23. November 2025

"Deutsches Chaos". Ein Gastbeitrag von Kaspar Hauser





10. August
Das für heute früh 8.30 Uhr angesetzte Chaos ist durch eine Notverordnung der Regierung auf morgen verschoben worden.

11. August
Heute 8.30 Uhr ist das Chaos ausgebrochen. (Siehe auch Letzte Nachrichten.) Das Chaos wurde durch eine Rede des Reichskanzlers sowie durch einen kurzen, kernigen Spruch des Reichspräsidenten Hindenburg eröffnet. Der preußische Ministerpräsident Braun führte in seiner Chaos-Rede aus, daß Deutschland auch fürderhin…

Das bayerische Chaos brach erst um 9.10 Uhr aus.

Die Reichsbank nahm eine abwartende Stellung ein.

12. August
Heute hat das Reichs-Chaos-Amt seine Arbeit angetreten. Jedes Chaos (sprich: Chaos) bedarf demnach einer besonderen Chaos-Ausbruchs-Genehmigung durch das Reichs-Chaos-Amt, einer Nachprüfung durch das Reichs-Chaos-Nachschau-Amt sowie durch die einzelnen Chaos-Landesämter. Die Reichsbank nimmt vorläufig eine abwartende Haltung ein.

13. August
Das Chaos ist nunmehr überall definitiv ausgebrochen.

Ein reizender Vorfall wird aus Eßlingen (Württemberg) bekannt. Der dortige Bürgermeister hatte verabsäumt, die Verfügungen des Reichs-Chaos-Amts zur Durchführung zu bringen, und so wußten die guten Eßlinger noch bis gestern abend überhaupt nichts von dem Chaos und gingen ihrer Tätigkeit (Nichtauszahlung von Gehältern sowie Vertröstung der Gläubiger untereinander) mit rührendem Eifer auch weiterhin nach. Erst ein Funkspruch der württembergischen Chaos-Regierung machte diesem Zustand ein Ende. Das Backen von Chaos-Spätzle ist bis auf weiteres verboten. ­

14. August
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat heute zu den Vorgängen einen bedeutungsvollen Entschluß gefaßt. Die Partei ermächtigt danach die Fraktion, den Ältestenrat des sogenannten „Reichstages“ zu ersuchen, bei der Reichsregierung dahin vorstellig zu werden, daß die Regierung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dahin wirken möge, den § 14 des Chaos-Gesetzes abzumildern. Die Partei würde sich sonst andrerseits genötigt sehn, in die Opposition zu gehn.

Der Entschluß ist deshalb so bedeutungsvoll, weil wir aus ihm zum ersten Mal erfahren, daß es in Deutschland eine Sozialdemokratische Partei gibt, und daß diese Partei jemals in der Opposition gestanden hat.

Die Reichsbank wird sich vermutlich abwartend verhalten.

15. August
(Leitartikel) „. . .fest, aber entschieden gemäßigt. Was wir nun zum Nutzen der gesamten Weltwirtschaft, deren Augen gespannt auf Deutschland gerichtet sind, brauchen, ist Ruhe und Ausdauer. Es muß durch das Chaos durchgehalten werden! Reichskanzler Brüning wird auch im Chaos die Geschäfte weiterführen; in den Etat-Positionen, insbesondere denen der Reichswehr, treten zunächst keine Änderungen ein. Daß der Kanzler sich persönlich von der ordnungsgemäßen Durchführung des Chaos überzeugt, begrüßen auch wir, insbesondre, daß er gestern in einigen berliner Kaufläden erschien, um sich zu informieren. In der Lebensmittelhandlung von Grote setzte sich der Kanzler dabei versehentlich auf eine Waage. Die Deutsche Staatspartei wird auch weiterhin das Zünglein an der Waage bilden. Daß sich die Reichsbank dabei abwartend verhält, bedarf keiner Erwähnung.“

16. August
Es wird vielfach angenommen, daß im Chaos die Vorschrift, wonach Frischeier einer Genehmigung der Reichs-Eier-Absatz-Zentrale zum Tragen einer Banderole sowie zur Benutzung des Adlerstempels durch den Reichs-Milch-Ausschuß im Benehmen mit der Zentrale zur Aufzucht junger Hähne bedürfen, aufgehoben ist. Das ist irrig. Die Vorschrift bleibt selbstverständlich auch weiterhin in Kraft. Sehr aktuell wird sie allerdings nicht sein. Es gibt keine Eier.

