7. April 2018

Prankenhieb: Post-Fakten

Gewisse Phänomene scheinen unerklärlich. Ich frage mich zum Beispiel, wieso Unternehmen in Deutschland ungefähr 560 Mio pro Jahr in spätpubertierende Jugendliche mit Youtube- oder Instagram-Account reinbuttern, die keinen ganzen Satz sagen können. Oder warum ausgerechnet andere hipseinwollende Spätpubertierende die Bartmode der frühen Taliban kopieren. Ich finde keine Antwort, die sowohl erklärend als auch ontologisch sparsam ist. Entweder ist es halt diesmal doch ein saugutes Gemisch an Chemtrail-Substanzen, das Zuckerberg und Coudenhove-Kalergi da zusammengerührt haben, oder ich muss voll Erstaunen mit den Schultern zucken. 

Manch andere Zeitgenossen verzweifeln geradezu ob der Frage, wie ein Volk, dessen großartige, ein Jahrtausend (minus zwölf) alte, unvergleichliche Kulturleistungen sie sich gegen die archaischen Invasoren zu verteidigen entschlossen haben, zu 87% ihre Stimme an Parteien geben konnte, die den sicheren Volkstod heraufbeschwören. Und mit dieser Frage kann man unterschiedlich umgehen: 

Man kann - wie Klonovsky - sich zynisch abwenden und allfällig geschändete Volksgenossinnen mit kaum verhohlener Häme im Rahmen seiner Möglichkeiten "auf die Konsequenzen ihres sog. Wahlverhaltens hinweisen".

Andere geben sich auch damit nicht zufrieden, dass manchmal auch ist, was nicht sein darf, und es müssen finstere Mächte herbeigerufen werden. 
Nun, dass diejenigen, die ihr Kindheitshobby Klingelstreich zum Beruf gemacht haben (klingeln, vorausgefüllte Karte in den Briefkasten stecken und wegrennen) nicht auf der Seite des Wahren, Guten und Schönen stehen, soweit gehe ich ja noch mit. Aber dass ausgerechnet die gelbe Post die große Wahlfälschung ermöglicht haben soll, die die AfD 2013 aus dem Bundestag gekegelt und 2017 von der .. ääh .. Nachtbereifung .. äääh .. Schachtabteufung .. äh, naja, jedenfalls davon abgehalten hat, viel viel viel stärker zu werden?  

Dieses Thema lässt einem gewissen Prof. Renz von der Australian National University (laut Wikipedia auf Platz 16 der besten 200 Hochschulen der Welt) so wenig Ruhe, dass er selbst im 16500 km Luftlinie entfernten Canberra nicht anders kann, als auf Tichys (@Weltgeist, warum macht mir die Autokorrektur eigentlich "Vichy" daraus?) Einblick einen Artikel zu posten, mit dem ich mich ein wenig beschäftigen möchte. 

Zunächst mal ein paar einleitende Bemerkungen zum sogenannten "Datenskandal" der Post, der aktuell durch den Blätterwald rauscht. Da ich beruflich, bevor ich mich der Energiebranche zugewendet habe, ein paar Jahre im Distanzhandel tätig war und mit dem Thema Adresslisten einigermaßen vertraut bin, fällt mir dazu - vor allem im Vergleich zu tatsächlichen Adresshandels-Skandalen wie Debeka oder Global Contact - nur der alte Titanic-Titel ein: "Forscher warnen: Alkohol im Schnaps". 

