und darüber hinaus. So habe ich auch die Eltern von Songlian kennengelernt. Ja ich weiß, es ist verderblich, wenn man kleine Kinder ihren späteren Gatten verspricht. Aber es war eine andere Zeit. So konnte ihr Vater ruhig schlafen. Bis - nun - bis er es nicht mehr konnte. Aber um Songlian geht es nicht, noch nicht. Meine jüngste Schwester, Yuru, sollte heiraten. Auch das stand seit Jahren fest. Die Feier wurde hier im Haus abgehalten. Es waren zahlreiche Gäste - auch aus dem Dorf - man konnte die Köpfe nicht mehr zählen. Es gab die üblichen unzähligen Glückwünsche und 'Langes Leben!' und 'unzählige Söhne!' - Sie kennen die Gebräuche. Nun..." (Cong seufzte) "..vielleicht überrascht es Sie, aber mein Vater war nicht allem Neuen gegenüber verschlossen. Natürlich wußte man in der Nachbarschaft um unseren Gast. Niemand hatte je einen Anlaß gehabt, ihm zu mißtrauen oder ihn für etwas anders zu halten als, nun ja, vielleicht leicht verrückt. Er konnte Possen reißen. Er konnte Taschenspielertricks vorführen. Er konnte jonglieren. Nicht so gut wie die Artisten in den großen Städten, aber auf dem Land ist man mit wenig zufrieden. Er hatte sogar auf gelernt, auf einer Erhu zu spielen, die er allerdings seltsam gestimmt hatte, auf Tonhöhen, von denen wir, von denen ich, damals nicht wußte, daß sie westlich waren. Wir fragten ihn, wie man bei ihm zuhause tanzen würde, und er hatte uns in den Tagen zuvor ein paar Walzerschritte beigebracht. Ich muß zugeben, es sah komisch und wohl auch lächerlich aus - aber es machte uns allen viel Spaß, und ihm auch. Und als Abschluß der Feier, zur Mitternacht, durfte er auch mit der Braut tanzen; schließlich war er der Einzige, der dabei nicht stolperte. Sie drehte sich an seinem Arm durch den Saal über uns. Es sahg aus, als ob sie sich an ihn schmiegte. Wir sahen, daß viele unsere Gäste schockiert dreinsahen. Daß es ein Skandal war. Die Musik - wenn man es Musik nennen kann - setzte aus; das Tanzpaar stoppte. Yuru machte sich los und stürzte die Treppe hinab und in den Garten hinaus. Mein Vater und die halbe Dienstbotenschaft stürzten hinterher; auch der Deutsche. Nun ---" (Cong vergaß zu seufzen) "--- im ganzen Garten war von ihr keine Spur zu finden. Nicht auf dem Weg vor dem Haus. Nicht auf den Feldern im Umkreis. Fackeln wurden organisiert; bis zum Morgen wurde gesucht, bis zum Mittag. Es gab keine Spur von ihr. Und irgendwann an diesem nächsten Tag - an diesem schwarzen, finsteren Tag - kam das Gerücht auf, Yuru habe sich in dem verfluchten Brunnen ertränkt. Es war nur ein Gerücht, aber jeder schien bereit, es zu glauben. Noch schlimmer: der Deutsche habe sie ertränkt. Der Brunnen wurde mit Stangen abgesucht, natürlich fand man nichts. Aber seit dieser Zeit gibt es das Gerücht." - "Und was wurde aus dem Deutschen?" fragte Jiang. "Er war tief getroffen. Er sprach kein Wort mehr. Er schüttelte nur dem Kopf, wenn man ihn ansprach - egal wozu. Er weigerte sich, einen Bissen zu essen. Und vierzehn Tage später starb er." "Ohne daß jemand jemals seinen Namen erfahren hat." "Ohne daß jemand seinen Namen erfahren hat. Wir haben ihm, in dem kleinen Fleckchen von mit Weiden nicht weit von hier, eine kleine Grabstele aufgestellt, ohne sichtbare Zeichen. Nur auf der Rückseite steht ganz versteckt: 'Ein Fremder'. Laowei. Wir befürchteten, daß die Nachbarn das Grab zerstören könnten, wenn sie davon erführen. Natürlich wissen sie es - oder ahnen es zumindest. Die Stelle gilt als verflucht. Manche Frauen wollen ihn in der Abenddämmerung auf seinem Grab sitzen gesehen haben."
"Nun - und als Yan'er Songlian die Geschichte des Deutschen erzählt hat - nicht auf einmal, sondern nur auf vieles Nachfragen, und in vielen kleinen Stücken, da wollte sie um keinen Preis der Welt mehr dieses Haus betreten. Schon der Gedanke an einen Europäer - ob nun lebend oder als Schemen - ließ sie schaudern. Aber wohin hätte sie gehen können? Nun - in gewisser Weise glich da ihr Schicksal dem des Deutschen. Sie fing an zu träumen, er beuge sich nachts über ihr Bett. Sie sah Yurus Hand auf der öligen Wasserfläche des Brunnens auftauchen und ihr zuwinken und nach ihr zu greifen, wenn sie am Rand stand und in die verfluchte Tiefe sah - was bei ihr zu einem Zwang wurde. Seit dieser Zeit ist ihr Verstand verwirrt. Niemand wird ihr helfen können. Sie ist in ihrem Wahn allein."
