28. Februar 2019

Die Hand am Regler: Drei, zwei, eins - Bilanzkreis

Der Handel hat in Deutschland traditionell keinen guten Ruf. Früher als "Schacher" diffamiert den Juden und Pfeffersäcken überlassen, heute in seiner lateinischen Übersetzung als "Kommerz" ein Schimpfwort für Massenproduktion von geringem Wert gebraucht, und in seiner schlimmsten Form, dem "Freihandel", auf Anti-TTIP-Demos bekämpft. Im Branchenvergleich liegen Arbeitnehmer des Einzelhandels bei vergleichbarer Qualifikation am unteren Ende des Gehaltsspektrums. 

Ich habe ja einige Zeit meines Berufslebens im Handel verbracht und bin bis heute immer wieder erstaunt, wie wenig verbreitet auch nur grundlegendes Wissen über die Gesetzmäßigkeiten des Handels ist. Ein alter Händlerwitz zeigt schön, wie die Komplexität des Handels unterschätzt wird: Der Mathelehrer trifft den mit Abstand schlechtesten Schüler, den er je unterrichtet hat, wie dieser gerade mit einem Benz der Oberklasse vorfährt. Neugierig geworden, fragt er ihn: "Na, Maier, wovon können Sie sich denn so einen schönen Wagen leisten?" - "Ach wissen Sie, Herr Lehrer, ich kaufe Schrauben um fünf Pfennig und verkaufe die um zehn weiter. Und von den fünf Prozent kann ich gut leben!"

Bein den hier zu meiner großen Freude sehr angeregten Diskussionen über Strom fällt mir auch auf, dass viele der Teilnehmer ein sehr fundiertes technisches Wissen haben, das meines, zumindest wenn es um die Erzeugung geht, bei weitem übersteigt. Dabei kommt mir aber ein anderes, und meiner Ansicht nach sogar noch wichtigeres Thema oft zu kurz, und das ist die ökonomische Seite. Nun mag man argumentieren, dass das ja egal sei, weil der Blackout wegen Strommangel sowieso bevorsteht. 

Nun ist Strom tatsächlich kein Handelsgut wie jedes andere, und das hat Gründe, die nicht nur innerhalb des Marktes zu suchen sind, nämlich technische (die ausreichend diskutiert werden und auf die ich deshalb nur wo zum Verständnis notwendig eingehen werde) und auch gesellschaftliche: Das Funktionieren unserer Gesellschaft basiert auf der permanenten Verfügbarkeit von Strom, weshalb diese auch das dominierende Anforderungskriterium ist.

Wir wissen aber auch, dass in anderen Bereichen Unterversorgung in der Regel nicht aus einem tatsächlichen Mangel heraus entsteht. Ein nennenswerter Anteil des Hungers in der Welt liegt nicht an der fehlenden Produktion von Lebensmitteln, sondern an unzureichenden ökonomischer Strukturen, Handelswegen, Marktzugängen etc. Ich möchte im folgenden ein wenig den Strommarkt beschreiben und aufzeigen, welch fundamentale Bedeutung er nicht nur für die Preise, sondern auch für die Versorgungssicherheit hat.
Aber nun genug der einleitenden Worte, und medias in res: Was macht unser Freund aus dem Beispiel (er hat die Branche gewechselt, weil er gehört hat dass die Energiebonzen nicht nur S-Klasse, sondern Maybach fahren), nachdem er am Strand von Amrum eine Stunde lang ein Kilo Watt in einen Kübel geschaufelt hat? Und ändert es was, wenn währenddessen die Sonne scheint und ein s-teifer Onshorewind dazu weht?

1. Die Akteure am Strommarkt

Das wichtigste, was man wissen muss, ist, dass es eine Unterscheidung zwischen physischen und monetären Stromflüssen gibt. Das im Hinterkopf ist schon mindestens die dreiviertel Miete zum Verständnis. Im Branchensprech findet sich diese Trennung wieder, indem es unterschiedliche Bezeichnungen für die einzelnen Akteure (die sogenannten Marktrollen) gibt. Das Ganze ist ungeheuer komplex (wer das Gesamtbild sehen möchte, dem sei diese Seite nahegelegt, auf der wirklich alles detailliert aufgeschlüsselt ist).  Für den Hausgebrauch findet sich hier ein sehr vereinfachtes Organigramm des Strommarktes. 

