17. August 2014

Das Land ohne Außenpolitik (1)

Am Abend des 10. August 955 riefen die Truppen der deutschen Stämme Otto I zum Imperator aus. Sein Sieg auf dem Lechfeld hatte die Ungarn entscheidend geschlagen. Zwei Generationen lang hatten sie Deutschland verheert, nach ihrer Niederlage schlossen sie dauerhaften Frieden. Nachdem vorher schon die Einfälle der Wikinger beendet werden konnten und Otto im Herbst 955 auch die Abodriten entscheidend besiegte, gab es für die Deutschen keine äußeren Bedrohungen mehr.
Das war ein ganz wesentlicher historischer Wendepunkt – auch wenn er den Zeitgenossen nicht bewußt war. Keiner von ihnen konnte ahnen, daß der Frieden nach außen über viele Jahrhunderte halten würde.

Eine völlige Anomalie in der Weltgeschichte – kein anderes großes Land hat Ähnliches erlebt. Und Deutschland ist bis heute von dieser historischen Erfahrung geprägt.
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Um es gleich einzuschränken: Ein paar kleinere Ausnahmen gab es natürlich. Raubzüge der Sarazenen nach Savoyen und in die Schweiz, einige Konflikte mit Elbslawen und Polen. Die kurze Bedrohung durch die Mongolen in Schlesien. Aber das waren eben kleinere Ausnahmen, von denen im
wesentlichen Teil Deutschlands kaum jemand etwas mitbekam.

Und auch ohne äußere Bedrohung gab es natürlich viele interne Konflikte, von den Fehden der Adligen bis zur traumatischen Katastrophe des 30-jährigen Kriegs. Aber selbst wo ausländische Fürsten in diese Kriege verwickelt waren – sie taten es nur als Bündnispartner deutscher Kriegsparteien oder über ihre Besitzungen in Deutschland als Teil des Reichs selbst. Nie aber als Angreifer gegen Deutschland als solches.

Über 700 Jahre wäre kein Nachbarstaat auf die Idee gekommen, Deutschland insgesamt anzugreifen – dafür war es viel zu groß und jedem potentiellen Angreifer militärisch völlig überlegen. Und umgekehrt war das Reich strukturell nicht willens und in der Lage, selber Nachbarstaaten anzugreifen. Ebenfalls eine völlige Ausnahme in der Weltgeschichte: Eine potentiell militärisch sehr überlegene Großmacht, die dies nicht zur Expansion ausnutzt.

Dies änderte sich erst Ende des 17. Jahrhundert, als Frankreich und die Osmanen das Reich angriffen um Gebiete zu erobern. Darauf wurde eine militärische Abwehr in Form der Reichskreise organisiert – weitgehend auch erfolgreich. Aber ansonsten änderte sich bis zum Reichsende 1806 nichts Wesentliches.

Das bedeutet: Für den größten Teil seiner Geschichte hatte Deutschland nichts von dem, was man als „Außenpolitik“ bezeichnen könnte. Der Kaiser mochte dynastische und persönliche Interessen im Ausland verfolgen, aber das hatte nichts mit dem Reich selber zu tun. Alle Reichsgremien und –organe waren innenpolitischer Natur. Es gab zwar eine gewisse Tradition des „sich-zur-Wehr-setzens“ bei einer unmittelbaren militärischen Bedrohung. Aber überhaupt keine Tradition abseits der passiven Verteidigungsfähigkeit „deutsche Interessen“ im Ausland zu formulieren und zu verfolgen.

Für die Deutschen war das Ausland immer nur Reiseziel und Handelspartner – aber ansonsten weder Freund noch Feind, weder Bündnis- noch Vertragspartner. Das Ausland war schlicht kein Objekt für die deutsche Politik. Krieg und Frieden waren beständige und dominante Themen auf dem Reichstag – aber als innenpolitische Themen, als Auseinandersetzungen und Konfliktlösungen von Parteien innerhalb desselben Rechtssystems.

Das prägt auch die deutschen Vorstellungen vom Völkerrecht bis heute.

(Fortsetzung hier)

R.A.

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