30. April 2018

Zeitmarke: Vor 50 Jahren: "Open the pod doors, Hal!"

Vor fünfzig Jahren, vor einem vollen halben Jahrhundert, im April 1968, als das Kulminationsjahr der Sixties gerade seinen Anlauf zur politischen, jugendrebellischen und militärischen Entgrenzung (im Einsatz des amerikanischen Militärs in Vietnam, jedenfalls im medialen Echo in allen Ländern des Westens; daß diese verstärkten Einsätze auf den blutigen und für Südvietnam desaströsen Verlauf der vom Vietcong am 30. Januar gestarteten Tet-Offensive war, ging auch damals in unseren Medien ziemlich unter) - genauer: am 3. April 1968 lief in den Kinos der Vereinigten Staaten ein Science Fiction-Film an, der sofort und bis heute unangetastet nicht nur ein Klassiker des Genres ist, sondern sein absoluter Höhepunkt, vorher und seither nie wieder erreicht, eine Sternstunde des Kinos, eine optische Offenbarung: Stanley Kubricks "2001 - A Space Odyssey". Ein Film, der unseren Eindruck von dem, was "die Zukunft" in der visuellen Imagination ausmachte, ein für allemal verändert und geprägt hat - auch wenn dieser Film, aufgrund seiner Einzigartigkeit, seinem Verstoß gegen alle Konventionen des Genres - der Science Fiction wie dem erzählenden Spannungskinos - selbst keine Nachfolger gefunden hat, nicht stilprägend wurde und ein Solitär blieb wie die drei außerirdischen Monolithen, deren Erscheinen die Handlung strukturiert.

Man kann davon ausgehen, daß jeder, der für den spröden Zauber des Films empfänglich ist, seine Bilder, seine Szenen, den Ablauf der Handlung unauslöschlich im Gedächtnis gespeichert hat; von daher könnte es hinreichen, als Hommage einfach eine dieser Szenen noch einmal Revue passieren zu lassen, kommentarlos: jener Schnitt, als der nach dem ersten Mord, dem Sündenfall in der afrikanischen Savanne, als erstes Werkzeug - als Mordwerkzeug! - triumphierend in die Luft geworfene Ast sich in ein Raumschiff verwandelt und zu den Klängen des Opus 314 von Johann Strauss (Sohn), gespielt von den Berliner Philharmoniker unter dr Leitung von Herbert von Karajan, sich vor dem Zuschauer die Zukunft des Jahres 2001 in der Erdumlaufbahn auftut.


Zwei der Besonderheiten, die den einzigartigen Flair dieses Films ausmachen, werden in dieser Szene eindrücklich vor Augen geführt (drei, wenn man auf Kubricks Einsatz der Musik als zentrales und auf seine eigene Weise so überwältigendes narratives Element achtet): der langsame, fast gletscherhafte Fluß der Handlung, der ganz auf die fast statische Prägekraft der Bilder setzt; mitsamt dem Verzicht auf alle Spanungsdramaturgie durch Schnitt und Gegenschnitt, rasante bis hektische Kameraführung oder die üblichen Crescendi der darauf hingebauten Musikkulisse (es fällt auf, daß die eigentlichen dramatischen Explosionen der Handlung in fast völliger Stille stattfinden: die Annäherung der Astronauten an den auf dem Mond ausgegrabenen zweiten - oder ersten? - Monolithen, der Mord an Frank Poole durch HAL während des Außeneinsatzes; Dave Bowmans Ausstieg aus der Hilfskapsel ohne Raumhelm und die anschließende Stillegung der - ihrerseits! - zum Mörder gewordenen Künstlichen Intelligenz, die regrediert, während ihr das Gedächtnis geraubt wird; nicht zuletzt, auf ihre Weise, der psychedelische Sturz durch das Sternentor, als der sich der dritte - oder zweite? - Monolith in der Jupiterumlaufbahn erweist, der zwar von den flächigen Diskant-Klängen von Ligetis "Atmosphéres" schrill unterlegt ist, die aber als fast statische Klangwand diese optische mise en abîme konterkarieren). Zum anderen, daß Kubrick auf Erklärungen verzichtet, wo es nur geht, und die Details der Zukunftswelt sich dem Zuschauer selbst erschließen (müssen): daß die Schwerkraft auf Raumschiffen und Stationen durch Rotation erzielt wird, daß die Mondstation unterirdisch (sublunarisch?) vor der harten Strahlung der Sonne geschützt ist: all das bedarf keiner Erläuterung. Nur die unbedingt nötigen Informationen werden als das, was unter Fans des Genres als Infodump bekannt ist (das Ausbreiten nötiger Details) weitergegeben: bei der Monderkundung ist man auf ein Relikt unbekannter Herkunft gestoßen; es hat ein Signal in Richtung Jupiter gefunkt; der Grund, aus dem HAL entschließt, sich der menschlichen Crew der Discovery, die auf der Suche nach dem Empfänger dieser Botschaft ist, zu entledigen.

