1. November 2025

„Vorne macht es ‚zisch!‘ und hinten knallt’s“ – Halloween mit der deutschen Politik





Ich kauf' mir 'ne Rakete, und fliege auf den Mars!
Und fall' ich wieder runter, fragt jeder mich: wie war's?
Am Mars? - Am Mars? - Am Mars!
Vorne macht es „zisch!“ und hinten knallt's!
Schon flieg' ich der Venus um den Hals.
Jammern meine Gläubiger hinauf:
"Zahl' die Schulden!" - sag' ich: "Komm' Se 'rauf!"
Und wenn du etwas Geld erbst von Großpapa, dann spar's
Und kauf dir 'ne Rakete, und komm zu mir zum Mars.
Zum Mars! - Zum Mars! - Zum Mars!

- Weintraub’s Syncopators (1932)

I.



Daß es Halloween ist, die Zeit der imaginären und harmlosen Schreckgespenster, merkt man daran, daß deutsche Politiker das Bedürfnis verspüren, sich als Nick der Weltraumfahrer zu verkleiden und unter dem Motto „Der Weltraum: unendliche Weiten“ zu schwärmen, statt sich mit dem höchst realen „Raumschiff Berlin: unendliche Pleiten“ zu befassen und so nach dem Motto „Süßes oder Saures!“ das „Luftreich der Träume,“ das schon Heinrich Heine als natürliches Biotop der Deutschen ausgemacht hat, zu bedienen statt des Sauren, mit dem sie die restlichen 364 Tage die Wähler und Steuerzahler heimsuchen. Schon im vergangenen Dezember, also weit vor angeblichen „Regierungswechsel“ im Mai, träumte die CDU, dieses Land zum „Kompetenzzentrum von Luft- und Raumfahrt“ zu machen. ­



Wir legen eine Hightech-Agenda vor. Deutschland muss Kompetenzzentrum und Innovationsstandort für Zukunftstechnologien werden – von der Luft- und Raumfahrt bis zum Quantencomputing. Wir werden eine neue, ambitionierte Raumfahrtstrategie verfolgen. #wiedernachvorne #Politikwechsel




Am Dienstag twitterte Kanzler Merz von „Wohlstand, Freiheit und technologischer Souveränität“ durch Mikroelektronik. Und Dorothee Bär verkündete ebenfalls am Dienstag: „Der Wegs ins All führt künftig über Deutschland!“ Frau Bär, die älteren Leser werden sich vielleicht noch daran erinnern, ist die Frau, die seit dem März 2018 darauf wartet, vom Flugtaxi abgeholt zu werden. Das war nach ihrer Ernennung zur Staatsministerin im Kabinett Merkel III. mithin ohne „festen Geschäftsbereich.“ Mittlerweile hat sie als Wartehäuschen das Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt in Bonn bezogen. Diese Zielvorgabe garnierte sie mit dem Verweis auf die deutschen Startups Isar Aerospace, HyImpulse sowie die Rocket Factory Augsburg, deren Namen ihr Ministerium in seiner Pressemitteilung auch noch falsch, nämlich mit einem Bindestrich, schrieb. Das mag sich jetzt kleinlich anhören. Aber im Bereich Raumfahrt haben genau solche Kleinlichkeiten schon zu schwerwiegenden Verlusten gehört. Der Start der ersten amerikanischen Venussonde Mariner 1 am 22 Juli 1962 von Cape Canaveral etwa endete fünf Minuten nach dem Abheben von der Startrampe 12, weil ein Techniker beim Programmieren des Bordcomputers – genau – einen Bindestrich vergessen hatte (der Burroughs-Lenkcomputer war für die Steuerung von Interkontinentalraketen entwickelt worden und eins der ersten Elektronengehirne, die vollständig mit Transistoren bestückt waren, und arbeitete auf 24-Bit-Basis. Der Vorfall ist in den späten sechziger Jahren als „teuerster Tippfehler aller Zeiten“ ins „Guinness-Buch der Rekorde“ aufgenommen worden; der damalige Betrag von 18,5 Millionen Dollar für die Mission entspricht etwa 200 Millionen heute). Auch der Verlust der russischen Marssonde Phobos 1 im September 1988, zwei Monate nach dem Start von Baikonur, ging auf einen vergessenen Bindestrich zurück.



