24. Dezember 2019

冰心, 《小橘灯》- Bing Xin, "Die kleine Orangenlaterne" (1957)



在一个春节前一天的下午,我到重庆郊外去看一位朋友。她住在那个乡村的乡公所楼上1。走上一段阴暗的仄仄的楼梯,进到一间有一张方桌和几张竹凳、墙上装着一架电话的屋子,再进去就是我的朋友的房间,和外间只隔一幅布帘。她不在家,窗前桌上留着一张条子,说是她临时有事出去,叫我等着她。

我在她桌前坐下,随手拿起一张报纸来看,忽然听见外屋板门嘎吱地一声开了。过了一会,又听见有人在挪动那竹凳子。我掀开帘子,看见一个小姑娘,只有八九岁光景,瘦瘦的苍白的脸,冻得发紫的嘴唇,头发短短的,穿一身很破旧的衣裤,光脚穿一双草鞋,正在登上竹凳子想去摘墙上的听话器,看见我似乎吃了一惊,把手缩了回来。我问她:你要打电话吗?她一面爬下竹凳,一面点头说:我要医院,找胡大夫,我妈妈刚才吐了许多血!我问:你知道××医院的电话号码吗?她摇了摇头说:我正想问电话局……”我赶紧从一旁的电话本子里找到医院的号码,就又问她:找到了大夫,我请他到谁家去呢?她说:你只要说王春林家里病了,她就会来的。

我把电话打通了,她感激地谢了我,回头就走。我拉住她问:你的家远吗?她指着窗外说:就在山窝那棵大黄果树下面,一下子就走到的。说着就登登登地下楼去了。



我又回到屋里去,把报纸前前后后都看完了,又拿起一本《唐诗三百首》来,看了一半,天色越发阴暗了,我的朋友还不回来。我无聊地站了起来,望着窗外浓雾里迷茫山景,看到那棵黄果树下面的小屋,忽然想去探望那个小姑娘和她生病的妈妈。我下楼在门口买了几个大红的桔子,塞在手提袋里,顺着歪斜不平的石板路,走到那小屋的门口。



我轻轻地扣着板门,发出清脆的"咚咚",刚才那个小姑娘出来开了门,抬头看了我,先愣了一下,后来就微笑了,招手叫我进去。这屋子很小很黑,靠墙的板铺上,她的妈妈闭着眼平躺着,大约是睡着了,被头上有斑斑的血痕,她的脸向里侧着,只看见她脸上的乱发,和脑后的一个大髻。门边一个小炭炉,上面放着一个小沙锅,微微地冒着热气。小姑娘把炉前的小凳子让我坐了,她自己就蹲在我旁边,不住地3打量我。我轻轻地问:大夫来过了吗?她说:来过了,给妈妈打了一针……她现在很好。


她又像安慰我似地说:你放心,大夫明早还要来的。我问:她吃过东西吗?这锅里是什么?她笑说:红薯稀饭,我们的年夜饭。我想起了我带来的桔子,就拿出来放在床边的小矮桌上。她没有作声,只伸手拿过一个最大的桔子来,用小刀削去上面的一段皮,又用两只手把底下的一大半轻轻地揉捏着。




我低声问:你家还有什么人?她说:现在没有什么人,我爸爸到外面去了……”她没有说下去,只慢慢地从桔皮里掏出一瓤一瓤的桔瓣来2,放在她妈妈的枕头边。



炉火的微光,渐渐地暗了下去,外面更黑了。我站起来要走,她拉住我,一面极其敏捷地1拿过穿着麻线的大针,把那小桔碗四周相对地穿起来,像一个小筐似的,用一根小竹棍挑着,又从窗台上拿了一段短短的洋蜡头,放在里面点起来,递给我,说:天黑了,路滑,这盏小桔灯照你上山吧!



我赞赏地接过,谢了她,她送我出到门外,我不知道说什么好,她又像安慰我似地说:不久,我爸爸一定会回来的。那时我妈妈就会好了,一定!”她用小手在面前画一个圆圈,最后按到我的手上:我们大家也都好了!显然地,这大家也包括我在内。泪水在我眼中打转……




我提着这灵巧的小桔灯,慢慢地在黑暗潮湿的山路上走着。这朦胧的桔红的光,实在照不了多远,但这小姑娘的镇定、勇敢、乐观的精神鼓舞了我,我似乎觉得眼前有无限光明!