Zentrale Elemente des Films bleiben ungeklärt: warum schockt der Mondmonolith seine humanen Besucher mit einer akustischen Schallkanone oder ähnlichen Sinnesüberladung? Was bedeuten die Wiedergänger? Spiegelungen? seiner selbst, denen Bowman am Ende seiner Reise in einer luxuriösen Hotelsuite im Regency-Stil begegnet? Was genau ist das "Sternenkind", das im Schlußbild des Films aus dem Raum unseren blauen Planeten in den Blick nimmt? Kubrick hat diese Facetten mit Absicht in der Schwebe, im Unaufgelösten gelassen: man kann sich einen Reim darauf machen, aber es bleibt ein großer Rest von Deutungsmöglichkeiten. Arthur C. Clarke, Stichwort- und Ideengeber, geistiger Co-Vater dieses Zukunftskosmos und Verfasser der Romanfassung, die zeitgleich mit dem Kinostart bei den Verlagen Hutchinson (in London) und New American Library (in New York) erschien, hat sich in diesen Bereichen eindeutiger festgelegt. Die Metamorphosen Bowmans zu einem höheren Stadium, zu einem Bindeglied zu den fast göttergleichen Erschaffern der Monolithen, die die Aufgabe haben, überall in der Milchstraße die Entstehung von Intelligenz zu verstärken und zu steuern, werden hier stringent erläutert. Auch hier bleibt am Schluß eine Doppeldeutigkeit: die Monolithen haben auch eine Wächterfunktion: ihnen obliegt es, ins gefährliche, Mörderische entgleitende Spezies unschädlich zu machen. Im letzten Satz der Buchfassung fokussiert das Sternenkind seine Aufmerksamkeit auf die zahllosen Atombomben der Supermächte, die im Romankosmos des Jahrs 2001 auch zu Tausenden in der Erdumlaufbahn kreisen: "A thousand miles below, he became aware that a slumbering cargo of death had awoken, and was stirring sluggishly in its orbit. The feeble energies it contained were no possible menace to him; but he prefered a cleaner sky. He put forth his will, and the circlung megatons flowered in a silent detonation that brought a brief, false dawn to half the sleeping globe."