Denn mit Isar Aerospace, Rocket-Factory Augsburg und HyImpulse haben wir in Deutschland drei exzellent aufgestellte Microlauncher für die von Deutschland initiierte European Launcher Challenge.


Nun soll man sich ja bei beschlageneren Quellen rückversichern. Schauen wir also einmal in das „Lexikon für Fernerkundung“ von Kurt E. Baldenhofer (seit 2014 laufend aktualisiert), welche Größenordnung durch die Bezeichnung „Microlauncher“ abgedeckt wird.

Bezeichnung für kleine Start-/Trägerraketen. Mit diesen werden vor allem Kleinsatelliten wie die Nanosats, CubeSats und PicoSATs ins All transportiert, die bisher schon zur Erdbeobachtung und Kommunikation eingesetzt werden und bald auch Internet zur Erde funken sollen. Bei den zu transportierenden Massen geht es also nicht um Tonnen, sondern um Kilogramm.


Ganz zu schweigen von „Bavaria One,“ dem Raumfahrtprogramm des Freistaats Bayern, im selben wie das Bär’sche Flugtaxi-Projekt gestartet und von ruchlosen Spöttern als „Söderchen‘s Mondfahrt“ verhöhnt (der „Deppenapostroph“ wird angesichts des oben Gesagten an dieser Stelle übernommen). Und obschon man in den vergangenen sieben Jahren (so lange benötigte übrigens die USS Voyager unter Captain Janeway in den Jahren 3371 bis 3378, um die Distanz von 70.000 Lichtjahren zur Erde zurückzulegen) sehr wenig bis gar nichts in den Medien mehr darüber gehört hat, ergibt eine kurze Netzrecherche, daß der Bayerische Staat in der Zeit von 2018 bis 2024 immerhin 245 Millionen Euro im Bereich Raumfahrt als Fördergelder zur Verfügung gestellt hat, mit denen auch die drei erwähnten Firmen bedacht worden sind.





Allerdings ist ein solcher Blick auf die Details dazu angetan, leichte Ernüchterung auszulösen. Die von der Firma HyImpulse in Neuenstadt in der Nähe von Heilbronn entwickelte dreistufige Trägerrakete SL1 sollte ihren Erststart 2024 absolvieren; mittlerweile wird als Termin dafür 2026 genannt. Die „kleinere Ausführung“ SR75 ist in ihrer jetzigen Auslegung eine Höhenforschungsrakete, wie sie etwa zur Erforschung von Polarlichtern im norwegischen Andøya zur Anwendung kommen. Der bislang einzige Start ist am 24. Mai 2024 in Australien erfolgt; die Rakete erreichte dabei eine Höge von 50 Kilometern. Die RFA One der Rocket Factory Augsburg, ebenfalls 2018 gegründet, ist bei der Betankung zu einem Starttestlauf, einem sogenannten „Wet Dress Rehearsal,“ bei dem der Antrieb unmittelbar nach der Zündung abgeschaltet wird und der dem Test des gesamten Systems dient, auf der Startrampe des schottischen Weltraumbahnhofs Saxavord explodiert. Und die Spectrum von Isar Aerospace (auch dieses Startup ist 2018 ins Rennen gegangen) ist bei ihrem Erststart am 30. März 2025 in Andøya nach 30 Sekunden außer Kontrolle geraten und beim Aufprall auf die Meeresoberfläche ebenfalls explodiert. In Sachen „hinten knallt’s“ ist die deutsche Raumfahrt also schon einmal gut aufgestellt.