Aber lassen wir jetzt den Professor zu Wort kommen. Sein Beitrag besteht aus zwei Teilen: 

Der erste beschäftigt sich mit dem "Skandal" und zitiert einen hochinvestigativen Bericht eines Altmediums: "Laut Bericht der Bild am Sonntag verfügt die Deutsche Post über 1 Millarde Einzelinformationen von 20 Millionen Gebäuden und 34 Millionen Haushalten, das heißt im Schnitt über 29 Einzelinformationen pro Hauhalt [sic]." Okay, das steht jetzt auch schon seit ein paar Jahren so auf der Website der Postdirekt (so der Name der Dialogmarketingsparte der Post), was auch irgendwie Sinn ergibt, wenn sie die Kunden, die Adressen kaufen wollen, über ihr Angebot informieren möchte. Aber dann erklärt Renz dem Leser, wo die Post die Daten eigentlich her hat. Auftritt Captain Obvious:
Man kann sich denken, wie die Deutsche Post diese Informationen generiert: Die Hauptaufgabe der Deutschen Post ist es, Briefe und Pakete von A nach B zu schicken, sie weiß also genau, wer von wem Post erhält. Dadurch kann man leicht sehr viel Information über den Einzelnen bekommen: bei welcher Bank man ist, welche Kreditkarten man hat, welchen Internet-, Handy- oder Stromprovider, welcher Partei, Gewerkschaft oder Vereinigung man angehört, welche Zeitungen man abonniert, von wem man Rechnungen und Lieferungen kriegt, usw. Man bekommt also ein ziemlich detailliertes Bild über die einzelnen Haushalte. Laut Bericht der Bild am Sonntag lässt sich mit Hilfe dieser Daten auch die Wahrscheinlichkeit ermitteln, welcher Partei der Hauhalt [sic] nahesteht. Dass die Deutsche Post diese Daten überhaupt sammelt und auswertet und dann auch noch verkauft, ist zweifellos ein Skandal.
Ist es denn die Möglichkeit? Wie muss ich mir das vorstellen? Scannt die Post also jeden Tag die Absender und Empfänger von 70 Mio Briefen und 4 Mio Paketen ein und trägt sie sie in eine streng geheime Datenbank ein? Oder sind die technisch noch nicht so weit, und jeder der 80.000 Paketzusteller hat ein dickes Notizbuch dabei, in das er vor dem Einwurf alles einträgt? Und kriegt er dann einen Extrabonus, wenn er zur Adresse ein zufällig durchs offene Parterrefenster erspähtes Merkelposter vermerkt?

In Wirklichkeit funktioniert es natürlich anders: Die Adresshändler aggregieren öffentlich zugängliche und zugekaufte Daten - entweder unter dem Listenprivileg oder welche, zu denen ein Einverständnis vorliegt. Das sind mehr als man glauben möchte - ich empfehle als Langzeitversuch mal, an einem Gewinnspiel teilzunehmen und als Absender einen Doppelnamen als Marker anzugeben (wenn sie Müller heißen, tragen Sie "Müller-Lüdenscheid" ein). Dann sammeln Sie mal die Anschreiben, die Sie im Laufe eines Jahres erhalten. In Verbindung mit Spezialfirmen für sogenanntes "Geomarketing" lässt sich das Ganze noch räumlich ziemlich genau eingrenzen. Skandalös ist daran gar nix. Auch nicht, dass die Parteien Adressen kaufen, denn warum soll eine Partei Wahlwerbung nicht an ihre Zielgruppe adressieren dürfen?

Im zweiten Teil des Artikels fabuliert der Autor die große Verschwörung herbei. Nämlich wie man die Adressdaten zum Wahlbetrug einsetzen könnte. Nun kennt man ja spätestens seit der letzten Wahl die Fixierung eines großen Teils der AfD-Wähler auf Briefwahlbetrug, und der Professor hat in einem früheren Beitrag schon darüber spekuliert und nicht wenige Kommentatoren haben ihn darauf hingewiesen, dass die AfD explizit zur Urnenwahl und Wahlbeobachtung vor Ort aufgerufen hat. Er kann sich ja meines tiefsten Mitgefühls versichert sein, dass ihn von einer deutschen Wahlurne die erwähnten 16500 km Luftlinie trennen und er deshalb der Briefwahl schonungslos ausgeliefert ist. Aber selbst für diese Zwangslage kommt er auf ziemlich abgedrehte Spekulationen, wie mit Hilfe der - zumindest für ihn - brandneuen Erkenntnisse der Wahlbetrug mittels Adresshandel laufen könnte.

