28. April 2019

先生林德納说中文。Herr Lindner spricht Chinesisch



Vorgestern also, am Freitag den 26. April hat auf dem 70. ordentlichen Parteitag der Freien Demokratischen Partei in Berlin ihr Bundesvorsitzender Christian Lindner einen kleinen publizistischen Coup gelandet, indem der seine gut einstündige Rede mit einem auf Mandarin vorgetragenen (freilich mühsam vom Spickzettel abgelesenen, aber anschließend auf Deutsch wiederholten Satz eröffnet hat, während hinter ihm vier Hanzi in den Farben des Parteilogos kanariengelb auf magentafarbenem Hintergrund prangten, die wohl für die meisten anwesenden Delegierten ebenso böhmische Dörfer dargestellt haben dürften. Das Ziel des Redners war auch nicht, unbedingt verstanden zu werden, sondern dient als Fingerzeig auf die wachsende Bedeutung der zweitgrößten Wirtschaftsnation im 21. Jahrhundert und ihre wachsende Verflechtung in die globale Ökonomie. Um die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu zitieren:

„Nach Lage der Dinge“ würden „unsere Kinder“ künftig neben Englisch auch Chinesisch lernen müssen, sagte Lindner mit Blick auf den wachsenden weltweiten Einfluss Chinas. Er habe einen „Selbstversuch gestartet“ und könne daher nun sagen: „Diese Sprache ist ein Brocken.“ Daher solle alles dafür getan werden, „dass es sich für die Chinesen auch weiterhin lohnt, Deutsch und Englisch zu sprechen“.

Was immer man inhaltlich von solchen Gags halten mag, für eine gewisse Tratschwirkung an den Brunnen des "globalen Dorfes" (Marshall McLuhan) hat diese Spieleröffnung gesorgt. Und so konnte man auch in den Netzauftritten der chinesischen Nachrichtenagenturen (freilich mit Ausnahme der regierungsamtlichen Agentur Xinhua) in den letzten zwei Tagen zeichengleich die Meldung lesen (etwa hier bei 搜狐/Sohu):

林德纳演讲的开场白更是令全场震惊,他用生硬的中文说:

(Lín dé nà (= Lindner) yǎnjiǎng de kāichǎngbái gèng shì lìng quán chǎng zhènjīng, tā yòng shēngyìng de zhōngwén shuō. "Lindner Eingangsbemerkung sorgte bei allen Anwesenden für erhebliches Erstaunen. Er sagte auf Chinesisch"... wobei die Ironie nicht unterschlagen werden soll, daß hier die Wendung 他用生硬的中文 / tā yòng shēngyìng de zhōngwén "er gebrauchte unbeholfenes bzw. stockendes [wörtlich: 'hartes']  Chinesisch") um dann Lindners Satz im Wortlaut zu zitieren.

Als der Kollege der tintenklecksenden Zunft Kurt Tucholsky sich vor einigen Jahren die Person, die er wohl am meisten, neben der Reichswehr und der Justiz der Weimarer Republik, verabscheute, nämlich den deutschbaltischen Weltweisen und Gründer der Darmstädter "Schule der Weisheit," Hermann Graf Keyserling (1880-1937) anhand von dessen Reisetagebuch eines Philosophen (dessen Erscheinungsdatum sich übrigens in diesem Jahr zum 100. Mal jährt) zur Brust nahm, tat er das mit den Worten "Wie sagten die Soldaten im Quartier? »Mensch, du bist doch Schriftsteller – steig mal uffn Tisch und mach mal eenen –!« - Die Weltbühne, 12.6.1928). Dem Protokollanten liegt eine protokollarische Erledigung Lindners nichts weiter als fern, doch scheint ihm ein feines Stimmchen vernehmbar: Mensch, du kannst doch ein wenig Chinesisch - steig mal uffn Tisch... Von daher seien zwei kleine Anmerkungen verstattet, die sich aufs rein Formale beschränken sollen.