Im Englischen gibt es das schöne Wort „serendipity,“ abgeleitet vom alten Namen der Insel Ceylon (Verzeihung: Sri Lanka), im Deutschen gelegentlich als Serendipität übernommen, das Horace Walpole, der Verfasser des ersten „gotischen Schauerromans“, The Castle of Otranto (1764 – womit wir dieser beim Thema Halloween wären) zehn Jahre vor dessen Erscheinen nach dem persischen Märchen über „Die drei Prinzen von Serendip“ geprägt hat: es bezeichnet einen glücklichen Zufallsfund, wenn man unverhofft bei einer Suche nach etwas völlig anderen auf etwa Nützliches, Hilfreiches oder lang Vermißtes stößt. Da trifft es sich gut, daß ich zur Zeit im Zug einer völlig anderen Materialsichtung die alten Berliner Tagezeitungen der Jahre 1928 bis 1932 durchgehe (das Internet ermöglicht solche Expeditionen ad fontes). Weil diese Blätter aber nur als Scans der Seiten und nicht als Textdateien vorliegen, erweist es sich als unvermeidbar, die Nummern dieser Jahrgänge vollständig zu überfliegen. Und dabei bin ich gestern, wie gesagt rein zufällig, auf diese Meldung zu meinem Thema gestoßen:

„Raketen-Flugplatz Berlin. Die Arbeit des Vereins für Raumschifffahrt“

In seiner Raketenbilanz 1930 äussert der Verein, dass sich im vergangenen Jahr der entscheidende Wendepunkt auf dem Raketengebiet ereignet hat. Verflogen sind die Illusionen des Jahres 1929, an ihre Stelle trat energische praktische Arbeit. „Klar und eindeutig haben wir der Wissenschaft durch unser Gutachten der chemisch-technischen Reichsanstalt. Ausgestellt durch Oberregierungsrat Dr. Ritter, bewiesen, dass unsere Raketendüsen einwandfrei gebrannt, 7 kg Betriebsstoffe, 8 kg flüssigen Sauerstoff und 1 kg Benzin verbraucht und 7 kg konstanten Rückstoss erzielt haben. Mit einem Schlage gab das Gutachten der chemischen Reichsanstalt dem Raketenproblem eine feste Basis.“ Aber während nun in den Versuchsanstalten mit doppeltem Eifer weiter experimentiert wird, macht sich die Notwendigkeit fühlbar, Mittel zur Weiterarbeit aufzubringen. In Amerika wird beispielsweise die Raketenforschung nicht nur vom Staat, sondern auch von Privaten finanziert.“ (Berliner Tageblatt, Vormittagsausgabe vom 20. Januar 1931, S. 6)


Ein kleines Beiseit: gelegentlich liest man Klagen, daß viele, wenn nicht die meisten Zeitungen heute keine eigene Redaktionsarbeit mehr leisten, sondern nur noch die Meldungen der Presseagenturen wie DPA, Reuters oder AFP unverändert weiterreichen, so daß sich viele Blätter wie ein Ei dem anderen ähneln. Da ist es erfreulich, in der Berliner Morgenpost vom selben Tag dazu diese Meldung zu lesen:

„Der erste Raketen-Flugplatz der Welt. Im Berlin im Entstehen. Die Arbeiten in Reineckendorf-West“

In seiner Raketenbilanz 1930 äussert der Verein, dass sich im vergangenen Jahr der entscheidende Wendepunkt auf dem Raketengebiet ereignet hat. Verflogen sind die Illusionen des Jahres 1929, an ihre Stelle trat energische praktische Arbeit. Aber während nun in den Versuchsanstalten mit doppeltem Eifer weiter experimentiert wird, macht sich die Notwendigkeit fühlbar, Mittel zur Weiterarbeit aufzubringen. (Berliner Morgenpost, 20. Januar 1931, S. 4)


Das Vergnügen verdankt sich allerdings der Erkenntnis, daß diese Übernahmepraxis anscheinend auch von vor 95 Jahren im Schwange war. Immerhin kommt es im Bereich Raumfahrt auf Sorgfalt und Präzision an. Oder, wie man im Land der „Bavaria One“ sagt: nur net hudeln.



(Titelbild der ersten "Nick"-Ausgabe im Pikkolo-Format, Oktober 1958)

II.