我的朋友已经回来了,看见我提着小桔灯,便问我从哪里来。我说:……从王春林家来。她惊异地说:王春林,那个木匠,你怎么认得他?去年山下医学院里,有几个学生,被当做共产党抓走了,以后王春林也失踪了,据说他常替那些学生送信……”

当夜,我就离开那山村,再也没有听见那小姑娘和她母亲的消息。

但是从那时起,每逢春节,我就想起那盏小桔灯。十二年过去了,那小姑娘的爸爸一定早回来了。她妈妈也一定好了吧?因为我们大家了!

 写于1957年1月3


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Bing Xin - "Die kleine Orangenlaterne" (1957)

Meine Geschichte ereignete sich vor mehr als zehn Jahren. Am Nachmittag des Chinesischen Neujahrsfests besuchte ich eine Freundin, die in einem Dorf außerhalb von Chongqing lebte. Sie wohnte in einem Zimmer, das sich im Obergeschoß des Gebäudes befand, in dem auch die Dorfverwaltung untergebracht war. Über eine dunkle, schmale Treppe gelangte man in einen Raum, in dem ein Tisch und ein paar Stühle aus Bambus standen und ein Telefon an der Wand montiert war. Dahinter, nur durch einen Stoffvorhang abgetrennt, befand sich das Zimmer meiner Freundin. Sie war nicht da; ein Zettel auf dem Tisch informierte mich, daß sie unerwartet verlangt worden war und ich bitte auf sie warten möge.

Ich setze mich an den Tisch, nahm mir eine Zeitung zur Hand und fing an zu lesen. Plötzlich hörte ich, wie sie die Tür zur Treppe mit einem leisen Quietschen öffnete. Dann war zu hören, wie einer der Bambusstühle über den Boden geschoben wurde. Ich hob den Vorhang und sah ein kleines Mädchen vor mir, das vielleicht acht oder neun Jahre alt sein mochte. Sie stieg gerade auf den Stuhl und versuchte, den Telefonhörer zu erreichen. Als sie mich sah, zog sie die Hand zurück, als ob mein Anblick sie erschreckt hätte. Ich fragte: "Du möchtest telefonieren?" 

"Ja." Sie stieg von Stuhl herunter und nickte dabei. "Ich würde gerne das Krankenhaus anrufen. Ich muß mit Doktor Hu sprechen. Mama hat gerade ganz viel Blut gespuckt."

"Weißt du die Nummer?" fragte ich. Sie schüttelte den Kopf und sagte: "Ich wollte gerade die Auskunft danach fragen..." Ich schaute sofort im Telefonbuch nach, das neben dem Apparat lag und fand die Nummer schnell. Dann fragte ich wieder: "Was soll ich dem Doktor sagen, wenn ich ihn erreiche?"

"Bitte sagen Sie ihm, daß es Wang Chunlins Frau sehr schlecht geht. Dann wird er schnell kommen," antwortete sie. Ich erledigte den Anruf und erreichte den Arzt. Das Mädchen bedankte sich bei mir und und wollte wieder gehen. Ich hielt sie kurz auf und fragte: "Wohnst du weit von hier?" "Gleich hier unten im Tal, unter dem gelben Obstbaum," sagte sie und zeigte aus dem Fenster. "Es sind nur ein paar Minuten." Und mit diesen Worten hastete sie die Treppe hinab.

Ich ging in das Zimmer meiner Freundin zurück, las die Zeitung noch einmal ganz durch, dann nahm ich die Dreihundert Gedichte der Tang-Zeit zur Hand und las das Buch halb durch. Draußen zog sich der Himmel mehr und mehr zu, aber meine Freundin ließ sich nicht sehen. Mir wurde die Zeit lang. Ich sah aus dem Fenster und betrachtete die bleiche Berglandschaft, die wie Schemen im dicken Nebel auszumachen war. Das kleine Häuschen unter dem gelben Baum fiel mir ins Auge, und mir kam die Idee, ich könnte doch nach dem kleinen Mädchen und seiner kranken Mutter sehen. Ich ging nach unten; bei einem Straßenhändler vor der Tür kaufte ich ein paar große Orangen, verstaute sie in meiner Handtasche und machte mich auf den Weg über die holprigen Plastersteine.