17. August
In den städtischen Fürsorgeanstalten wird ein besonderer Chaos-Prügeltag eingelegt. Warum? Weyl.

18. August
Nach der neusten Chaos-Verordnung ist es verboten, Devisen-Kurszettel zu veröffentlichen. Es dürfen lediglich die ausländischen Börsennamen mit den dazu gehörigen Barometer-Zahlen angegeben werden.

19. August
(Zuschrift eines Lesers) “. . .denn doch zu weit mit dem Chaos! Meine Frau und meine Schwägerin gingen gestern abend über den Wittenbergplatz, und war es ihnen nicht möglich, in die dortige Bedürfnisanstalt für Damen Einlaß zu bekommen, da die Aufsichtsfrau offenbar einmal fortgegangen war, um in einer nahen Restauration ein Glas Bier einzunehmen. Als Kriegsteilnehmer und Familienvater frage ich namens aller Gleichgesinnten: Ist das noch ein Chaos?“

20. August
Zu der Verfügung über die Vertilgung von Ungeziefer in Wohnungen unter sechs Zimmern ist noch nachzutragen, daß Schrotschüsse auf Wanzen nur von 1/2 11 Uhr morgens bis 3/4 1 mittags statthaft sind. Es empfiehlt sich, in den andern Tagesstunden die Wanzen mit einem Tischmesser zu zerspalten.

Auch die Spaltung des rechten Flügels der linken Opposition der Stennes-Gruppe ist nunmehr Tatsache. Hitler hat Südtirol sowie sich definitiv aufgegeben. Die Reichsbank verhält sich abwartend.

Die Großbanken haben beschlossen, anstatt der am 1. September fälligen Gehaltszahlung von jedem Angestellten einen Monatsbeitrag von 35 RM einzufordern. Die Einzahlung dieses Arbeits-Erlaubnis-Geldes auf städtische Sparkassen ist erlaubt.

Die berliner Studentenschaft hat gestern anläßlich des zehnten Chaos-Tages gegen den Westfälischen Frieden sowie gegen alle noch kommenden Friedensschlüsse protestiert. Vier Polizeibeamte sowie die akademische Würde wurden leicht verletzt. Der Schnellrichter wurde Hitler vorgeführt.

21. August
Leichtes Chaos, bei starken südwestlichen Winden.

Der Bildungsausschuß der SPD hat nunmehr gegen die parteischädigenden Auswüchse der Asphalt-Literaten protestiert. Die Partei als solche ist allerdings aufgelöst.

Gerhart Shaw und Bernhard Hauptmann haben beschlossen, zur Verminderung der Reklamespesen ihre nächsten Geburtstage als 150. Geburtstag zusammen zu feiern.

23. August
Der Titel des Konfusionsrats Dr. Schacht ist in den eines Ober-Chaos-Rats abgeändert worden.

24. August
Gestern wurde in den Straßen Schönebergs eine Reichsmark gesehn. Es handelt sich vermutlich um eine Irreführung des Publikums, und wir machen nochmals darauf aufmerksam, daß es gegen die staatspolitischen Interessen ist, wenn sich in Deutschland noch irgendwelches befindet. Wenn auch das Ausland nicht hinsieht: wir werden es ihm schon zeigen! Die Reichsbank verhält sich abwartend.

25. August
Wie wir hören, hat sich die Bridgepartie von Jakob Goldschmidt aufgelöst. Er kann das ewige Abheben nicht mehr vertragen.

26. August
Die Ziffer 5 des § 67 der Wiederaufnahme-Verfügung der Aufhebung der Rückgängigmachung des Verbotes von Rücküberweisungen alter Postscheckzahlungen nach Haiti wird in Gemäßheit des § 10, II, 17 des Allg. Landrechts aufgehoben bzw. wieder in Kraft gesetzt. Unsre Voraussage ist demnach eingetroffen: das Chaos unterscheidet sich in nichts von dem vorherigen Zustand – !





