„Ich will euch etwas von dem kleinen Johannes erzählen. Meine Geschichte erinnert zwar sehr an ein Märchen, aber dennoch ist alles in Wirklichkeit so geschehen. Sobald ihr das nicht mehr glaubt, sollt ihr nicht weiterlesen, denn ich schreibe dann nicht für euch. Auch dürft ihr nie zu dem kleinen Johannes darüber sprechen, wenn ihr ihm jemals begegnen solltet, denn das würde ihm Kummer bereiten und ich würde es bereuen, euch dies alles erzählt zu haben.“
Frederik van Eeden, Der kleine Johannes (1885/1887/1892/1906)
Namenswitze sind zurecht verpönt und man sollte sie sich tunlichst verkneifen, auch wenn es im Bereich der sozialen Medien mitunter en vogue ist, wie im Fall von Ursula-fond-of-Lying oder Greta Thunfisch. Manche Verehrer von Marcel Proust tragen es ihrem Idol bis heute nach, daß der Verfasser der „Suche nach der verlorenen Zeit“ sich in jungen Jahren ein mattes Wortspiel mit dem Namen seines Freundes Marcel Plantevignes erlaubt hat, als er seinen Namen zum Anlaß dafür nahm: „… Wenn ich Rebstockpflanzer hieße / ließ ich auf dem Balkon die Reben sprießen.“ Und dennoch … mitunter gilt der Satz Oscar Wildes: „I can resist anything but temptation.“ Johann Wadephul, seit jetzt 167 Tagen Nachfolger der glanzlosen Frau Baerbock im Amt des deutschen Außenministers, hat nämlich am Freitag aus Gelegenheit seiner Visite in der Türkei aus Anlaß des 64. Jahrestags des Anwerbeabkommen mit der damaligen türkischen Regierung ganz offiziell auf dem Twitter- (Entschuldigung: X)-Account des Auswärtigen Amtes dies erklärt, bzw. erklären lassen:
„Es waren Menschen aus der Türkei, die das Wirtschaftswunder möglich gemacht & Deutschland mit aufgebaut haben. Heute ist die #Türkei ein wichtiger strategischer Partner, sowohl innerhalb der NATO als auch der G20“ – @AussenMinDE im Gespräch mit @Hurriyet: 12:04 PM Oct 17, 2025
Wörtlich lautet der Passus aus dem Interview mit der Zeitung „Hürriyet“ (die sich übrigens mit „ü“ schreibt, liebes Social-Media-Team unseres Außenminderleisters), das das Auswärtige Amt am Freitag hochgeladen hat (immerhin in deutscher Übersetzung, was mittlerweile nicht mehr selbstverständlich scheint angesichts der Tipps zum Bürgergeld und zur Abschiebungsumgehung auf Arabisch, bei denen man auf deutsche Fassungen aus nachvollziehbaren Gründen verzichtet):
Frage:
Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei wurde vor ca. 64 Jahren unterzeichnet. Was bedeutet die Beschäftigung dieser Menschen für Deutschland?
Johann Wadephul:
Das Anwerbeabkommen ist auch heute noch bedeutend und prägend für Deutschland. Es waren ganz entscheidend auch Frauen und Männer aus der Türkei, die mit harter Arbeit unter teils sehr schwierigen Umständen das sogenannte „Wirtschaftswunder“ möglich gemacht haben – sie haben das moderne Industrieland Deutschland mit aufgebaut. Das ist viel zu lange nicht ausreichend gewürdigt worden.
Wadephul, dessen Name bei Gelegenheit seines Dienstantritts in den sozialen Medien wie X oder Facebook zum englischen „What a fool“ verballhornt worden ist, hat diesem unschmeichelhaften Spitznamen damit alle Ehre gemacht (obwohl das naheliegende „Außenminder“ auch einen gewissen Charme hat). Denn natürlich haben „die Menschen aus der Türkei“, die ab 1961 als zeitweise (!) Arbeitskräfte angeworben wurden, weder das westdeutsche „Wirtschaftswunder möglich gemacht“ oder dieses Land „mit aufgebaut.“ Diese Legende wird zwar seit gut zwanzig Jahren von türkischen Interessenverbänden immer wieder behauptet, aber schon ein flüchtiger Blick in den Verlauf des Wiederaufbaus, die ökonomische Leistungsfähigkeit des „BRD“ in der Nachkriegszeit (die hier einmal die ersten beiden Jahrzehnte nach 1945 umfassen soll) und die Geschichte der Anwerbeabkommen ab Ende der fünfziger Jahre entzaubert diese Version ganz und gar.
I.