Herr Chen stand auf und schenkte seinen Gästen ein letztes Glas Wein ein. "Aber ich wäre ein schlechter Gastgeber, wenn ich Sie mit einer solch tragischen und sinnlosen Geschichte zur Nachtruhe schicken wollte. Lassen Sie mich mit ein paar Versen enden. Wir haben den doppelten Neunten, den neunten Tag des neunten Monats. Lassen Sie mich ein paar Verse zitieren." Er stand auf, ging zu dem kleinen Bücherbord hinüber, das neben der Tür stand, zog ein schwarzes Notizbuch hervor und fand nach einigem Suchen einen Zettel, auf dem im klassischer Manier: in senkrechten Kolumnen, von rechts nach links, ein paar Verse in zierlicher Kalligraphie getuscht waren. "Es kommt ein Schlachtfeld vor; es tut mir leid, wenn es nicht wirklich unbeschwert ist. Aber so sind die Zeiten, und selbst dieser Vers ist tröstlich."
人生易老天难老,
岁岁重阳。
今又重阳,
战地黄花分外香。
一 年一度秋风劲
不似春光,
胜似春光
寥廓江天万里霜。
Die Menschen altern - aber der Himmel altert nicht.
Und jedes Jahr findet Chongyang wieder statt.
"Nun - und als Yan'er Songlian die Geschichte des Deutschen erzählt hat - nicht auf einmal, sondern nur auf vieles Nachfragen, und in vielen kleinen Stücken, da wollte sie um keinen Preis der Welt mehr dieses Haus betreten. Schon der Gedanke an einen Europäer - ob nun lebend oder als Schemen - ließ sie schaudern. Aber wohin hätte sie gehen können? Nun - in gewisser Weise glich da ihr Schicksal dem des Deutschen. Sie fing an zu träumen, er beuge sich nachts über ihr Bett. Sie sah Yurus Hand auf der öligen Wasserfläche des Brunnens auftauchen und ihr zuwinken und nach ihr zu greifen, wenn sie am Rand stand und in die verfluchte Tiefe sah - was bei ihr zu einem Zwang wurde. Seit dieser Zeit ist ihr Verstand verwirrt. Niemand wird ihr helfen können. Sie ist in ihrem Wahn allein."
Herr Chen stand auf und schenkte seinen Gästen ein letztes Glas Wein ein. "Aber ich wäre ein schlechter Gastgeber, wenn ich Sie mit einer solch tragischen und sinnlosen Geschichte zur Nachtruhe schicken wollte. Lassen Sie mich mit ein paar Versen enden. Wir haben den doppelten Neunten, den neunten Tag des neunten Monats. Lassen Sie mich ein paar Verse zitieren." Er stand auf, ging zu dem kleinen Bücherbord hinüber, das neben der Tür stand, zog ein schwarzes Notizbuch hervor und fand nach einigem Suchen einen Zettel, auf dem im klassischer Manier: in senkrechten Kolumnen, von rechts nach links, ein paar Verse in zierlicher Kalligraphie getuscht waren. "Es kommt ein Schlachtfeld vor; es tut mir leid, wenn es nicht wirklich unbeschwert ist. Aber so sind die Zeiten, und selbst dieser Vers ist tröstlich."
人生易老天难老,
岁岁重阳。
今又重阳,
战地黄花分外香。
一 年一度秋风劲
不似春光,
胜似春光
寥廓江天万里霜。
Die Menschen altern - aber der Himmel altert nicht.
Und jedes Jahr findet Chongyang wieder statt.
Und heute ist der Tag des Chongyangfests.
Selbst auf dem Schlachtfeld duften die Chrysanthemen betäubend.
Jedes Jahr wehen die Herbststürme.
Nicht wie die Frühlingswinde.
Schöner als die Frühlingswinde.
Und auf zehntausend Meilen glitzern Fluß und Himmel im Frost.
Herr Chen begleitete seine Gäste bis auf den Flur, der zu ihrem Gästezimmer führte. Cong hielt ihn kurz zurück. "Von wem sind diese Verse?" fragte er. "Ich weiß es nicht," sagte Herr Chen. "Songlian hat mitunter lichte Momente. Sie hat mir gestern diese Verse diktiert. Vielleicht hat sie sie geträumt. Vielleicht stammen sie aus einem uralten Gedicht, das ich nie gelesen habe. Sie wissen, daß das 千家詩, das Qianliashia, die 'Gedichte der tausend Meister', die der Qianglong Kaiser zusammenstellen ließ, mehr als sechszwanzigtausend Gedichte umfaßt. Es soll keinen Menschen geben, der sie alle gelesen hat. Vielleicht sitzt irgendwo in diesem Moment fern von hier jemand, den wir nicht kennen, und schreibt sie nieder. Schlafen Sie gut."
Heute wäre Theodor Fontane zweihundert Jahre alt geworden.
Jedes Jahr wehen die Herbststürme.
Nicht wie die Frühlingswinde.