(Tucholsky in Paris, 1928)

* * *

Kurt Tucholskys Glosse erschien am 4. August 1931 in der Zeitschrift „Die Weltbühne“ (Jahrgang 27, Nr. 31) unter dem von ihm häufig verwendeten Pseudonym „Kaspar Hauser.“

„Warum? Weyl.“ – Die heutigen Lesern nicht mehr verständliche Anspielung Tucholskys bezieht sich auf einen Skandal, über den im Sommer 1931 in den deutschen Tageszeitungen weithin berichtet wurde. Am 24. Juni 1931 war der Direktor der „Landeserziehungsanstalt der Stadt Berlin“ in Scheuen in der Nähe von Celle, Paul Straube, vom Schwurgericht Lüneburg zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Diese Institution für schwererziehbare Schüler war dort 1925 von dem ehemaligen Volksschullehrer gegründet worden, um straffällige Jugendliche für einen späteren Berufseinsatz mit der Landwirtschaft vertraut zu machen (für Mädchen war Haushaltsführung vorgesehen). Nach außen hin galt das Heim als ein Muster für eine neue, gewaltfreie Pädagogik; besonders betont wurde dabei, daß dort auf die damals noch übliche Prügelstrafe völlig verzichtet würde. Nach innen sah es völlig anders aus: Gewalt und Schläge wurden in exzessivem Maß angewendet. Im Februar kam es bei der Hälfte der damals 50 männlichen Schülern zu einem gewaltsamen Protest, ausgelöst auch von der unzureichenden und ungenießbaren Verpflegung. Nachdem die Jugendlichen, die in baufälligen Holzbaracken untergebracht waren, anfingen, die Scheiben des Verwaltungs- und Schulgebäudes einzuwerfen, bewaffnete Direktor Straube ein Dutzend Schüler, die sich nicht an dem Aufruhr beteiligten, mit Gummiknüppeln, Spaten, Harken und Äxten. Den meisten Schülern gelang es, in die umliegenden Wälder zu entkommen, aber zwei von ihnen wurden von ihren Verfolgern gestellt und so schwer mißhandelt, daß einer von ihnen, Hans Ledebur, einige Wochen später im Krankenhaus in Celle an seinen inneren Verletzungen starb.



(Das Landerziehungsheim in Scheuen, um 1930)

Vor und während der Gerichtsverhandlung in Lüneburg richtete sich das Augenmerk der Presse zum einen auf den Umstand, daß Zustände wie in Scheuen in solchen Erziehungsanstalten im Deutschen Reich keine Ausnahme waren. Und zum anderen darauf, daß die für das Heim zuständige Berliner Stadträtin Klara Weyl nicht nur von diesen Zuständen Kenntnis gehabt hatte, sondern sie durch ihre Untätigkeit zugelassen und gefördert habe. In der „Weltbühne“ hieß es in der Ausgabe vom 2. Juni 1931:

Ein hohes Gericht, die IV. Große Strafkammer des Landgerichts I [hat] der Amtsführung des Berliner Landesjugendamtes die schlimmste Verlotterung attestiert, die jemals einer deutschen Behörde vorgeworfen werden konnte. Das Gericht hat festgestellt, daß die verantwortliche Dezernentin des Landesjugendamtes, Frau Weyl, den scheuener Erziehungsdirektor Straube, von dem das Gericht als objektiv erwiesen ansieht, daß er ein Menschenschinder und Totschläger ist, begünstigt hat. Das Gericht hat festgestellt, daß eben diese Dezernentin in grober Fahrlässigkeit die schlimmen Zustände von Scheuen verschuldet hat. (Jg. 27, Nr. 22, S. 790)


(Der Umstand, daß Klara Weyl (1872-1941), ab 1918 Stadtverordnete in Berlin und Mitglied im Wohlfahrtsausschuss des Deutschen Städtetages, dies als Abgeordnete der SPD wahrnahm, die Carl von Ossietzky in der „Weltbühne“ mit fast demselben Furor befehdet wurde wie die Nationalsozialisten, hat natürlich nichts mit einer solchen publizistischen Attacke zu tun.)

Zum Thema „Berlin ist nicht Weimar“ wäre noch anzumerken, daß das (tatsächliche) Chaos in der Endphase der Weimarer Republik, deren letzte drei Regierungen ab April 1930 unter Kanzler Heinrich Brüning sich nicht mehr auf parlamentarische Mehrheitsentscheidungen stützen, sondern auf Notverordnungen nach Artikel 48 der Verfassung, sich nicht nur den gegenseitig blockierenden unterschiedlichen Parteien verdankte, sondern auch dem wirtschaftlichen Zusammenbruch nach den New Yorker Börsenkrach vom November 1929. Im Sommer 1931 erlebte die Weltwirtschaftskrise nach einer scheinbaren Erholung im Jahr zuvor eine zweite, drastischere Welle. Das gegenwärtige Berliner Chaos hat dagegen allein hausgemachte Gründe: sie heißen „Energiewende,“ „illegale Massenmigration,“ „Brandmauer“ und "Merz."






U.E.

© U.E. Für Kommentare bitte hier klicken.