Liebe Doro Bär, lieber Markus, sehr geehrter Herr Bundeskanzler: pedantisch veranlagt, wie ich nun einmal bin, möchte ich Ihnen ein paar Fakten und Zahlen nennen, die Sie am besten ignorieren sollten (eine Kernkompetenz aller Politiker), weil Sie sonst Gefahr laufen, daß Ihnen die Luft wegbleibt und Sie und dann heute Nacht als Schnappi, das kleine Krokodil, im Berliner Regierungsviertel spuken zu müssen statt als Nick, Flash Gordon oder im Fall von Frau Doro, als Prinzessin Leia.

Heute abend, während ich diese Zeilen tippe, ist von der Startrampe 4 der Air Force Base Vandenberg im Norden Kaliforniens der 100. (im Worten: einhundertste) Start einer Starlink-Mission in diesem Jahr erfolgt. In der vergangenen Woche hat die Zahl der im Rahmen dieses Programms gestarteten Satelliten die zehntausend überschritten. Bevor diese Starts im November 2018 mit dem Start der ersten beiden Testsatelliten begonnen haben, haben sämtliche Raumfahrtnationen seit Sputnik 1 im Oktober 1957 insgesamt 8700 Satelliten in die Erdumlaufbahn und darüber hinaus befördert. Mittlerweile liegt die Startfrequenz dafür bei zwei Tagen. Der Start heute war der 139. Start einer Falcon 9 in diesem Jahr, der 168. Innerhalb der letzten 365 Tage, und der 559. überhaupt. Zum Vergleich: die bisher am häufigste gestartete Trägerrakete ist die Sojus-U; sie hat zwischen ihrer Einführung im Mai 1973 bis zu ihrer Ablösung durch die Sojus-2 im Februar 2017 765 erfolgreiche Starts absolviert (bei 22 Fehlschlägen, nebenbei). Anfang Dezember 2024 lag die Zahl der Falcon-9-Starts bei 418. Im ersten Quartal 2025 hat SpaceX insgesamt Nutzlasten von 421 Tonnen in die Umlaufbahn gebracht; 60 mal mehr als die nachfolgende Konkurrenz, Roskosmos, mit 7,2 Tonnen. Die europäische Raumfahrtbehörde ESA lag in diesem ersten Quartal an vierter Stelle mit 3,6 Tonnen, gefolgt von der indischen Raumfahrtagentur ISRO mit 2.2 Tonnen. Bis heute haben sowohl die ESA wie die ISRO in diesem Jahr je drei Starts absolviert. Es mag in Ihren Ohren zynisch klingen – aber angesichts solcher Zahlen klingt die Ankündigung, daß „der Weg ins All in Zukunft über Deutschland“ führen wird, fast ein wenig vermessen.

Der Kleine Zyniker, der mir beim Schreiben stets über die Schulter sieht, fragt: wie groß denn die Zahl der Nutzlasten überhaupt ist, die Deutschland in einem überschaubaren Zeitraum überhaupt in den Weltraum gebracht hat – sagen wir seit Anfang März 1945? (Pedantisch, wie er ist, merkt er an, daß der erste Flugkörper, der die Von-Kármán-Linie überflog, die seit 1958 im 100 km Höhe den „Beginn des Weltraums“ markiert, eine A4 mit der Seriennummer MW 18014 war, die am 20. Juni 1944 von Peenemünde aus gestartet wurde und eine Gipfelhöhe von 176 km erreichte.)