Wann genau der Beginn des „westdeutschen Wirtschaftswunders“ anzusetzen ist, darüber gehen in der Literatur die Auffassungen auseinander – je nachdem, ob der beginnende Trend der wirtschaftlichen Erholung oder die Zahlen der produzierten Güter, des BIP oder des wieder erreichten Lebensstandards zugrunde gelegt werden, werden die Jahreszahlen 1951 bis 1953 genannt. Fest steht aber, daß das „Wirtschaftswunder“ 1954 in vollem Gang war und ein Jahr darauf, 1955, seinen Höhepunkt mit einer Steigerung von 10 Prozent erreicht hat. Niemand hatte während der Zeit der „Stunde Null“ erwartet, daß eine solche Erholung noch während der eignen Lebenszeit erfolgen würde. Bei Kriegsende im Mai 1945 waren die Gebiete der Großstädte wie Köln, Hamburg, Nürnberg und im Ruhrgebiet bis zu 70 Prozent eine zerbombte Trümmerlandschaft, 80 bis 85 Prozent der industriellen Produktionsstätten waren zerstört. Nach der Währungsreform im Juni 1949 und der Gründung der beiden Teilrepubliken übersteigt die Zuwachsrate der Gesamtindustrieproduktion bereits 1950 die von England; 1951 lag der deutsche Zuwachs bei 25 Prozent, 1951 noch bei 18.1 Prozent; die Zahl der Beschäftigten und Arbeiter stieg zwischen 1950 und 1960 von 13,8 Millionen auf 19,8; die Arbeitslosenquote sank im gleichen Zeitraum von 10,3 auf 1,2 Prozent (heutige Ökonomen sprechen schon bei einem Anteil zwischen 4 und 5 Prozent an Erwerbslosen von „Vollbeschäftigung“). 1955 lief in Wolfsburg der einmillionste VW-Käfer vom Band. Während noch bis Mitte der fünfziger Jahre in zahlreichen Städten die sogenannten „Nissenhütten“ als armselige Notunterkünfte das Stadtbild prägten, war Ende des Jahrzehnts die Notsituation (für die in jenen Jahren das heute vergessene Stichwort „Schlüsselkind“ stand) weitestgehend beseitigt. Zwischen 1950 und 1960 wurden jährlich an Neubauwohnungen fertiggestellt (Angaben in Tausenden): 372 (1950), 425 (1951), 461 (1952), 540 (1953), 571 (1954), 568 (1955), 591 (1956), 560 (1957), 520 (1958), 588 (1959) und 574 (1960). Das durchschnittliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts lag in diesem Jahrzehnt gemittelt bei 8,2 Prozent; 1950 lag es bei 79 Milliarden DM; 1960 bei 300 Milliarden. Die Zahl der Rundfunkgeräte stieg in dieser Zeit von 4,17 Millionen auf 15,4 Millionen; die Zahl der angemeldeten Fernsehgeräte (die ARD hatte zu Weihnachten 1952 den regulären Sendebetrieb aufgenommen), stieg 1960 auf 3,5 Millionen (der Durchschnittpreis einer „Flimmerkiste“ lag 1960 bei guten 900 D-Mark, bei einem Durchschnittlohn – gemittelt vom Bankdirektor bis zum Handlanger – von 2 Mark 50). In der Außenhandelsbilanz wird diese Entwicklung noch schlagender sichtbar: 1950 importierte Westdeutschland Waren in einem Gesamtwert von 4,275 Milliarden DM und importierte im Gegenzug für 5,8 Milliarden. 1955 waren es 13,15 Milliarden (Import) bzw. 12,50 Milliarden; 1960 lagen die Zahlen bei 24,51 Milliarden zu 21,84 Milliarden. Davon, daß die seit 1961 angeworbenen türkischen Arbeitnehmer das „Wirtschaftswunder möglich gemacht“ hätten, kann also nicht einmal ansatzweise die Rede sein. Noch eindrücklicher zeigt es sich, wenn man sich die Zahlen für den Zuzug ausländischer Arbeitnehmer einmal genauer ansieht.
Das waren also die Verhältnisse, unter denen Ende der fünfziger Jahre die Verträge zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte von der Regierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer geschlossen wurden. Das erste dieser Abkommen unterzeichnete Konrad Adenauer am 20. Dezember 1955 in Rom mit der italienischen Regierung, entsprechende Verträge mit Spanien und Griechenland folgten fünf Jahre später, 1960, mit der Türkei 1961, Marokko und Südkorea 1963, Portugal 1964 und Marokko 1968. 1973 kam es bekanntlich infolge der Ölkrise zu einem Anwerbestopp. Diese Verträge sahen in der Regel einen auf zwei Jahre befristeten Aufenthalt in Deutschland voraus, der aber auf Antrag der Betriebe, in denen sie beschäftigt waren, verlängert werden konnte, damit diese nicht vor dem Problem standen, mit „frischen“ und ungelernten Arbeitern wieder „bei Null“ anfangen zu müssen. Ein Daueraufenthalt, eine reguläre Einwanderung war in keinem Fall vorgesehen. (Das ist ein Punkt, den man nicht genug betonen kann, auch wenn – das heißt GERADE WEIL – es von linker Seite heute immer heißt, Deutschland „sei schon immer ein Einwanderungsland gewesen.“) Und gemeint waren mit diesen Abkommen nicht die Betreiber italienischer Eisdielen und türkischer Dönerbuden (die in unseren Innenstädten auch erst in den 1980er Jahren eröffnet wurden), sondern unqualifizierte Hilfsdienste und „Malochen am Fließband“. Zwischen 1955 und 1973 kamen auf diese Weise rund 14 Millionen Menschen in den deutschen Weststaat, von denen im Lauf der Zeit 11 bis 12 Millionen wieder zurückkehrten. Im Fall von Italien etwa waren es 4 Millionen; davon kamen 1965 die meisten, nämlich 250.000. 1955 zählte das statistische Bundesamt für die Bundesrepublik insgesamt 80.000 nichtdeutsche Arbeitskräfte, davon waren 8000 Italiener, 600 Griechen und 500 Spanier. 1960 belief sich die Gesamtzahl auf 329.000 (144.000 Italiener, 21.000 Griechen, 1.600 Spanier und 3.000 Türken), 1970 waren es dann 1,95 Millionen, darunter 382.000 Italiener, 242.000 Griechen, 172.000 Spanier und 354.000 Türken.