Was hat er da nun gesagt? Lindners Satz war dieser: 

社会与经济在不断变化,我们要与时俱进。 

- in der heute üblichen Pinyin-Umschreibung transliteriert; Shèhuì yǔ jīngjì zài bùduàn biànhuà, wǒmen yào yǔ shí jù jìn. Und seine nachgeschobene Übersetzung "Die Gesellschaft und die Wirtschaft ändern sich beständig, und wir müssen uns ihnen anpassen" ist korrekt. Freilich - und hier liegt der Bocksfuß: Lindners Vortragsweise merkt man auf Lichtjahre an, daß er hier etwas abliest, ohne zu wissen, mit was er es zu tun hat. Das soll kein Vorwurf sein: zu den Aufgaben deutscher Politiker zählt die Beschäftigung mit exotischen Idiomen nun wirklich nicht (es sei denn, es handele sich um die lingua franca der Gegenwart, das Englische, in welchem Beritt sich zahlreiche von ihnen vergleichbare Peinlichkeiten zuhauf finden). Auch anderweitig kommen solche Casus vor: erinnerlich ist der Auftritt des japanischen Premierministers Jun'ichiro Koizumi, der auf einer Pressekonferenz die Modevokabel IT nicht als Ei-Tieh, sondern als "it" (als englisches es) aussprach. Aber da Lindner seinen Auftritt im Voraus geplant haben dürfte, wäre ihm anzuraten gewesen, sich hier ein paarmal der Klang von einem Muttersprachler präsentieren zu lassen. So sind ihm die Aussprachen von 经济, 变化 und 俱进 leider ins Unverständliche entglitten; vor allem müssen sie kontrahiert, also in der Aussprache zusammengezogen werden; sein "wir" - 我, wǒ (= ich) (plus die Pluralpartikel 们 men) benötigt fakultativ den dritten Ton, nicht den vierten (also ein leichtes Absenken der Tonhöhe mit anschließender ebenso leichter Hebung statt des fallenden) Beim fallenden Ton mit Isolierung, die ihm hier unterlaufen ist, hat der native speaker des Mandarin die Deutungsauswahl zwischen 斡(umdrehen), 握 (halten, festhalten) oder 渥 (bereichern).

Das Chinesische - in diesem Fall das Mandarin als gebräuchliche Variante, die auch in China durchgehend den Standard stellt und in der der Schulunterricht stattfindet - benutzt bekanntlich vier verschiedene "Töne", die die Bedeutung eines Wortes bestimmen (das Kantonesische, Muttersprache von gut 170 Millionen Sprechern, verfügt hingegen über sechs Töne, was nicht zuletzt die Umschreibung in Lateinschrift zu einem typographischen Albtraum werden läßt). Läßt man die Töne fort, verfügt das Mandarin nur über etwa 400 verschiedene Silben; durch die Töne erhöht sich die Anzahl auf 1600; hinzu kommt die Tatsache, daß im modernen Hochchinesisch mehr als die Hälfte der Wörter (53%) Komposita sind, also aus mehreren Silben/Wörtern zusammengesetzt sind. Dennoch weist das Chinesische eine fast unüberschaubare Zahl von Homophonen, also gleichlautenden Vokabeln auf; auch ein Grund, daß man als Lernender ohne die Anbordnahme der Schrift, in der solche Ambiguitäten entfallen, ziemlich aufgeschmissen ist. 



Auch jemandem, dem diese Sprache in Gänze Hekuba ist, weiß darum. Das Standardbeispiel, mit dem sich jeder Chinesisch-Lernende konfrontiert sieht, ist: 妈 (mā; mit dem 1. Ton, gleichhoch), das "Mutter" bedeutet; 麻 (má, der 2. Ton, ansteigend; wie bei einem Fragewort: Na?): "taub"; 马 (mǎ, der erwähnte Schwank-Ton), "Pferd" und 骂 (mà; fallend, wie ein tadelndes Na!), "fluchen" (die letzte Bedeutung hat natürlich zur Popularität dieses Beispiels beigetragen; übrigens läßt sich daran zeigen, mit welchen mnemotechnischen Eselsbrücken man sich als Lernender die Schriftzeichen einzuprägen pflegt: 骂 läßt sich als Pferd 马 mit zwei Ohren "lesen"; Sinologen sprechen hier vom 马 als "Phonetikum", das die grundsätzliche Aussprache eines Zeichens angibt). Die Details mögen unbekannt sein - aber bei einer Werbung dafür, sie sich in Zukunft doch bitte anzueignen, machen sich solche elementare Schnitzel leicht peinlich.