Passenderweise hat SpaceX gestern, am 30. Oktober eine neue Designstudie für das Starship vorgestellt, dessen 10. und 11. Flug am 26. August und 13. Oktober nach zwei Fehlschlägen mit der neuen, Block 2 genannten Version ein voller Erfolg waren. Der Erstflug der Block-3-Version ist für Anfang 2026 geplant. Im Lauf des nächsten Jahres sollen zwei grundlegende Operationen getestet und durchgeführt werden: zum einen das Einfangen der Ship genannten Oberstufe an einem der Starttürme auf der Starbase in Texas oder auf der Startrampe 40 in Cape Canaveral, und dann die Betankung eines Starship durch ein zweites in der Erdumlaufbahn – eine Voraussetzung dafür, dieser Rakete als „Human Landing System“ für die geplante bemannte Mondlandung im Zug des Artemis-Programms oder für einen Flug zum Mars verwenden zu können. Wie Elon Musk gestern auf X mitgeteilt hat, ist das Starship darauf ausgelegt, eine Besatzung von 100 Menschen zu transportieren. Es ist durchaus möglich, daß der ursprünglich von Elon Musk ins Auge gefaßte Zeitplan, während der nächsten Zeitfensters für einen Flug zum Mars fünf solcher Schiffe auf den Weg zu bringen, nicht eingehalten werden kann (das Startfenster öffnet sich in diesem Fall vom 30 Oktober bis zum 16. November 2026). Aber das sich diese Stellung von Erde und Mars alle 26 Monate wiederholt, kann man eigentlich eine sichere Wette darauf abschließen, daß auch hier das Motto von SpaceX „from impossible to late“ – von der Unmöglichkeit bis zur verspäteten Einlösung – gelten wird.





III.



(The Mars Project, 1953)

Gelegentlich entdeckt „das Internet“ die Tatsache, daß der Chefkonstrukteur der V2 (oder der A4, wie dieses „Aggregat“ ursprünglich hieß), Wernher von Braun, schon lange vor dem Beginn des Raumfahrtzeitalters in den Vereinigten Staaten über einen „Herrscher des Mars“ geschrieben und ihn „Elon“ genannt hat. Das stimmt allerdings – und zugleich liegt darin eine kleine terminologische Unschärfe. Von Braun hat drei Jahre, nachdem er im Zug des Project Paperclip in die USA gekommen war, ab Weihnachten 1948 einen Roman geschrieben, dem er den Titel „Marsprojekt“ gab. Darin schildert er die Konstruktion einer Flotte von Raumschiffen im Erdorbit für diesen Flug, während die Konstrukteure während dieser Zeit in einer ringförmigen Raumstation untergebracht sind. Von Braun schildert minuitiös die technischen und bahnmechanischen Details für einen solchen Flug, und in einem fast 60 Seiten langen „technischen Anhang“ rechnet die nötigen Massen, Bahnelemente, Beschleunigungen und so weiter und so fort akribisch durch. Von Brauns Text ist 1950 von Henry J. White, Hauptmann der US Army, der von Braun nach seiner Festnahme durch die Amerikaner im Mai 1945 als Übersetzer gedient hatte, ins Englische übersetzt worden. Diese Fassung ist von 18 amerikanischen Verlagen und „völlig unlesbar“ abgelehnt worden. Von Brauns deutscher Verlag, Bechtle in Stuttgart, hat es ebenso gehalten. Allerdings hat von Brauns Lektor bei Bechtle das Manuskript an den Schriftsteller Franz L. Neher (1896-1970) weitergeleitet, der bereits die Erinnerungen von von Brauns Vorgesetztem in Peenemünde, General Dornberger, 1952 in eine druckreife Form gebracht hatte. Neher hat die technischen Details aus von Brauns Anhang akribisch übernommen, aber ansonsten eine völlig neue Handlung mit einem Umfang von 600 Seiten dazu verfaßt. Dieses Buch ist 1953 unter dem Titel „Menschen zwischen den Planeten“ erschienen. Es war allerdings alles andere als ein Erfolg, was sich auch der Überfrachtung durch technische Details und der sich zäh dahinziehenden Handlung verdankt. Erst 1983 hat der Heyne Verlag einen Nachdruck als Taschenbuch herausgebracht.