(Falls die Nennung von Südkorea in der Aufzählung oben irritiert: hier handelte es sich um wenige Tausend, zumeist die in den siebziger und achtziger Jahren sprichwörtlichen „koreanischen Krankenschwestern“ sowie um einige hundert Bergarbeiter, deren erste Gruppe am 16. Dezember 1963 in der Bundesrepublik eintraf. Im Gegensatz zu den übrigen Gruppen handelte es sich hier um qualifizierte Arbeitskräfte – mehr als 60 Prozent verfügten über einen Hochschulabschluß oder die Hochschulreife.)
II.
So, in unterschiedlicher Variation, konnte man es vorgestern auch auf zahlreichen Internet-Portalen lesen, naturgemäß solchen „rechter Couleur“ (da es seit geraumer Zeit zur Definition von „rechts“ gehört, wenn Regierungskritik und nicht Regierungsaffirmation betrieben wird), so etwa auch Tichys Einblick („Wer das deutsche Wirtschaftswunder türkischen Gastarbeitern zuschreibt, hat weder das Datum des Anwerbeabkommens im Bewusstsein noch überhaupt einen Sinn für historische Fakten. CDU-Außenminister Wadephul beweist, dass Unkenntnis und Geschichtsklitterung keine grüne Erfindung sind“), Apollo News („‘Menschen aus der Türkei haben das Wirtschaftswunder möglich gemacht‘ – Wadephul irritiert mit Gastarbeiter-Aussage“) oder der „Jungen Freiheit“ ("Trümmertürken statt Trümmerfrauen? Außenminister Wadephul verbreitet in türkischen Zeitungen die Lüge, Türken hätten für das ‚deutsche Wirtschaftswunder‘ gesorgt und das Land ‚aufgebaut‘“). Es gibt aber im Zusammenhang mit dem Anwerbeabkommen mit der Türkei vor „ca. 64 Jahren“ (die Unterzeichnung erfolgte am 30. Oktober 1961 in Bad Godesberg) noch einen Aspekt, der tatsächlich, in den Worten unseres kleinen Johannes: „viel zu lange nicht ausreichend gewürdigt worden ist.“ Das sei an dieser Stelle nachgeholt.
Cora Stephan hat gestern auf Facebook geschrieben: „Das Abkommen erfolgte nicht aus wirtschaftlichen Gründen, es war von der NATO gewünscht, der Deutschland 1955 beigetreten war, die Türkei lag schließlich an der Südostflanke zur Sowjetunion“ und auf X kommentiert: „Die Regierung der USA wollte der türkischen Regierung etwas Gutes tun.“
Das weist in die richtige Richtung, spart aber die entscheidenden Details aus. Anfang der 1950er Jahre, zum Höhepunkt des Kalten Kriegs und der beständigen Drohung mit einem nuklearen Erstschlag von Seiten des Warschauer Pakts, verfügte keine der beiden Supermächte über Interkontinentalraketen, mit denen das Territorium des Gegners erreichbar war (von den strategisch wertlosen Ausläufern an den Enden von Sibirien oder Alaska einmal abgesehen). Die einzige Möglichkeit, solche Sprengsätze an die Zielgebiete über den amerikanischen Metropolen zu bringen, waren Bomberpulks. Der erste Bomber, der dazu in der Lage war, war die Tupolew Tu-95 mit vier Turbopropantrieben, die ihren Erstflug im November 1952 absolvierte und seit 1956 in Dienst gestellt wurde; die amerikanische Aufklärung taxierte die Reichweite dieses Typs auf zunächst 12.000 Kilometer. Im Zug einer solchen Bedrohung entwickelten im Auftrag der amerikanischen Regierung die Firmen Western Electric, die Bell Laboratories und Douglas Aircraft das sogenannte „Project Nike“ – Raketen, die speziell zur Bekämpfung und zum Abschuß hochfliegender Bomber ausgelegt waren. Das erste Modell, die Nike Ajax, mit einer Reichweite von 48 km, wurde seit Dezember 1953 auf mehr als 300 Stützpunkten auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten stationiert. Das nächste, stärkere Modell, war die Nike-Hercules, die eine Reichweite von 140 km aufwies und wahlweise mit konventionellen oder atomaren Sprengköpfen bestückt werden konnte. Durch den erheblich stärkeren Sprengkopf war es hier nicht mehr nötig, daß ein direkter Treffer auf anfliegende Flugzeuge erfolgte: die entstehende Druckwelle reichte aus, um sie zum Absturz zu bringen und der resultierende „elektromagnetische Puls“ (EMP) genügte, um die Bordelektronik lahmzulegen. Diese Baureihe ist, angefangen mit dem Jahr 1960, auf dem Territorium verbündeter NATO-Staaten stationiert worden; auf Stützpunkten, die von der amerikanischen oder kanadischen Armee betrieben wurden. Diesem Umstand ist es zu verdanken, daß etwa hier im Münsterland, in der Nähe der Kleinstadt Schöppingen (heute 7800 Einwohner, vor 60 Jahren etwa 5000), gute 7 Kilometer westlich des Schreibtisches, an dem ich diese Zeilen tippe, zwischen 1964 und 1987 zunächst 12, ab 1972 dann 10 atomare Sprengköpfe für einen solchen Einsatz gelagert waren (davon acht vom Typ B-XS mit einer Sprengkraft von 2 KT und 2 des Typs B-XL mit einer Sprengkraft von 40, später 20 KT).