In den drei Fortsetzungen, die Clarke seinem Roman hat folgen lassen, von 2010: Odyssey Two (1982) bis zum 3001: The Final Odyssey (1997), spielt dieses Szenario keine Rolle mehr; tatsächlich sind die Monolithen nur noch eine latente Bedrohung und das, was aus Bowman oder HAL, dem in 2010 ein ähnliches Schicksal zuteil wird wie Bowman, geworden ist, nur noch Mittlerinstanzen, durch deren Intervention das Jüngste Gericht so gnädiger- wie ungeklärterweise in the nick of time abgewendet werden kann. Der Fokus liegt auf den stets mehr ins Utopischere lappenden Schilderungen der Welt - des besiedelten und besuchten Sonnensystems der Jahre 2010, 2061 - mit einer Stipvisite beim Halleyschen Kometen - und 3001, und den Schilderungen der Raumflüge zwischen den dortigen Destinationen. Was diese Bücher vor der Banalität und schieren Uninteressantheit der gestaltgewordenen Langeweile namens Utopia bewahrt, sind diese Details, und die Atmosphäre, nicht zuletzt die Form, die sie mit allen Romanen Clarkes seit eben 2001 teilen: ein entspanntes Parlando, die Clubatmosphäre, in aberdutzenden von kurzen, mundgerechten Kapitelchen von drei bis fünf Seiten, in denen immer wieder faszinierende Details wie funkelnde Meeresschätze - Korallen, Muscheln, bizarre Wesen aus der Tiefsee - dem Leser zur Begutachtung in die Hand gegeben werden. Aber der nachgerade mythische Sog, als den Kubrick das Unternehmen "2001" angelegt hatte, fehlt diesem, zugegeben sehr süffig lesbaren literarischen Klönschnack. Die von Peter Hyams sechzehn Jahre inszenierte filmische Fortsetzung, 2010: The Year We Make Contact, scheitert hingegen nicht nur an der stilistischen Klippe des unerreichbaren Vorgängers, sondern an etwas, das seitdem fast unweigerlich "ernsthafte" SF-Filme, also solche, die auf "Botschaft" (mitsamt einer halbwegs glaubwürdigen Zukunftsszenerie) setzen anstelle auf hektische Action  oder einen ins Technologisch-Futuristische transponierte Fantasykosmos à la Star Wars: dem mystagogischen Kitsch, der Versuchung, Engelsgestalten mitsamt jubilierenden Himmelschören aus den geschmackfreiesten Zonen religiösen Krampfes auf den Zuschauer loszulassen, wenn es um den Kern, die Ursache hinter allem, die Begegnung mit dem Nichtmenschlichen, geht. Der erste dieser fatalen cineastischen Griffe ins Souterrain war 1978 das Finale von Spielbergs Close Encounters of the Third Kind mit seinem Disko-Lichtkugel-Finale auf dem Plateau des Devil's Tower, und seitdem zieht sich es sich von Cosmos (1997), Mission to Mars (1999) bis Interstellar (2013) wie ein roter Faden durch diese Ecke des Genres. In 2010 trägt es den Film final aus der Kurve, als Dave Bowmans Schemen unsichtbar seiner alten Mutter im irdischen Pflegeheim die Haare bürstet und dazu tremoliert: "Something wonderful is going to happen!" Nichts kann einen Film nach einer solchen Episode noch retten.

Anders als in den unzähligen Fällen, den dem seitdem ein Film eine narrative Buchfassung, einen "Roman zum Film", eine novelization, nach sich gezogen hat (2001 war nicht der erste Fall, das dürfte King Kong und die weiße Frau von 1933 gewesen sein, aber er war der erste, dessen Buchfassung seitdem zum Klassiker geworden ist) ergänzen sich beide Varianten der Stoffbehandlung: vieles am Hintergrund, viele Facetten und Details, die dem, der beides kennt, unauslöschlich im Gedächtnis bleiben, stammt aus Clarkes Roman. Etwa die überraschende Auftaktnote:

Behind every man now alive stand thirty ghosts, for that is the ration by which the dead outnumber the living. Since the dawn of time, roughly a hundred billion human beings have walked the planet Earth.
Now this is an intersting number, for by a curious coincidence there are approximately a hundred billion stars in our local universe, the Milky Way. So for every man who has lived, in this Universe there shines a star.
But every one of those stars is a sun, often far more brilliant and glorious than the small, nearby star we call *the* Sun. And many - perhaps most - of those alien suns have planets circling them. So almost certainly there is enough land in the sky to give every member of the human species, back to the first ape-man, his own private, world-sized heaven - or hell.

(Die heutige Zahl der Sterne in unserer Milchstraße wird üblicherweise eher auf 400 Milliarden geschätzt; das liegt daran, daß man heute den Anteil der roten und braunen Zwergsterne, "leichten", kühlen Sternen mit einem Bruchteil der Masse unserer Sonne und einer Lebensdauer von Hunderten von Milliarden Jahren, um ein Vielfaches höher taxiert als vor Jahrzehnten. Bei der Einschätzung der Gesamtzahl aller Menschen, die je auf Erden gelebt haben - Clarke stützte sich auf ein Paper in der Zeitschrift Nature aus dem Jahr 1962, das als Ausgangspunkt die Genese des heutigen Menschen auf das Jahr 50.000 v. Chr. ansetzte, ein oder zwei Millionen Jahre vor den "Menschheitsdämmerung" im Auftakt des Films. Freilich macht die frühere Akkumulation von selbst hunderttausend Generationen bei den geschätzten damaligen Populationszahlen keinen gravierenden Unterschied.)