Von Brauns „technischer Anhang“ hingegen ist in seiner ursprünglichen deutschen Fassung 1952 im Umschau Verlag als das Marsprojekt veröffentlicht worden, mit einem Umfang von 81 Seiten; die englische Fassung ein Jahr darauf bei der University of Illinois Press als The Mars Project (Umfang 91 Seiten). Von Braun verlegt seine Marsexpedition in das Jahr 1980; die 7 bemannten Schiffe mit ihren 70 Mann Besatzung und die 3 Frachtraumschiffe beginnen ihren Flug zum roten Planeten, indem sie ihre Antriebe, die 200 Tonnen Schub erzeugen, für 66 Minuten zünden, um das benötigte Delta-v von 3960 m/s zu erreichen. Beim Rückflug zur Erde waren zum Einschwenken in eine Umlaufbahn in 1730 km Höhe eine Brenndauer von 163 Sekunden für ein Delta-v von 3640 m/s und einem resultierenden Treibstoffverbrauch von 222 Tonnen nötig. Man beginnt zu ahnen, warum daraus kein Bestseller geworden ist.

Sobald die Expedition in von Brauns ursprünglicher Fassung am Ziel angelangt ist, ändert sich der Tonus des Textes: die Raumfahrer von der Erde treffen auf eine hochentwickelte Zivilisation von Marsbewohnern, die den Erdlingen verblüffend ähneln. Und in der Manier der drögsten Utopien des vergangenen Jahrhunderte werden ihnen die Einzelheiten einer idealen Gesellschaft in all ihren einschläfernden Einzelheiten präsentiert – nur das von Brauns Idealstaat, anders als bei so vielen seiner Vorgänger, keine kommunistische Gütergemeinschaft mit eisernem Zwang darstellt (wie etwa in Campanellas „Sonnenstaat“ oder Étienne Cabets „Ikarien“), sondern eine rein utilitaristische, ganz an pragmatischen Aspekten orientierte. Besonders das politische System des Mars ähnelt verblüffend dem seiner neuen Wahlheimat USA. Auf S. 391 von Von Brauns Typoskript lautet der Passus:



Die Regierung des Mars bestand aus zehn Männern. An ihrer Spitze stand ein von der Gesamtbevölkerung für jeweils fünf Jahre erwählter Mann, den die Marsianer den „Elon“ nannten. Dem Elon aber und seinem Kabinett stand ein Parlament gegenüber, das die Gesetze beschloss, nach denen das Kabinett zu regieren hatte.

Das Marsparlament hatte zwei Häuser.

Das Oberhaus nannte sich der „Rat der Alten“. Sein Umfang war auf sechzig Personen beschränkt, die von dem jeweils amtierenden „Elon“ auf Lebenszeit berufen wurden, sobald ein bisheriges Mitglied verstorben war. Das hier angewandte Prinzip ähnelte in vieler Hinsicht der Auswahl für das Kardinalskollegium der katholischen Kirche. Gewöhnlich griff der „Elon“ bei diesen Berufungen auf Historiker, Kirchenführer, frühere Kabinettsmitglieder oder erfolgreiche Wirtschaftsführer zurück, die in einem langen Leben auf wichtigem Posten wertvolle Erfahrungen gesammelt hatten. Der „Rat der Alten“ hatte jedoch nur eine beschränkte Zuständigkeit.


Henry Whites englische Übersetzung ist 2006 als literarisches (bzw. historisches) Kuriosum von dem kanadischen Kleinverlag Apogee Books erstmals veröffentlicht worden (Project MARS: A Technical Tale, 260 S., C$ 12,95 - wobei der Verlag anmerkt, daß es sich auch hier um eine „gekürzte Fassung“ handelt). Dort fährt der Text fort (meine Übersetzung von Whytes Übersetzung):