Die Raketen des Typs Nike (Ajax wie Hercules) waren nicht die ersten Modelle, die auf einen solchen Einsatz ausgelegt waren. Das war die vom Redstone Arsenal in Arizona seit 1951 entwickelte und von Douglas Aircraft gefertigte MGR-1, allgemein nur unter der Bezeichnung „Honest John“ bekannt, deren erste Einheiten im Januar 1953 ausgeliefert wurden. Die Honest John hatte eine Reichweite von 25 Kilometern, erreichte eine 2,3-fache Schallgeschwindigkeit und konnte mit einem strategischen nuklearen Sprengkopf des Typs W7 mit einer Sprengkraft von 20 Kilotennen TNT-Äquivalent bestückt werden.
Aber natürlich waren solche Defensivwaffen, die nur zur Abwehr eines direkten Angriffs auf dem eigenen Landesgebiet ausgelegt waren, nicht geeignet für die Spannungssituation zu den Hoch-, ja Höchstzeiten des Kalten Kriegs. Bis 1955 galt für die NATO noch die Strategie der „MAD,“ der Mutual Assured Destruction, die sicherstellen sollte, daß dem Warschauer Pakt im Fall eines atomaren Erstschlags gegen das westliche Verteidigungsbündnis ein ebenso vernichtender Zweitschlag bevorstehen würde – und daß dieser umgehend erfolgen würde. Zu diesem Zweck kam es auf beiden Seiten ab 1953 zur Entwicklung der Interkontinentalraketen – deren abgewandelte Modelle dann ein paar Jahre später die Starts des ersten Satelliten möglich machten. Die sowjetische R7 absolvierte ihren ersten erfolgreichen Testflug im August 1957, die amerikanische Atlas-A im Dezember desselben Jahres. Beide Modelle waren allerdings noch höchst unausgereift und störanfällig. Um diese Lücke zu schließen, kam es zur Entwicklung der Mittelstreckenraketen, die dann, stationiert auf dem Gebiet der europäischen NATO-Partner, in der Lage waren, Ziele in der Sowjetunion zu erreichen. Die erste Trägerrakete dieser Art, die erste ballistische Rakete der USA, war die PGM-11 Redstone, benannt nach dem Redstone Arsenal in Huntsville im US-Bundesstaat Alabama, in dem die Entwicklung stattfand. (Der erste Teststart einer Redstone am 20. August 1953, der nach 80 Sekunden in einer Explosion endete, war übrigens der erste Raketenstart vom neuen Testgelände in Cape Canaveral.) Die PGM-11 hatte eine Reichweite von 320 km; das daraus entstandene Nachfolgemodell, die PGM Jupiter, entwickelt zwischen 1954 und 1956, verfügte eine Reichweite von 2400 km und konnte mit Sprengköpfen des Typs W38 (3,75 Megatonnen) und W49 (1,44 MT) bestückt werden.
(Die Jupiter-C vor dem Erststart in Cape Canaveral)
Und es war die PGM Jupiter, die dafür vorgesehen war, auf dem europäischen Festland als Sperrgürtel stationiert zu werden. Im April 1958 bat US-Präsident „Ike“ Eisenhower die französische Regierung um die Zustimmung, an drei Standorten in Frankreich insgesamt 45 Raketen dieses Typs stationieren zu dürfen. Dafür hatte er allerdings einen denkbar schlechten Zeitpunkt gewählt. Die Situation der Regierungen in Paris war seit Ausrufung der „vierten Republik“ im Oktober 1946 äußerst labil gewesen; in den nächsten 12 Jahren kam es zu 24 Regierungswechseln, wobei besonders die stark im Parlament vertretenen Kommunisten jederzeit für eine Blockade sorgen konnten. Nach dem Ausbruch des Algerienkriegs 1954 war im Lauf des Jahres 1956 die politische Pappsituation vollends chaotisch geworden. Félix Gaillard hatte Anfang November 1957 seinen Amtsvorgänger Maurice Bourgès-Manoury nach nur 5 Monaten als Ministerpräsident abgelöst. Am 13. Mai 1958 putschte sich das Militär in Überseedepartment Algerien an die Macht und drohte offen damit, in Frankreich selbst unter Kriegsrecht die Macht zu übernehmen, wenn die offensichtlich völlig gelähmte Regierung nicht aufgelöst würde. Eine handstreichartige Landung in Korsika (die sogenannte „Opération Corse“) verlieh dieser Drohung neun Tage später Wirkung. Die Armeeführung verlangte die Einsetzung General de Gaulles, der seit Kriegsende aus dem politischen Geschehen ausgeschlossen worden war, zum neuen Regierungschef. Am 1. Juni 1958 gaben sämtliche Parteien im Parlament, mit Ausnahme der Kommunisten, ihre Zustimmung dazu, womit das Ende der IV. Republik besiegelt war.
Und zu den ersten Amtshandlungen de Gaulle zählte die kategorische Ablehnung der Anfrage aus Washington, solange die von ihm vorgesehene Neustrukturierung der NATO (mit Frankreich als gleichberechtigt führendem Partner) nicht erfolgt wäre. Unter diesen Umständen wandte sich Washington an die Regierungen in Rom (Italien war im August 1949 eins des 12 Gründungsmitglieder des westlichen Bündnisses) und Ankara (die Türkei war im Februar 1952, zeitgleich mit Griechenland, beigetreten). Man erhielt das Zugeständnis, 30 dieser „Systeme“ auf italienischem und 15 auf türkischem Staatsgebiet stationieren zu dürfen. Da der Aufbau und die Indienststellung solcher Stützpunkt einige Zeit in Anspruch nimmt (aus den Anmerkungen am Schluß dieses Beitrags ist unter dem Stichwort „Schöppingen“ zu sehen, daß das 3 Jahre umfaßte), fand die tatsächliche Stationierung in beiden Ländern ab1961 statt.