Ich klopfte leise an die Holztür. Das junge Mädchen von eben machte auf. Zunächst schien sie überrascht, als sie mich sah, und etwas abweisend, aber dann begann sie zu lächeln und bat mich, einzutreten. In einem aus rohen Brettern gezimmerten Bed an der Wand lag ihre Mutter; sie hatte die Augen geschlossen. Sie schien eingeschlafen zu sein. Auf dem Kissen in der Höhe ihres Halses waren Blutflecken zu sehen. Sie hatte den Kopf zur Wand gedreht, und ich konnte nur die Haarsträhnen sehen, die ihr über das Gesicht fielen und den dicken Zopf am Hinterkopf. Neben der Tür stand ein kleiner offener Holzkohleofen, auf dem ein kleiner Topf vor sich hin brodelte. Das Mädchen bat mich, auf einem hölzernen Schemel vor dem Ofen Platz zu nehmen. Sie hockte sich neben mich und sah mich an. Ich fragte im Flüsterton: "War der Doktor hier?"

"Ja, er hat Mama eine Spritze gegeben... Jetzt geht es ihr besser." Dann setzte sie hinzu, als ob sie mich beruhigen wollte: "Machen Sie sich keine Sorgen. Der Doktor kommt morgen früh wieder vorbei."

"Hat deine Mutter etwas gegessen? Was kocht da drin?" fragte ich und zeigte auf den Topf. Sie lächelte und antwortete: "Das ist Süßkartoffelbrei. Das ist unser Neujahrsessen."

Mir fielen die Orangen ein, die ich mitgebracht hatte. Ich holte sie aus der Tasche und legte sich auf den Nachttisch neben dem Bett. Das Mädchen sagte nichts und nahm still die größte davon. Sie schnitt die Schale an der Spitze mit einem Messer auf und schälte den Rest geschickt mit den Fingern.

"Wohnt hier sonst noch jemand bei euch?" fragt ich sie leise. "Nein, jetzt wohnt hier niemand mehr. Mein Vater ... er ist anderswo ..." Sie ließ den Satz unbeendet. Langsam zog sie die Segmente der Orange auseinander und legte sie neben des Kopfkissen ihrer Mutter.

Das kleine Feuer im Ofen brannte allmählich herunter, und draußen wurde es dunkel. Ich stand auf, um zu gehen. Das kleine Mädchen hielt mich zurück, holte eine große Nähnadel und einen Baumwollfaden hervor und nahm die schüsselförmige Orangenschale zur Hand. Sie band die Ecken überkreuz zusammen, so daß das Ergebnis wie ein winziges Körbchen aussah, das sie an einen Bambusstab hing. Dann nahm sie einen Kerzenstummel von der Fensterbank, setzte ihn vorsichtig in das Orangenschalenkörbchen und zündete ihn an. Als sie damit fertig war, gab sie mir diese kleine Laterne und sagte: "Jetzt ist es dunkel, und der Weg ist steil und unsicher. Die kleine Orangenlaterne soll Ihnen den Weg den Berg hinauf erhellen."

Ich nahm die Laterne gern an und bedankte mich bei ihr. Sie begleitete mich vor die Tür. Ich fand keine angemessenen Worte. Und wieder fing sie an zu sprechen, als ob sie es wäre, die mich trösten müßte: "Papa wird bald zurückkommen. Dann wird es Mama wieder gut gehen." Mit der Hand beschrieb sie einen Kreis in der Luft und sagte: "Dann wird es uns allen wieder gut gehen." Dieses "uns allen" galt ganz offenkundig auch mir.

Ich stieg langsam den dunklen, nassen Bergpfad hinauf und hielt das kleine Licht vor mir hoch. Um die Wahrheit zu sagen, der Schimmer ließ kaum etwas erkennen. Aber die Ruhe und der Mut der kleinen Mädchens, und ihre Zuversicht schienen den Weg vor mir wie in einem hellen Licht strahlen zu lassen.

Mein Freundin war heimgekommen. Als sie mich mit meiner kleinen Laterne kommen sah, fragte sie mich, wo ich gewesen war. "Ich war ... beim Haus von Wang Chunlin." Sie war erstaunt. "Wang Chunlin, der Schreiner? Woher kennst du ihn? Vor einem Jahr sind ein paar Medizinstudenten verhaftet worden, die in der Stadt unten studiert haben. Und danach ist er verschwunden. Er soll oft Briefe und Botschaften für sie geschmuggelt haben..."

Ich verließ das abgelegene Bergdorf noch in dieser Nacht, und habe seitdem nichts mehr von dem kleinen Mädchen und seiner Mutter gehört.

Aber jedes Jahr zum Neujahrsfest muß ich an die kleine Orangenlaterne denken. Zwölf Jahre sind seitdem vergangen. Ganz bestimmt ist ihr Vater schon lange wieder zurückgekehrt, und bestimmt geht es ihrer Mutter wieder gut. Denn heute geht es uns allen "gut."