Und die Ideen sprudeln geradezu: Man könnte 
  • Adressen von Leuten, die wenig Post bekommen, kaufen und dann deren Wahlbenachrichtigungen klauen und damit wählen gehen oder Briefwahlunterlagen beziehen
  • Adressen von Briefwählern kaufen
  • Adressen von Toten, Auswanderern und Pflegeheimbewohnern kaufen, die noch Wahlbenachrichtigungen bekommen
  • Adressen von AfD-Anhängern kaufen und ihnen die Wahlbenachrichtigungen wegnehmen
Abgesehen davon, dass aufgrund der verzerrten Vorstellung (die Post speichert die Anzahl der Briefe und die Absender und verkauft nach diesen Merkmalen Adressen, bzw. Adressen von Toten und Verzogenen) die genannten Möglichkeiten nicht funktionieren, und die letzten drei mittels Lesen von Todesanzeigen, Besuchen von Pflegeheimen und Briefkastenraubzügen in der Sächsischen Schweiz auch einfacher zu haben sind: 

Der Autor verrennt sich hier völlig in die fixe Idee, dass eine Regierung Merkel nur durch Wahlbetrug gewählt werden kann. Und zwar schon lange, bevor es eine AfD, eine Flüchtlingskrise überhaupt gab. Merkels Kanzlerschaft empfindet er als nicht legitim, also hat sie auch von Beginn an illegal zu sein:
Die außergewöhnlich hohe Anzahl an Briefwahlstimmen der CDU bei der Bundestagswahl 2005 führte dazu, dass Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde und nicht Gerhard Schröder. Dies könnte eine direkte Konsequenz der Datenweitergabe der Deutschen Post an die CDU sein.
Von diesem Ende wird die Argumentation rückschließend aufgebaut und nutzt jedes noch so abstruse Argument dafür. Mit der mittlerweile für TE geradezu typischen Methode: Alles könnte sein, Hauptsache es widerspricht dem, was das Establishment sagt. 

Spätestens zu diesem Zeitpunkt lohnt es sich anzumerken, was der Professor in Canberra eigentlich so forscht und lehrt, und siehe da, unter Research interests: "Artificial Intelligence, knowledge representation, spatial reasoning, temporal reasoning, qualitative reasoning, constraint satisfaction, efficient algorithms, computational complexity, scheduling, operations research, cognitive science, spatial information systems, wireless sensor networks, navigation, trust and reputation, useful games, AI for playing games"

Wir haben es also hier mit einem erfahrenen Computerwissenschaftler zu tun, der wahrscheinlich die komplexen Algorithmen von Facebook und Google besser verstanden hat als 99% der Bevölkerung. Der genau weiß, wie man die feinsten personenbezogenen Daten, gerade bezüglich jeder Art von Präferenzen und Konsumverhalten, gewinnt und wie man sie zur gezielten Zusteuerung von Informationen einsetzt. Und der will so was banales wie analogen Adresshandel nicht verstanden haben und spekuliert über den großen Postraub?

Im kleinen Zimmer ist eben erst anlässlich eines Llarian-Beitrages eine Diskussion entstanden, wie unwahrscheinlich ein Inhalt sein muss, um korrekterweise anzunehmen, dass der Autor ihn nicht selbst glaubt, und deshalb als Fake News bezeichnet werden kann.

Da ich dort gelernt habe, dass dies rechtlich problematisch sein kann, werde ich dies dem Autor keinesfalls vorwerfen, sondern höchstens von Post-Fakten sprechen. Das darf ich, denn es geht eindeutig um die Post.


­
*Meister Petz*

© Meister Petz. Titelvignette: Wahlbenachrichtigung der Stadt Würzburg zur Bundestagswahl 2005 (gemeinfrei). Für Kommentare bitte hier klicken.