Und in diese Endphase der Vorbereitung fiel ein weiteres politisches Chaos, ein Staatsstreich, diesmal in der Türkei. Die Verträge mit der türkischen Regierung waren mit Adnan Menderes geschlossen worden, der seit 1950 der neunte Premierminister der 1923 ausgerufenen kemalistischen Republik war. Anfang 1960 kam es in den USA unter Präsident Truman zu einem Wechsel der Bündnispolitik, was das Auslaufen der bisherigen finanziellen Unterstützung zur Folge hatte; gleichzeitig liefen die letzten Finanzhilfen im Zuge des Marshallplans aus. Das verlanlaßte Menderes, offen anzukündigen, er wollte sich an Moskau wenden, „um neue Kredite zu ermöglichen.“ Es war jedem Beobachter klar, daß ein solcher Schritt einen Austritt aus der NATO und den Vasallenstatus zur Sowjetunion zur Folge haben mußte. Am 27. Mai 1960 putschte das türkische Militär gegen die Regierung Menderes. In den darauffolgenden sogenannten Yassıada-Prozessen, die vom Oktober 1960 bis zum September 1961 stattfanden und die großen und zahlreichen Bestechungs-, Korruptions- und sonstigen Skandale als Anklagepunkte hatten (unter anderem das letzte große anti-griechische Pogrom in Istanbul vom September 1955), wurden vierzehn Todesurteile wegen Landes- und Hochverrats ausgesprochen. Außenminister Fatin Rüştü Zorlu, Finanzminister Hasan Polatkan und Menderes selbst wurden am 16. und 17. September 1961 auf der Gefängnisinsel İmralı gehängt (alle drei sind übrigens im April 1990 von der türkischen Nationalversammlung rehabilitiert worden). Der Kleine Zyniker™, der hier stets mitschreibt, fühlt sich zu der Frage bemüßigt: Na, Herr Wadephul, solche kleinen Mißhelligkeiten vom „Herbst vor 34 Jahren“ fanden sich wohl im Dossier Ihres Ministeriums nicht „ausreichend gewürdigt“?
Fünf Tage vor dem Abschluß des Anwerbeabkommens mit der Bundesrepublik trat General Cemal Gürsel, der zugleich Oberbefehlshaber des türkischen Militärs war, sein Amt kommissarisch an General Emin Fahrettin Özdilek ab, der es nach vier Wochen an Ismet Inönu übergab, der von 1938 bis 1950 der erste Nachfolger von Kemal Atatürk gewesen war und wechselte stattdessen ins Amt des Staatspräsidenten, das er bis zu seinem Tod 1966 innehatte.
Zugleich mit der rapiden Landflucht aus den östlichen Landesteilen Anatoliens in die großen Städte an der Mittelmeerküste sowie Ankara und Istanbul (die Einwohnerzahl der Hauptstadt stieg von 1950 bis 1960 von 200.000 auf 450.000; die des früheren Konstantinopel von 960.000 auf 1,4 Millionen) war das wirtschaftliche Wachstum in eine schwere Krise geraten, nach dem Rekordjahr 1954, als die Wirtschaft um 8 Prozent zunahm, sank dieser Wert in den nächsten Jahren auf die Hälfte und lag 1959 bei unter 2 Prozent. Zu dieser Zeit verfügte das Land über keine nennenswerte industrielle Produktion (etwas, das sich bis heute nicht geändert hat); 70 Prozent der damals 28 Millionen Einwohner waren weiterhin in der Landwirtschaft tätig - zu den ersten ökonomischen Weichenstellungen der neuen Militärregierung gehörte es, einen Fünfjahresplan nach dem Vorbild der Sowjetunion zu verabschieden. Um den meist ungelernten Arbeitskräften trotzdem Chancen bieten zu können, erbat sich die Regierung in Ankara von Washington als Gegenleistung für die Stationierung der Jupiter-Raketen, Druck auf Bonn für das oben beschriebene Anwerbeabkommen auszuüben.
III.
Ein kleines, aber entscheidendes Teilchen in diesem Puzzle aus Zeitumständen und Sekundärfolgen habe ich bislang noch unerwähnt gelassen, auch wenn das Stichwort „Huntsville, Alabama“ für beschlagene Leser ein Fingerzeig sein dürfte. Bei der PGM-11 Redstone handelte es sich nämlich um eine direkte Weiterentwicklung der deutschen V2. Und die Entwicklung dieser Rakete an der Army Ballistic Missile Agency, kurz ABMA, wurde von Wernher von Braun geleitet, der im Herbst 1945 im Zuge der „Operation Paperclip“ mit seiner Familie in der Vereinigten Staaten geholt worden war und seit 1950 dort in dieser Funktion tätig war (die formelle Leitung der ABMA unterlag General John B. Medaris; von Braun war als „technischer Leiter“ tätig). Im Januar 1955 beauftragte der „wissenschaftliche Beratungsausschuß“ („Scientific Advisory Group“) der US Air Force die ABMA mit der Entwicklung einer Mittelstreckenrakete, die ebenfalls durch von Brauns Team erfolgte; das Ergebnis waren die Modelle Jupiter-A (Erststart im September 1955) und Jupiter-C (Erstflug im September 1956). Die Air Force betrieb während dieser Zeit die Entwicklung einer eigenen ballistischen Rakete, der Thor, verfolgte dieses Programm nur halbherzig und ohne nennenswerte Erfolge.