Geschrieben am 3. Januar 1957.

(Übertragung aus dem Chinesischen von U.E.)


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(Ill. aus 中国少年报 vom 9.1.1957)


Bing Xins kleine Erzählung von der "Orangenlaterne", 小橘灯 (xiao júdēng) gehört zu den Stücken, die jeder, der in China eine Schule besucht hat, wohl auswendig kennt. Der Text erschien zuerst in der Ausgabe der für Kinder bestimmten Zeitschrift 中国少年报 (zhōngguó shàonián bào, wörtlich "China-Kinderzeitung"; das 年/"Jahr" in der Datumsangabe am Endes des Textes macht aus dem "Kind" 少 ein Abstraktum, die "Kinderzeit") in der Ausgabe vom 9. Januar 1957 und wurde in Buchform zuerst 1960 in einer Sammlung ihrer für Kinder geschrieben kleinen Erzählungen und Parabeln gedruckt. 冰心/Bing Xin war das Pseudonym, unter dem 謝婉瑩, Xie Wanying, am 5. Oktober 1900 in Fouzhou in der Provinz Fujian geboren und am 28. Februar 1999 in Beijing gestorben, seit dem frühen Anfang ihrer literarischen Laufbahn ihre Texte veröffentlicht hat. (Wörtlich bedeutet der nom de plume "Herz aus Eis"; damit ist aber nicht das gemeint, woraus Arno Schmidt den Titel seines Romans Das steinerne Herz von 1954 geschöpft hat - "Mein Herz pumpte die Nacht aus: Blödsinnige Einrichtung, daß da ständig sonne lackrote Schmiere in uns rum feistet ! N steinernes müßte man haben, wie beim Hauff", echauffiert sich sein Erzähler Walter Eggers - sondern das Eis steht hier für moralische Fleckenlosigkeit; die Metapher ist einem Gedicht aus der Tangzeit von Wang Changling entnommen.)


(Bing Xin Mitte der Zwanziger Jahre)

Anfang der zwanziger Jahre galt Bing Xin in den literarischen Zirkeln der jungen Republik als einer Art schreibendes Wunderkind, nicht ganz Françoise Sagan unähnlich; ihr erstes kleines Büchlein, 寂寞/Jimo, "Einsamkeit" von 1922, propagierte eine für die chinesische Literatur neue Form, nämlich das kurze Prosagedicht, bei dem sie sich aber nicht an den französischen Vorbildern orientierte (Baudelaires Mon coeur mis à nus etwa zählt ja zu den Pionierformen, ebenso viele Texte von Rimbaud; die Chants de Maldoror des Comte de Lautreamont waren zu dieser Zeit noch nicht von den Surrealisten wiederentdeckt worden), sondern an Rabindranath Tagores Sammlung Stray Birds von 1916. Ab 超人/Shao Ren (1924; "Der Übermensch") publizierte sie Erzählungen, die meistens satirisch, aber mit einem deutlichen Kern an Melancholie, die Widersprüche und Verluste der Modernisierung nach dem Ende des Kaisereichs spiegeln: vereinsamte Individuen, die keinen Halt an der Moderne und den neuen Ideen finden und denen die alten, sinnlos gewordenen Traditionen ebensowenig eine Heimstatt bieten. (Der "Übermensch" in der Titelerzählung ihres Buchs ist ein "moderner" Student, dem die enthusiasmierte Nietzsche-Lektüre schlecht bekommt: er fühlt sich als Mensch höherer Gattung und Bestimmung den analphabetischen Fischern und Bauern in dem Dorf, in dem er seine Sommermonate verbringt, überlegen und geht doch in seiner primitiven Hütte am Strand elend zugrunde). Ab der Mitte der dreißiger Jahre begann sie dann Texte für Kinder zu schreiben; nach dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs und der Gründung der Volksrepublik, als die "alten bürgerlichen Traditionen", deren Kosmos sie reflektiert hatte und der ihr ihre künstlerische Existenz ermöglicht hatte, unter Verdikt standen, beschränkte sie sich ganz auf dieses Genre, das ihr zumindest noch in Ansätzen und unter der Maske des Harmlosen einen gewissen Freiraum bot. Darin ist sie etwa ihrem russischen Kollegen Daniil Charms vergleichbar, der seine kafkaeske Komik und Verzweiflung nur in den Fabeln der Kinderzeitschrift "Krokodil" publizieren konnte.  Auch in unserem Text sind ja kleine Ironiesignale versteckt. Die Erzählung spielt ein Dutzend Jahre vor der Niederschrift; zum Neujahrsfest 1945 (das Jahr des Hahns begann am 13. Februar); der Widerstand gegen die japanischen Besatzer wird nicht wörtlich genannt; ist aber jedem Leser geläufig. Und jeder Leser weiß, einschließlich der Erzählerin, daß die Hoffnung "alles ist jetzt gut" nichts als eine Illusion ist. Daß das "gut" im letzten Satz (大家) im Original ausdrücklich in Anführungszeichen steht, ist ein deutliches Signal, daß hier eine bittere Ironie mitschwingt; daß anders als es die offizielle Propaganda will, sich die Dinge keineswegs zum Besseren gewendet haben.