Schöner als die Frühlingswinde.
Und auf zehntausend Meilen glitzern Fluß und Himmel im Frost.
Herr Chen begleitete seine Gäste bis auf den Flur, der zu ihrem Gästezimmer führte. Cong hielt ihn kurz zurück. "Von wem sind diese Verse?" fragte er. "Ich weiß es nicht," sagte Herr Chen. "Songlian hat mitunter lichte Momente. Sie hat mir gestern diese Verse diktiert. Vielleicht hat sie sie geträumt. Vielleicht stammen sie aus einem uralten Gedicht, das ich nie gelesen habe. Sie wissen, daß das 千家詩, das Qianliashia, die 'Gedichte der tausend Meister', die der Qianglong Kaiser zusammenstellen ließ, mehr als sechszwanzigtausend Gedichte umfaßt. Es soll keinen Menschen geben, der sie alle gelesen hat. Vielleicht sitzt irgendwo in diesem Moment fern von hier jemand, den wir nicht kennen, und schreibt sie nieder. Schlafen Sie gut."
* * *
Anmerkungen:
* Der "Doppelte Neunte" ist der neunte Tag des neunten Monats im chinesischen Mondkalender. Im Jahr der Erzählung, 1929, fiel das Chrysanthemenfest auf Donnerstag, den 11. Oktober.
** 笨蛋 / béi dán; unserem "Idiot!" entsprechend. Wörtlich: "dummes Ei!" Unter Freunden als Frotzelei gebraucht, stellt dies keine Beleidigung dar.
*** Beiping: Peking/Beijing dürfte die Haupstadt sein, die in den knapp sechs Jahrhunderten seit ihrer Gründung die meisten Namen getragen hat, nämlich mindestens 15. Die westliche Variante Peking ist eine Approximation des kantonesischen Aussprache (dort etwas härter und kurzvokalig: Päkkinn), Beijing bedeutet "Nordhauptstadt". Während der Ming-Dynastie trug die Stadt offiziell den Namen Beiping (Nordpalast, nach der Verbotenen Stadt); 1928, nach der Wiedereinnahme durch die Truppen des Guomindang, wurde Beiping wieder offizieller Name; unterbrochen durch die japanische Besetzung von 1937 bis 1945 ("Peking"), und danach wieder bis zur Niederlage der Nationalchinesen am Ende des Bürgerkriegs 1949.
**** Mandarinenten und Schmetterlinge (鴛鴦蝴蝶派 / yuānyang húdié pài) war von den frühen 1920ern bis in die späten 1940er Jahre die durchaus abfällig gemeinte Bezeichnung für das verbreiteste Genre der Populärliteratur: seichte, schmalzige Liebesgeschichten. Ironischerweise wurden sogar die heute angesehendsten "modernen" Klassiker der chinesischen Literatur der Republikzeit, die Erzählungen von Eileen Chang/Zhang Ailing, und Qian Zhonsgshu Roman Die umzingelte Festung von 1946 darunter subsumiert.
*** Beiping: Peking/Beijing dürfte die Haupstadt sein, die in den knapp sechs Jahrhunderten seit ihrer Gründung die meisten Namen getragen hat, nämlich mindestens 15. Die westliche Variante Peking ist eine Approximation des kantonesischen Aussprache (dort etwas härter und kurzvokalig: Päkkinn), Beijing bedeutet "Nordhauptstadt". Während der Ming-Dynastie trug die Stadt offiziell den Namen Beiping (Nordpalast, nach der Verbotenen Stadt); 1928, nach der Wiedereinnahme durch die Truppen des Guomindang, wurde Beiping wieder offizieller Name; unterbrochen durch die japanische Besetzung von 1937 bis 1945 ("Peking"), und danach wieder bis zur Niederlage der Nationalchinesen am Ende des Bürgerkriegs 1949.
**** Mandarinenten und Schmetterlinge (鴛鴦蝴蝶派 / yuānyang húdié pài) war von den frühen 1920ern bis in die späten 1940er Jahre die durchaus abfällig gemeinte Bezeichnung für das verbreiteste Genre der Populärliteratur: seichte, schmalzige Liebesgeschichten. Ironischerweise wurden sogar die heute angesehendsten "modernen" Klassiker der chinesischen Literatur der Republikzeit, die Erzählungen von Eileen Chang/Zhang Ailing, und Qian Zhonsgshu Roman Die umzingelte Festung von 1946 darunter subsumiert.
***** Die Dingyuan war ein gepanzertes Turmschiff, das von 1881-1883 auf der Vulcan-Werft in Stettin gebaut wurde und seit 1885 Flaggschiff der chinesischen Nordflotte (Beihang) war. Im ersten japanisch-chinesischen Krieg erhielt das Schiff am 9. Februar 1895 in der Seeschlacht von Weihawei vier Torpedotreffer, war manvörierunfähig und wurde am nächsten Tag von seinem Kapitän durch Flutung der Ventile versenkt. Im September 2019 wurde das Wrack von der Insel Liuyang wiederentdeckt.
* * *
Heute wäre Theodor Fontane zweihundert Jahre alt geworden.
U.E.
© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.