Auch wenn der Lauf der Geschichte etwas zu verwickelt und vom Zufall bestimmt verläuft, als daß sich hier direkte Ursache-Wirkungs-Ketten behaupten ließen, läßt sich doch aus dem oben Geschriebenen eins feststellen: ohne von Braun, den Chefkonstrukteur der A4/V2, hätten die Vereinigten Staaten im fraglichen Zeitraum, in den Jahren zwischen 1958 und 1961, nicht über Raketensysteme verfügt, die für eine Positionierung in relativer Nähe zum Territorium der Sowjetunion in Frage gekommen wären; ohne diese Option hätte es keinen Druck aus Washington auf den Juniorpartner in Bonn gegeben, und ohne das Abkommen vom Oktober 1961 hätte es keine nennenswerte Zuwanderung von türkischen Staatsbürgern nach Westdeutschland gegeben (die dann, anders als es vorgesehen war, länger und schließlich dauerhaft als Einwanderer im Land blieben). Vielleicht wäre die Entwicklung ähnlich verlaufen wie im Nachbarland Niederlande, das seinerseits im August 1964 ein Arbeitskräfte-Anwerbeabkommen mit der Regierung Inönü schloß: bis zum Anwerbestopp Ende 1973 infolge der ersten Ölkrise kamen insgesamt 65.000 Türken in die Niederlande. Auf jeden Fall wäre ihr Anteil an der Zuwanderung erheblich geringer ausgefallen. Und weder türkische Interessengruppen noch ein Herr Wadephul würden uns heute das Märchen aus 1001 Nacht erzählen, dieses Land sei nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erst „von Türken wiederaufgebaut“ worden. (Der oben erwähnte Kleine Zyniker™ fügt noch an, daß ein deutscher Politiker natürlich niemals auf die Idee verfallen würde, Arbeiter aus anderen Ländern und Kulturkreisen dafür zu preisen, die vor 1973 in Westdeutschland in Lohn und Brot kamen – weder den zwei Millionen Italienern, den 600.000 Spaniern, den 440.000 Griechen oder den 710.000 Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die 1974 bei uns lebten.) Es ist also keine Übertreibung, zu behaupten, daß ohne Wernher von Braun die Mondlandung im Sommer vor 56 Jahren nicht stattgefunden hätten, sondern auch der Döner nicht zum neuen deutschen Nationalgericht aufgestiegen wäre.
* * *
Anmerkungen:
(Ausgabe von 1915)
„De kleine Johannes“ war 1887 das Buch, das Frederik van Eeden, Kritiker, Sozialreformer und Pionier der Psychologie (1860-1932) als Autor in den Niederlanden bekannt machte. Der allegorische, an junge Leser gerichtete symbolistische Roman, der die Abenteuer eines Jungen schildert, der, auf Daumesgröße verkleinert, unter Käfern, Ameisen und Bienen, in „die Geheimnisse und die Tragik des Lebens“ eingeweiht wird, gilt bis heute als Klassiker der niederländischen Jugendliteratur. In den beiden Fortsetzungen, die van Eeden 1906 und 1907 veröffentlicht hat, setzt sich die Éducation sentimentale des Helden unter den Menschen, zuerst im ländlich-idyllischen Milieu und dann im Elend der während der Gründerzeit aufblühenden Großstädte fort. Allerdings hat das dick aufgetragene „O Mensch!“-Pathos, das den Text im weiteren Verlauf immer strenger durchtränkt, dazu geführt, daß das Buch, wie gar nicht wenige „klassische Titel der frühen Moderne,“ heutzutage zu den ungelesenen Scharteken zählt. („‘Dort siehst du das Große Licht! Dort kannst du das sein, was du sein möchtest! Und dort‘ – er wies auf den dunklen Osten – ‚wo die Menschheit lebt in ihrem Elend: mein Weg führt dorthin. Triff deine Wahl!‘ Und Johannes wandte langsam seinen Blick ab von Windekinds winkender Gestalt und reichte dem Ernsten Menschen die Hand. Und mit seinem Begleiter schritt er vorwärts durch den kühlen Nachtwind, auf dem schweren Weg zur großen, finsteren Stadt, wo die Menschheit und ihr Elend warteten“ – schließt der 1. Teil der Trilogie ab.)