Grundsätzlich gibt es drei Arten von Akteuren: 
  • Die Lieferanten, also Stromerzeuger mit Anlagen, die physisch Strom ins Übertragungsnetz einspeisen, sowie die Abnehmer, die den Strom physisch aus dem Netz ziehen - in der Regel Verteilnetzbetreiber, die den Strom an die Endkunden abliefern, aber auch Industriekunden. Ein Verteilnetzbetreiber ist immer gleichzeitig Erzeuger, weil er auch den Strom von dezentralen Anlagen (Wind, PV, Biogas, BHKW) einsammelt und einspeist.
  • Die Bilanzkreisverantwortlichen. Jeder Stromhändler hat einen sogenannten Bilanzkreis. Das ist eine Art virtuelles Stromkonto, das immer ausgeglichen sein muss, und zwar im Viertelstundentakt. Er kann also im Sinne eines Terminmarktes für jede Viertelstunde virtuell Strom kaufen und verkaufen und muss gleichzeitig sicherstellen, dass der Strom von einem Erzeuger physisch fließt. Diese Rolle wird von allen Akteuren wahrgenommen. Jeder Erzeuger ist natürlich gleichzeitig Händler, genauso wie der Verteilnetzbetreiber und auch der Übertragungsnetzbetreiber (der z.B. einspeisevergüteten EEG-Strom verkaufen muss). 
  • Die Netzbetreiber. Es gibt die Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB, jeweils einen pro Regelzone, in Deutschland gibt es vier Regelzonen, 50hertz, Amprion, TenneT, TransnetBW) sowie aktuell 890 Verteilnetzbetreiber (VNB), also lokale Versorger wie Stadtwerke, aber auch so Kaliber wie E.on oder EWE. Die Netzbetreiber, vor allem die ÜNB als letzte Instanz, sorgen im Strommarkt dafür, dass der virtuelle zum physischen Stromfluss passt, sie wachen über die Bilanzkreisparität und über die korrekte Einspeisung und Entnahme. Bei Abweichungen regeln sie physisch und gleichen virtuell aus.
2. Die Produkte

Am Strommarkt wird Strom gehandelt, also physikalisch gesprochen: elektrische Arbeit. Das ist natürlich in erster Linie Strom, der zum Verbrauch dient. 

Dazu kommen sogenannte Systemdienstleistungen, die dazu dienen, einen reibungslosen Netzbetrieb sicherzustellen. Sie werden vom ÜNB (nach Maßgabe des Regulators, also der Bundesnetzagentur) ausgeschrieben und für das jeweils niedrigste Gebot gekauft. Eine Systemdienstleistung muss nicht unbedingt aus elektrischer Arbeit bestehen, sondern auch aus der Bereitschaft, im Falle eines Überangebots Erzeugung zu drosseln. Es handelt sich in jedem Fall um eine (auf eine bestimmte Stunde) terminierte Bereitschaft, auf Anforderung des ÜNB das Erzeugung- oder Verbrauchsverhalten zu ändern. Dazu gehören: Regelenergie (Mehr- oder Mindereinspeisung), Netzverlustkompensation, Blindleistung, Lastabwurf etc. . Diese Produkte werden zwar nicht öffentlich gehandelt, sie haben aber trotzdem einen Einfluss auf den Preis von "normalem" Strom, weil jeder Erzeuger an Hand des Preises entscheiden kann, als welches Produkt er seine Arbeit anbietet - genau wie jeder Abnehmer entscheiden kann, ob er seinen Bilanzkreis durch eigene Aktivitäten ausgeglichen hält oder auf eine Systemdienstleistung zurückgreift. Das ist zwar ein missbräuchliches Verhalten, wird aber trotzdem bisweilen gepflegt, wenn es sich trotz Sanktionszahlungen an den ÜNB immer noch lohnt.

