21. August 2014

Ein starkes Stück. Ein Gastbeitrag von Stefan Sasse.

Der demokratische Prozess ist nicht immer einfach, und oft heißt es ja, dass alle Politik Lokalpolitik sei. Das ändert aber wenig daran, dass viele Leute ein Problem mit dem bundesrepublikanischen System haben. Ein Fallbeispiel: Berlin wird bekanntlich seit über einem Jahrzehnt schick. Das führt dazu, dass Immobilienspekulanten vormals eher unattraktive Liegenschaften aufkaufen, sanieren und an eine reiche Klientel verkaufen, was natürlich weniger vereinbar mit alternativen Lebensstilen und Sozialem Wohnungsbau ist. Dies führt bei den Alteingesessenen naturgemäß zu Widerstand. In der taz findet sich ein Interview mit Wolfgang und Barbara Tharra, die seit Mitte der 1960er in Berlin wohnen. Barbara Tharra hat einen Brief an Merkel geschrieben:

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taz: Frau Tharra, haben Sie denn schon eine Antwort von Frau Merkel bekommen?
Barbara Tharra: Nicht von ihr selbst. Aber zwei Tage später hat ihr persönlicher Referent angerufen. Was der mir gesagt hat, werde ich nicht so schnell vergessen.
taz: Was hat er gesagt?
Barbara Tharra: Ich hätte ein falsches Demokratieverständnis, wenn ich glauben würde, dass die Kanzlerin für unser Anliegen zuständig sei. Ein starkes Stück.

Ja, das ist schon ein starkes Stück, dass unsere Kanzlerin die verfassungsmäßigen Kompetenzen und Grenzen ihres Amtes kennt. Ganz im Gegensatz zu diesen Aktivisten, die sich vermutlich selbst als demokratisch betrachten, sicherlich demokratischer als die CDU. Tatsächlich ist ihr Demokratieverständnis furchtbar, denn wenn sie sich über eine Merkel’sche Intervention gefreut hätten, freuten sie sich gleichzeitig auch über das Ende der Demokratie als solcher.
 
Das letzte Mal, dass in Deutschland jemand einfach dem Regierungschef schreiben und erwarten konnte, dass da unter Umständen eine solche Intervention rauskommt, war im Osten in der DDR und im Westen unter Hitler. Da war es möglich, dass ein Großmufti daherkommt und einfach mal die lokalen, eventuell sogar gewählten Behörden überstimmt. Würde Merkel aber plötzlich bestimmten, dass die Wohnungen nicht verkauft werden dürfen (auf welcher Grundlage denn bitte?), dann würde die Verfassung keinen Pfifferling mehr wert sein. Denn dann könnte sie jederzeit überall zu allen Gelegenheiten einfach die örtlichen Institutionen überstimmen.

Landtage? Scheiß drauf, ich mach einfach eine Executive Order. Das Rathaus? Wen kümmert’s, meine Blumenbeete brauchen eine neue Wasserleitung. Mehrheitsbeschlüsse im Kabinett? Nicht wenn es nach Merkel geht. Untersuchungsausschuss im Bundestag? Ein Bürger hat mir nen Brief geschrieben, dass er Snowden eh doof findet. Und so weiter.
Das Demokratieverständnis, das sich hier offenbart, ist das einer völlig schrankenlos herrschenden Exekutive, quasi eines Ersatzkönigs, den wir dann “Kanzler” nennen (oder in dem Fall auch mal “Mutti”). Der soll mit persönlichem Regiment im Zweifel direkt eingreifen und alles können. Das aber ist nicht demokratisch. Das ist eine Appellationsherrschaft, wie sie im Feudalismus üblich war, wo die Herrscher auch auf Petitionen reagierten (meist Petitionen der Adeligen, aber bei uns wären da auch die Ackermanns mit dem besseren Draht ausgestattet). Mit Demokratie hat das alles wenig zu tun.
Stefan Sasse


© Stefan Sasse. Der Artikel erschien ursprünglich auf dem Blog deliberationdaily.de. Für Kommentare bitte hier klicken.