… in Vorschlag gebrachte Gesetze konnten in der präsentierten Fassung angenommen oder abgelehnt werden, aber es durften keine Konditionen, Erweiterungen oder Änderungen vorgenommen werden. Der Ältestenrat konnte Gesetze vorschlagen, beraten und prüfen. Seine Hauptaufgabe bestand nicht im Handeln, sondern darin, sicherzustellen, daß neue Gesetze dem Geist der bisherigen entsprach, und diese Tradition zu bewahren. Das Unterhaus, die Abgeordnetenkammer, war für das Handeln zuständig, denn hier fielen die Entscheidungen und es wurde heftig gestritten. Der Hauptunterschied zwischen dem Parlament des Mars und seinen irdischen Entsprechungen lag im Wahlsystem. Der Vereinte Rat der Erde bestand aus den Vertretern, die in den einzelnen Regionen nach dem bewährten Vorbild der großen demokratischen Staaten gewählt wurden. Das Marsparlament dagegen bestand aus Repräsentanten der verschiedenen Berufsgruppen. Dieses eigenartige System verdankte sich der Organisation der gesamten Gesellschaft des Mars, das sich grundlegend von der irdischen Gesellschaft unterschied, ungeachtet der Ähnlichkeit zwischen dem Denken und Fühlen des Einzelnen und seines Bruders auf Erden. Diese uralte Kultur hatte längst das Stadium hinter sich gelassen, in dem das Wohlergehen des Einzelnen davon abhing, daß seine Region angemessen in der Regierung vertreten war. Die Erde hatte die Vorstellung noch nicht überwunden, daß der Reichtum jeder einzelnen Region, seien es Rohstoffe oder die Fähigkeiten und der Fleiß seiner Bewohner, in erster Linie den Bewohnern dieser Regionen zugute kommen sollten. Deshalb stimmte jedes Land der Erde für solche Abgeordneten, von denen es sich die Steigerung der eigenen Vorteile und des eigenen Wohlstands versprach. Die Jahrtausende der marsianischen Zivilisation hatten eine hochentwickelte Technologie hervorgebracht, die es erlaubte, alle lokalen Unterschiede zum Verschwinden zu bringen. Die Lebensbedingungen auf dem Mars, die sich so sehr von denen der Erde unterschieden, machten es möglich, diese Welt ohne jede Form einer lokalen Vertretung zu regieren. Vermittels der Hochgeschwindigkeitsstraßen war jeder Punkt des Planeten in weniger als vier Stunden zu erreichen. Das, und die Tatsache, daß die Marsianer aufgrund ihrer unterirdischen Lebensweise keine Zugehörigkeit zu bestimmten Gegenden oder Städten entwickelt hatten, sowie die Nivellierung aller Neigungen und Wünsche, hatte viel dazu beigetragen. Hinzu kam die Massenproduktion sämtlicher Konsumartikel; längst waren organische wie inorganische Materialien durch synthetische Werkstoffe und Nahrung ersetzt worden.


Spannend, nicht wahr? Im weiteren hat „der“ Elon übrigens keinen Auftritt im Buch.











(Die beiden Konvolute der Typoskripte von von Brauns Original und Whites Übersetzung befinden sich heute in der Bibliothek des US Space and Rocket Center in Huntsville, Alabama.)



IV.

Das Couplet „Ich kauf‘ mir ‚ne Rakete“ von den Weintraub’s Syncopators stammt aus dem Film „Glück über Nacht,“ der unter der Regie von Max Neufeld für die Produktionsfirma Hermann Millakowski entstand. Die Uraufführung fand am 25. Dezember 1932 in Leipzig statt; die landesweite Vorführung begann am 5. Januar 1933. Die Musik zu dieser seichten Situationskomödie stammte von Paul Abraham, die Texte von Robert Gilbert und Armin Neumann. Die Plotte dieses Kintopps fügt sich hervorragend in die oben umrissene deutsche Raumfahrttradition: Junger Ingenieur (Hermann Thimig) bastelt sich im Hinterhof eine Rakete für einen Flug in die Stratosphäre; kurz vor dem Start kommt es zur üblichen Verwechslung mit fehlgeleiteten Telephonanrufen, in deren Folge er eine reizende junge Dame (Magda Schneider) kennenlernt. Zwischen den beiden funkt es augenblicklich, und infolge des dadurch verspätet erfolgten Starts haben sich die Wetterbedingungen so weit verschlechtert, daß die Rakete vom Blitz getroffen wird und explodiert. (Apollo 12 ist im November 1969 übrigens während des Starts zwei Mal vom Blitz getroffen worden – ohne zu explodieren. Aber das ist der Grund, warum auf jeder Startrampe von Wenchang über Plesetsk bis zu Mahia auf Neuseeland die vier großen Gittertürme rings um die Startrampe zu sehen sind, die als Blitzschutz dienen.) Der Versuch, einem betuchten Mäzen genügend Risikokapital für einen neuen Versuch zu entlocken, bildet den Rest der Handlung.