Meine leicht ausgefallene Datierung von „De kleine Johannes“ verdankt sich den Umständen der Veröffentlichung. Die Buchausgabe, deren Datum in der Sekundärliteratur stets genannt wird, erschien 1887 in Verlag Mouton in s’Gravenhage; der damit völlig identische Text ist in den ersten drei Ausgaben der Zeitschrift „De nieuwe Gids“ abgedruckt worden, die van Eeden zusammen mit vier Autorenkollegen, die sich sowohl dem aufkommenden Naturalismus à la Émile Zola wie auch dem Symbolismus verpflichtet fühlten, in Amsterdam gegründet hatte, zwischen Oktober 1885 und Februar 1886 abgedruckt worden (die „frömmelnde Tendenz“ des Textes hat bei van Eedens Redaktionskollegen Frank van der Goes, Willem Kloos, Willem Paap und Alfred Verwey – dem einzigen Namen, der deutschen Literaturkenners aufgrund seiner späteren Verbindung zum Kreis um Stefan George geläufig sein könnte – heftigen Widerspruch hervorgerufen). Mit dem Titel „der neue Führer“ stellte sich die Zeitschrift explizit gegen die führende auf Niederländisch publizierte Kulturzeitschrift ihrer Zeit, „De Gids,“ die seit Januar 1837 in Amsterdam erschien und in ihrer Frühzeit ein Sprachrohr der Romantik nach deutschem und französischem Vorbild gewesen war, aber Mitte der 1880er Jahre nur noch ein Organ der erz-biedermeierlichen „Pastorenliteratur“ darstellte, die den literarischen Neuerern um van Eeden zutiefst verhaßt war. Es liegt eine hübsche ironische Volte darin, daß „De gids“ bis heute erscheint (seit 2011 im Verlag der wöchentlich erscheinenden Zeitschrift „De groene Amsterdammer“) als jetzt älteste Zeitschrift der Niederlande, während der „neue Führer“ seine Rolle als Sprachrohr nach sieben Jahren einbüßte, als sich die Redaktion 1892 heillos zerstritten hatte, die Zeitschrift den Besitzer wechselte, und ab dem ersten Weltkrieg immer reaktionärere Tendenzen an den Tag legte, bis zur unverhohlenen Unterstützung der deutschen Diktatur nach der „Machtergreifung“ 1933. Das brachte ihr eine privilegierte Druckerlaubnis durch die deutsche Zensur nach der Besetzung der Niederlande im Juni 1940 ein, verhinderte aber nicht, daß das Blatt im November 1943 mit dem Tod des Verlegers Alfred Haighton, der als Millionär den Faschismus in den Niederlanden nach Kräften finanziert hatte, eingestellt wurde. Zuletzt zählte das Blatt noch 98 Abonnenten.
Das F-Wort („gids“) im Titel hat allerdings nichts mit der Geschichte der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu tun: es entspricht dem englischen „guide“ im Sinne von Pflanzenführer, Fremdenführer oder Reiseführer (niederländisch „reisgids“). Im Übrigen hatten die sich als „rechts“ verstehenden Gewaltsysteme bekanntlich kein Privileg auf diese Vokabel: Stalin etwa wurde von der sowjetischen Propaganda ab seinem 50. Geburtstag offiziell als вождь/woschd, also „Führer“ tituliert, Fidel Castro war der „maximo lider,“ Nicolae Ceaușescu firmierte als „conducator.“ Und daß das nordkoreanische Trio infernale der Kim-Dynastie durchweg als „Führer“ tituliert wird, dürfte geläufig sein - wobei die Vokabel 수령/ Suryŏng) dem Dynastiegründer vorbehalten ist, während Sohn und Enkel als 지도자/Chidoya) bezeichnet werden: Kim Il-sung als „großer Führer“ (위대한 수령), Kim Jon-il als „lieber Führer“ (친애하는 지도자) und Kim Jong-un als „oberster Führer“ (최고령도자). Für die Nr. 2 standen der Staatspropaganda auch noch die Varianten 존경하는 지도자 („geschätzter Führer“), 현명한 지도자 („weiser Führer“), 영명하신 지도자 („Genialer Führer“), und 유일한 지도자 („einzigartiger Führer“) zur Auswahl.
Die erste Übersetzung von „De kleine Johannes“ ins Deutsche erfolgte 1892 durch Anna Fles (1854-1906, geboren und gestorben in Utrecht), erschienen im Verlag Otto Hendel in Halle a.d. Saale. Mein Eingangszitat entnehme ich der Übertragung von Else Otten, die 1906 in Berlin bei Schuster und Loeffler herausgekommen ist. Otten, 1871 im Amsterdam geboren und 1931 in Düsseldorf gestorben, war während des ersten Drittels des zwanzigsten Jahrhunderts die bedeutendste Übersetzerin niederländischer Literatur ins Deutsche (eine Rolle, die heute Helga von Beuningen übernommen hat); sie übersetzte nicht nur acht Titel von van Eeden (darunter 1906 alle drei Bände des „Kleinen Johannes“), sondern auch 20 Titel von Louis Couperus.
„… si je m’appellais Plantevignes“: der kleine Vierzeiler findet sich in Marcel Plantevignes (1889-1969) 58 Jahre nach ihrem Kennenlernen veröffentlichten Erinnerungen an ihre Begegnungen und Gespräche („Avec Marcel Proust,“ Paris: Nizet, 1966). In der Proust-Forschung hält sich bis heute M.P. des II. Aussage, er habe M.P. d. I. den Einfall zu dem Titel „À l’ombre des jeunes filles en fleurs“ geliefert. Näheres zu ihrem Verhältnis aus der Sicht eines Literaturhistorikers liefert Mireille Naturel, „Marcel Plantevignes avec Marcel Proust“ (in: Marcel Proust, hg. von Jean-Yves Tadié. Paris: Cahier de l’Herne No. 134, 2021, S. 248-252).
Verschnupft hat jedenfalls der von Proust so Bedachte reagiert. In seinen Erinnerungen, die Marcel Plantevignes den beiden Literaturwissenschaftlern Claude Francis und Fernande Gontier aufs Tonband diktiert hat, liest sich der Vorfall, der sich während ihrer ersten Begegnung in Cabourg im August 1908 zutrug (Proust verbrachte die Zeit der Sommerferien von 20. Juli bis 26. September im ein Jahr vorher eröffneten mondänen Grand Hôtel de Cabourg, in dem er von 1907 bis 1913 stets das Zimmer 414 buchte), so:
J’ai dit qui j‘étais de fort mauvaise humeur, et c’est sans doute cet état d’esprit regrettable qui me fit trouver la ballade de ce M. Proust écrite sue mon nom composée en vers de mirliton, car, à la réflexion, il n’est pas possible que même en se jouant, Proust aît jamais écrit des vers de mirliton. Je m’en rappelle vaguement ses bribes, car il n’eu fut jamais question entre nous :
... Si je m‘appellais Plantevignes
J’aurais des pampres à mon balcon.