Das hat Bing Xin nicht davor geschützt, bereits 1954 im Zuge der ersten Kampagne gegen unliebsame Künstler zur Zielscheibe halbparteilicher Attacken zu werden, die sich gegen die bis dahin als "Vorbild der Revolution" geltenden Autorin Ding Ling richteten, der "Personenkult" (in Sinne von "Individualismus", also mangelndem Einsatz für die große Sache und künstlerischer Eigensinn) und die "Propagierung reaktionärer/bürgerlicher Einstellungen" vorgeworfen wurden. Bing Xins beide Ergebenheitsadressen in Sachen des Großen Steuermanns und der Partei von 1954 und 1955 sind als Selbstschutz zu sehen. Während der Kulturrevolution geriet sie wie zahllose andere Autoren, Künstler, Intellektuelle ins Visier der Roten Garden; allein die Tatsache, daß jemand zur "alten Garde" zählte und in den 30er und 40er Jahren tätig gewesen war, reichte zu einer Verdammung hin (daß sie von 1923 bis 1926 am Wellesley College in den USA studiert hatte und einen Master of Arts in Literatur erworben hatte, besserte die Sache nicht). Bing Xin und ihr Mann Wen Wenzao wurden, wie unzählige andere "aufs Land verschickt", wo sie unter unsäglichen Bedingungen hausen mußten. Das änderte sich erst nach den Lockerungen der Strikturen im Zuge der neuen China-Außenpolitik und den Besuch Richard Nixons 1971 in der Volksrepublik; als beide nach Beijing zurückkehren durften, um an Übersetzungen historischer Populärwerke zur Weltgeschichte mitzuarbeiten.

Nach ihrer Rehabilitation veröffentlichte Bing Xin noch die beiden Memoirenbände 我們這裡沒有冬天, 1974 ("In meiner Heimatstadt gibt es keinen Winter") und 我的故鄉, 1983 ("Mein Zuhause"). Der kurz nach ihrem Tod erschienene Band 關於女人 (1999, "Über Frauen") sammelt kleine Aufsätze von den späten zwanziger bis in die vierziger Jahre. Bing Xin ist die einzige Autorin (man denke sich das Substantiv, wie im Chinesischen, als geschlechtsneutral), deren weit über 60 Jahre umspannenden Schriftstellerlaufbahn alle drei Perioden der chinesischen Moderne umfaßt: von der Republik der frühen Zwanziger Jahre über die formierte kommunistische Diktatur bis hin zum Aufbruch nach den Reformen Deng Xiaopings zu Anfang der achtziger Jahre.

Ungeachtet der für historisch informierte erwachsene Leser wahrnehmbaren Signale auf den historischen Hintergrund ergibt sich die Wirkung des kleinen Textes bis heute, der, wie erwähnt, im chinesischen Schulunterricht Standard ist, aus der unmittelbaren Wirkung seiner Symbolik: die Hoffnung-jenseits-der-Hoffnung, die das kleine Licht, das in der Dunkelheit leuchtet, spendet.  Die Geschichte wird oft in den unteren Klassen vor dem Neujahrfest, das in seiner Bedeutung durchaus mit unserem Weihnachtsfest vergleichbar ist (einschließlich der Pflicht zu endlosen Verwandtenvisiten an den ersten fünf Festtagen) (vor)gelesen; und das Basteln von kleinen Laternen aus zusammengenähten Orangenschalen gehört mit zum Programm.




(Bing Xin in ihrem Arbeitszimmer in Beijing, 1993)



(Die Illustrationen stammen aus einer Bilderbuchumsetzung von 李波, Li Bo, die 2012 im Verlag 蒲蒲兰绘本馆/Pupulan Huiben Guan erschienen ist.)


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Zettels Raum wünscht allen Lesern ein gesegnetes und friedliches Weihnachtsfest.













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Ulrich Elkmann

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