Aber was steht dort nun hinter ihm geschrieben? In deutschen Internetzwerken wurde ob der Nichtlesbarkeit die Vermutung laut, dort könne genausogut "Hähnchen süß-sauer" geschrieben sein. Nicht ganz falsch, wie sich zeigt:

经济政策  

Und diese beiden Begriffe, aus je zwei Hanzi zusammengesetzt - Jīngjì zhèngcè - bedeuten nichts weiter als "Wirtschaft" plus "Politik". Wirtschaftspolitik mithin. Und hier zeigt sich eine Unkenntnis der chinesischen Kultur und ihrer Usancen, die um einiges gravierender ist als stockendes Radebrechen. Denn jeder Chinese (und jeder, der mehr von dieser Kultur weiß als: dort ißt man mit Stäbchen, 人用筷子吃 ) erwartet bei einer solchen offiziellen Präsentation, zumal in vier Zeichen, kein triviales Substantiv, so wie man als Delegierter dort auch nicht mit einem mit N-a-m-e-n-s-s-c-h-i-l-d beschrifteten Kärtchen am Revers herumlaufen würde, sondern einen Sinnspruch, eine sinnvolle Wendung, ein Motto, kurz: ein Beispiel aus jener Klasse, die als Chengyu, 成语 (mit Tönen, die geläufigerweise bei Namen und Standardbegriffen in Pinyin weggelassen werden: chéngyǔ; ganz wörtlich übersetzt: "zur Sprache geworden", also zur geläufigen, präsenten Wendung) bezeichnet werden. Das Chinesische kennt buchstäblich Tausende solche Idiome; die meisten Diktionäre listen rund 5.000 davon auf; Spezialwörterbücher bringen es, mit allen Varianten, auf bis zu 20.000; die Zahl der Zeichen beträgt, jedenfalls bei den Chengyu, die deswegen auch 四字熟语, si zi shuyu, "Vierzeichenspruch" genannt werden, stets vier. Oft handelt es sich um Zitate aus den Klassikern, aus alten Gedichten, um Anspielungen auf historische Anekdoten oder Mythen. (Natürlich sind uns solche Sinnsprüche ebenfalls präsent: nehmen wir die Tatsache, daß das Chinesische keine Artikel kennt, ließen sich Wendungen wie "der frühe Vogel fängt den Wurm" oder "jung gefreit - nie gereut" die Form wahrend ohne Schwierigkeiten übertragen). Die Wörterbücher ordnen sie, je nach Gusto, nach zwei unterschiedlichen Prinzipien: nach der Bildung: Parallelführung - Verneinung - Steigerung ("hinter jedem bezwungenen Berg wartet ein höherer") oder thematisch: Tiervergleiche, Handwerk, Zitate etwa von Meister Kong, Kong zi, 孔子, Konfuzius also, und anderen Klassikern. Solche Verweise sind ein Gradmesser der Bildung und der Vertrautheit mit dem Reichtum der chinesischen Überlieferung; sie sind, zumal bei solchen Gelegenheiten, die man tunlichst nicht von Barbaren ausrichten lassen sollte, obligatorisch. Und allein in den Schriften von Meister Kong, liebe FDP, ihr finden könnt viele Sentenzen dieser Art, die eurer Situation angemessener scheinen. Ihr nur suchen müßt. Eine kleine Auswahl hier folgt:

患得患失 huàn dé huàn shī - sich sorgen um Verlust - sich sorgen um Gewinn (beständig von Unruhe über Gewinn und Verlust beunruhigt werden).
色厉内荏 sè lì nèi rěn - Entschlossene Miene - schwacher Mensch.
空空如也 kōngkōng rú yě - Absolut planlos sein.
过犹不及 guò yóu bùjí - Übertreibung ist so schädlich wie Nichtstun.
怨天尤人 yuàn tiān yóu rén - Sich über den Himmel beschweren und die Menschen verantwortlich machen.
(Dies trotz ihrer 2500 Jahre eine in ihrer Ironie ausgezeichnet in die Jetztzeit passende Formulierung. Da 天, tiān, nicht nur den Himmel bezeichnet (und den Tag), sondern auch "das Wetter", läßt sich Meister Kong hier als ferner Ahnherr der Klimaleugner verbuchen).
后生可畏 hòu shēng kě wèi - Die junge Generation ist erschreckend. (Besonders wenn sie Greta heißt.)
举一反三 jǔ yī fǎn sān - Heb' ein Stück und laß' dreie liegen. (Diese Sentenz wird rein metaphorisch gebraucht: Gemeint ist: zu falschen Schlüssen kommen, nach dem einen Stück urteilen, und die drei, die anderes besagen, zu ignorieren, liegen zu lassen)
巧言令色 qiǎo yán lìng sè - er hat ein hübsches Gesicht und spricht nette Worte. (Aber, ist dabei impliziert: er besitzt keine Tugenden) 
当仁不让 dāng rén bù ràng - Wenn man dabei ist, das Rechte (Entschuldigung: gemeint ist natürlich: das Richtige) zu tun, darf man nicht dabei umfallen.

Und natürlich hat Herr Lindner unrecht: auch im einhundert Jahren wird es nicht notwendig sein, sich das Chinesische - egal ob nun Mandarin, Kantonesisch, Hokkien oder die spezielle Shanghaier Variante - anzueignen, auch wenn dieses Land längst an die Spitze der Weltwirtschaft gezogen ist. So wenig, wie man heute, oder vor 30 Jahren, als die Furcht vor einer drohenden Übernahme aller Weltmärkte durch Japan grassierte, gezwungen war, Hiragana oder Katakana zu büffeln, um dieser Konkurrenz fürder gewachsen zu sein. Man weiß in China, wie in Japan, um die Ausnahmestellung der eigenen Sprache und Schrift, und um die Alleinstellung des Englischen als Welthandelsidiom, und man bereitet die junge Generation entsprechend darauf vor. Es spricht natürlich nichts dagegen, sich diese Sprache bei Interesse anzueignen. Eine letzte ironische Volte in Lindners Werben liegt darin, daß man in China in Sachen Jobsuche erst gar nicht vorstellig zu werden braucht, wenn man nicht geläufige Lese-, Sprech- UND Schreibfähigkeiten auf der Stufe des HSK 4 (des Hànyǔ Shuǐpíng Kǎoshì, 汉语水平考试, des standardisierten Befähigungstests, dem TOEFL im Englischen entsprechend) nachweisen kann - also eine flüssige Beherrschung von 1200 Vokabeln, bzw. 1064 Zeichen. Ausgenommen sind, eine letzte ironische Volte, Hochschuldozenten (die gerade auch als Fremdsprachdozenten gesucht sind), weil sie mit Englisch auskommen.

Ansonsten kann man Herrn L. am besten den Rat zuteil werden lassen, den sich auch andere Lernende jahrelang hinter den Spiegel stecken können:

你学习中文要努力一点。
Nǐ xuéxí Zhōngwén yào nǔlì yīdiǎn.
Sie sollten mehr Mühe darauf wenden, Chinesisch zu lernen.

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PS. Nein: "Hähnchen süß-sauer" steht dort oben definitiv zu zu lesen: das wäre 糖醋鸡块 - táng cù jī kuài (wörtlich: Hühnerstückchen - da in der chinesischen Küche, in allen vier Schulen, von denen man im Westen gemeinhin nur die kantonesische Variante kennt, die Portionen stäbchengerecht zerkleinert serviert werden).




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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.