Aber, wie schon Oscar Wilde festgestellt hat: Life imitates art; das Leben neigt dazu, sich von der Kunst inspirieren zu lassen (wenn es auch in der Wahl seiner Vorbilder mitunter etwas mehr Geschmackssicherheit an den Tag legen könnte): „Die Natur ahmt die Kunst nach. Die einzigen wirksamen Motive, die sie uns zu bieten hat, sind die, die uns schon durch die Poesie und die Malerei bekannt sind,“ heißt es in dem Essay „Der Verfall der Lüge“ von 1889. Und tatsächlich hat es das Ansinnen „Ich kauf‘ mir ‘ne Rakete,“ und zwar für einen Flug zum Mars, tatsächlich gegeben. Der Betreffende war ein gewisser Elon Musk. In Walter Isaacsons Biografie, 2023 bei Simon & Schuster erschienen, kann man nachlesen, wie Musk, nachdem er 2001 seinen Abschied bei PayPal genommen hatte, Interesse an Raumfahrt und der Möglichkeit, das Leben und die Intelligenz auf mehr als nur einer Welt heimisch zu machen, um im Fall einer globalen Katastrophe eine Versicherung für dessen Überleben zu haben, entwickelte. Und daß sich die Frage, warum irdisches Leben es zwar bis auf dem Mond geschafft hat, aber in den damals 30 Jahren seitdem nicht weiter, für ihn nachgerade zu einer Obsession wurde. Zunächst verfiel er auf de Idee, eine Kapsel mit einem Lebenserhaltungssystem und ein paar Mäusen auf den Weg zum roten Planeten zu bringen; dann, um nicht peinliche Bilder toter Mäuse verbreiten zu müssen, ein kleines Gewächshaus. Als Trägerrakete entschied er sich zu einer Anfrage an die russische Raumfahrtagentur Roskosmos, die zur Jahrtausendwende notorisch klamm bei Kasse war (die acht „Weltraumtouristen,“ die zwischen 2001 und 2009 für jeweils 10 Tage die Internationale Raumstation besucht haben, haben mit ihrem Fahrpreis in Höhe von 20 Millionen Dollar den Betrag bezahlt, den Roskosmos der NASA pro Jahr für die Nutzung zahlt). Als Trägersystem wollte er die Russen um drei Raketen des Typs Dnjepr bitten. Dabei handelte es sich um eine modifizierte Interkontinentalrakete der Bauart R-36M, die 1975 in Dienst gestellt worden ist; der Erststart der Днепр erfolgte im April 1998. Ende Oktober 2001 traf er sich in Moskau mit Vertretern der Raumfahrtkonzerne NPO Lawoschkin und Kosmotras, um über den Ankauf (oder zumindest die Nutzung) zu handeln. Musk hat später in Interviews geschildert, wie er sich von den Russen hingehalten und nicht ernstgenommen fühlte: sie sahen in ihm einen dummen, neureichen Jungen, einen ahnungslosen, spleenigen „Janki“ (russisch Янки), der keinen Wodka vertrug. Die geforderten Preise stiegen von 10 über 20 auf 36 Millionen Dollar – und dies nicht wie zunächst vereinbart für das Gesamtpaket, sondern als Stückpreis. Das war der Punkt, an dem Musk schließlich frustriert das Handtuch warf und sich entschied: wenn sie mir keine Rakete verkaufen, dann bau‘ ich mir eben selbst eine!

Und der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.

(PS. Die Gründung von SpaceX erfolgte im Mai 2002.)

U.E.

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