3. Der Handel

Wie und wo wird nun gehandelt?

Gehandelt wird überall - an der Strombörse (vorrangig Day-Ahead und Intraday), aber auch bilateral (vorrangig längerfristige Produkte ab einer Tageslieferung). In Deutschland werden 75% des Stroms bilateral verhandelt.

Zunächst einmal kann man unterscheiden nach der Terminierungsfrist. Es gibt langfristige Stromlieferverträge (bis über mehrere Jahre hin). Diese haben die Aufgabe, das Preisschwankungsrisiko zu verringern. Der Händler verpflichtet sich, über die gesamte Zeit jeweils für jedes Intervall anhand eines standardisierten Lastprofils eine bestimmte Menge an Strom zu liefern oder abzunehmen. 

Dann gibt es noch den Spotmarkt, bestehend aus Day-Ahead-Handel (auf Stundenbasis für den nächsten Tag) und den Intraday-Handel (auf Viertelstundenbasis bis eine halbe Stunde vor Lieferzeitpunkt). Der Day-Ahead-Handel dient dem Händler dazu, seinen Bilanzkreis zu optimieren - fehlende Mengen hinzuzukaufen oder überschüssige abzustoßen. Hier kommen auch die Erneuerbaren (sofern direktvermarktet) auf den Markt. An Hand der Wetterprognose können die EE-Produzenten ihre erwarteten Mengen verkaufen (diese Prognose hat natürlich einen massiven Einfluss auf den Day-Ahead-Preis). Darüber hinaus findet ein internationaler Ausgleich statt: Unter Berücksichtigung der vorhandenen Grenzkuppelkapazität werden günstigere Angebote aus dem Ausland berücksichtigt, so dass der Strom an den Grenzen immer von billig nach teuer fließt. Der Day-Ahead-Handel ist die wichtigste Phase im ganzen Stromhandelsprozess, denn an Hand des Ergebnisses melden die Erzeuger ihre Fahrpläne und für den nächsten Tag bei den Netzbetreibern an, und diese erstellen die Lastprognose. In diesem Moment werden aus virtuellen physische Stromflüsse. Und der Day-Ahead-Preis wird auch zur Berechnung der EEG-Umlage herangezogen, denn die Subvention an den Betreiber beträgt die Differenz zwischen dem Garantiepreis und dem Day-Ahead-Preis zur jeweiligen Lieferstunde. Dieser ist ein sogenannter Grenz- oder Clearingpreis, das heißt das jeweils teuerste Angebot, das gerade noch den Zuschlag erhält, bestimmt den Preis.

Der Intradayhandel schließlich dient dazu, Abweichungen von den Last- und Einspeiseprognosen auszugleichen. Dabei ist natürlich ein um so größeres Marktgebiet von Vorteil, denn dort treffen eher Händler mit negativem Bilanzkreissaldo auf Händler mit positivem und neutralisieren sich gegenseitig. Aber man kann auch noch eine schnelle Mark machen - wenn man sieht, dass Unterdeckung da ist und ein guter Preis erzielt werden kann, legt man noch mal schnell die Hand auf den Regler - Gaskraftwerksbetreiber stehen da vor allem drauf. Der Intraday-Preis ist im Gegensatz zum Day-Ahead-Preis kein Grenzpreis, sondern ein Gebotspreis für jede Transaktion.

Sowohl aus Gesichtspunkten der Versorgungssicherheit als auch aus der Strompreiseffizienz hat der Strommarkt also eine wichtige Funktion - und hätten wir ihn nicht in der Form, wäre der Strom noch teurer und die Netzbetreiber müssten noch mehr Regelleistung einsetzen.

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Meister Petz

© Meister Petz. Titelvignette: Blick vom Turm des Neuen Rathauses in Leipzig. Frank Vincent (CC-BY-SA 3.0). Für Kommentare bitte hier klicken.