Kubricks Film ist, wie es sich für ein wirkliches Kunstwerk gehört, für Deutungen in verschiedene Richtungen offen: als einmalige Verkörperung / Bebilderung jener Quintessenz des Science-Fiction-Genres: den Ausblick in die Tiefen von Raum und Zeit, den Vorstoß ins Niegesehene, die Begegnung mit dem Außerirdischen, mit Höheren Intelligenzen, auch dem Numinos-Inkommensurablen: der sense of wonder. Als warnende Parabel vor der mörderischen, todbringenden Technik, in bester Absicht installiert von Machern und Ingenieuren, die zum Opfer unvorhergesehener Konsequenzen werden. Als ein "moderner Mythos" für das Raumfahrtzeitalter von Menschwerdung und der schließlich Überwindung des conditio humana, nicht von Göttern, aber Wesen, die aus unserer beschränkten Perspektive ihnen fast gleichkommen. Als eine Warnung vor der Hubris der Moderne, am Beispiel der Raumfahrt: je weiter sich die Protagonisten von der Erde entfernen, desto kälter und unmenschlicher wird, was ihnen wiederfährt, desto hilfloser sind sie auf Gedeih der inhumanen Technik ausgeliefert (diese "Kulturschock"-Deutung findet sich in vielen Exegesen des Jahres 1968; auch darin zeigt sich deutlich der Zeitgeist). Die hier erzählte Geschichte ist durchaus für das Genre der SF nicht wirklich originell: es ist die Erzählweise und Darstellung, die ihr Klassikerwert verleiht. Die Menschheit wird, durch Intervention von höherentwickelten Wesen von anderen Welten, auf den Pfad der Intelligenz gebracht; wenn die Entwicklung darin kulminiert, daß der Mensch, durch die Erfindung der Raumfahrt, die irdischen Fesseln abstreifen kann, dann wird er - falls er weitere Prüfungen besteht - in die Gemeinschaft dieser Höheren aufgenommen: das ist natürlich eine religiöse Parabel, auf das Weltverständnis des wissenschaftlich-technisierten Moderne transponiert. Und es ist natürlich auch punktgleich die Fabel, die ein anderes Buch, und ebenfalls ein Erfolgstitel, in jenem Jahr erzählt hat: 2001: A Space Odyssey war in den USA in jenem Jahr der am meisten besuchte Kinofilm; die Einspielergebnisse werden für die USA mit 135 Millionen, weltweit mit 190 Millionen Dollar angegeben. Der meistverkaufte "Sachbuchtitel" in Deutschland im gleichen Zeitraum, mit insgesamt 215.000 Exemplaren, war vom Econ Verlag ein paar Wochen vohrer im Februar in einer Startauflage von 6000 Exemplaren auf dem Markt gebracht worden: das erste Buch eines Schweizer (Noch)-Hoteliers, in dessen Deutung die Relikte der menschlichen Urgeschichte (jedenfalls wenn sie genügend unscharf reproduziert und mit raunendem "könnte es nicht sein? hätte es nicht so sein können" garniert wurden) exakt die gleiche Geschichte erzählten: Erich von Dänikens Erinnerungen an die Zukunft.

Eine andere, pointiertere Parallele ergibt sich aber aus einem kleinen Detail, das nun wirklich der Kontingenz historischer Ereignisse geschuldet ist. In den USA lief der Film am 3. April 1968 landesweit an, nachdem die Premierenvorstellung am Tag zuvor im Washingtoner Uptown Theatre über die Bühne gegangen war. Die deutsche (damals noch westdeutsche) Synchronfassung kam am 11. September 1968 in die hiesigen Kinos: 33 Jahre auf den Tag, bevor - im Jahr 2001 - das zwanzigste Jahrhundert seinen Abschluß fand, die Sorgen, die Konstellationen, der grundlegende Konflikt ein anderer wurde und das einundzwanzigste Jahrhundert begann: so wie das 19. Jahrhundert im Juli 1789 mit dem Sturm auf die Bastille begann und mit der Mobilmachung im Juli 1914 zu Ende ging.






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Ulrich Elkmann

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