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Des raisins pleins des compotiers
Si je m‘appellais Plantevignes.
Monsieur, dis-je à Proust après avoir lu très rapidement et très maussadement la ballade, je n’ais jamais beaucoup apprécié les plaisanteries sur les noms, cela rappelle trop le lycée et m’annonce sans doute déjà trop la caserne … Et il est si facile et si puéril de plaisanter des noms …
Proust tiqua, visiblement un peu vexé de ma réponse, et me regarda fort surpris mais comme interesse … Il me réprit rapidement le papier et me dit très cérémonieuxement :
- Vous avez raison, Monsieur, de me rappeler qu’il est ridicule de plaisanter sur les noms.
Et je crois me rappeler qu’il déchira ainsi immédiament la ballade. (S’il fût pas ainsi, mais quelle figure maintenant parmi des autographes de Proust, il est superflu de signaler que je serais ravi de la relire.)
- Marcel Plantevignes, Avec Marcel Proust : Causeries – Souvernirs (Paris : A. G. Nizet, 1966, S. 2-3)
Ich sagte ihm, daß ich schlechte Laune hätte, und ohne Zweifel lag der Grund in dem Gedicht in Knittelversen, die Proust über meinen Namen hingekritzelt hatte. Wenn ich es mir recht überlege, paßten solche Verse so gar nicht zu ihm. Auf jeden Fall sollten sie zu keiner Mißstimmung zwischen uns führen. Ich erinnere mich noch an ein paar Bruchstücke daraus:
Wenn ich Weinstockpflanzer hieße
Ließ ich auf dem Balkon Reben sprießen
Würde die Trauben in vollen Schalen genießen
Wenn ich Weinstockpflanzer hieße.
„Mein Herr,“ sagte ich zu Proust, nachdem ich das Gedicht mit finster Miene überflogen hatte, „ich habe Namenswitze noch nie leiden können. Das erinnert doch zu sehr an Dummejungenstreiche auf dem Gymnasium und beim Militär. Witze über Namen zu reißen, ist doch nur primitiv und kindisch.“
Proust zuckte zusammen, sichtlich erschrocken über meine Antwort, und sah mich überrascht, aber auch mit erneutem Interesse an. Er nahm das Blatt rasch wieder an sich und sagte in eindringlichem Ton:
"Sie haben ganz recht, Monsieur, wenn Sie mich daran erinnern, daß Namenswitze albern sind.“
Und wenn ich mich richtig erinnere, hat er das Blatt sofort zerrissen. Falls ich mich irre und es sich noch unter Prousts Manuskripten findet, brauche ich natürlich nicht zu betonen, daß ich es gerne noch einmal lesen würde.
Plantevignes Erinnerung dürfte nicht trügen. In der Sammlung von Prousts Gelegenheits-Versen („Poèmes,“ Cahiers Marcel Proust No. 10, 1982) findet sich das Gedicht jedenfalls nicht.
“Schöppingen”: Stationiert war dort die 220. Schwadron der Niederländischen Luftstreitkräfte; die Aufsicht und der Einsatz der Nike Hercules unterlag der 508. USAAD (US Army Field Artillery Detachment), während die Niederländer für die Radarüberwachung in Richtung Osten/Harz zuständig waren. Die Stellung lag bei 52°05'44“N, 07°16'19“O; die gedeckte, aber nach vorn offene Lagerhalle lag gut zwei km östlich der Kaserne/Radarstellung. Der Aufbau erfolgte seit 1960, die Übergabe an die Armee erfolgte am 1.5.1963, die Vorabnahme am 4.9.1963, und die Endabnahme-Inspektion durch die NATO fand am 19.10.1964 statt. Die ersten Nike-Raketen wurden im Lauf des Sommers 1964 angeliefert; Ende 1964 fand auf dem Gelände ein „Tag der offenen Tür“ statt, bei dem die Anrainer sich ein Bild machen konnten. Daß dort Atomsprengköpfe lagerten, war nie ein „Geheimnis,“ auch wenn die Zahl und Stärke Verschlußsache waren.
(Anlieferung der ersten Nike-Raketen in Schöppingen im Juni 1964)
("Tag der offenen Tür" im September 1964)
„Finanzielle Unterstützung der Türkei“: diese Unterstützung war mit der Verabschiedung des Marshallplans durch den US-Kongress im April 1948 angelaufen und von $750 Millionen 1949 über $1,07 Milliarden 1950 auf $3,77 Milliarden im Jahr 1954 gestiegen. 1959 belief sich die Höhe der insgesamt geleisteten Finanzhilfen auf 3,01 Milliarden US-Dollar; dieser Betrag sank im folgenden Jahr auf 2,03 Milliarden. Im Sommer 1960 verabschiedete der US-Kongress ein einmaliges Hilfspaket in Höhe von 12 Millionen Dollar. Auch wenn exakte Umrechnungen in heutige Beträge aufgrund der unterschiedlichen Kostenentwicklung in den verschiedenen Sektoren kaum möglich sind, läßt sich doch ein ungefährer Wert in Euro überschlagen, wenn die Zahlen für 1950 mit 11,5, für 1960 mit 9,5 multipliziert werden.
U.E.
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