24. Februar 2025

Der Ukrainekrieg: Auftakt zur Titelserie

So wurde dieser Beschluß [Sizilien anzugreifen] gegen den Willen aller Vernünftigen gefaßt und hatte den gänzlichen Ruin Athens zur Folge.
— Machiavelli, Discorsi, 1. Buch, 53. Kapitel

Heute jährt sich zum dritten Male die Invasion der russischen Streitkräfe in die Ukraine. Für die einen kam sie überraschend, für die anderen nicht. Zu letzeren gehört der Autor dieser Zeilen, wie man in Zettels kleinem Zimmer nachlesen kann. In den Diskussionen dort und in persönlichen Gesprächen wurde mir bewußt, daß offenbar meine Denkweise grundlegend anders ist als bei denen, die sich überrascht gesehen haben. 
Da drängt sich auf, diese Denkweise darzulegen und gleichsam von einer "allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben" zu profitieren , indem mit diesem Text eine Artikelserie über den Ukrainekrieg und die Gesetzmäßgkeiten begonnen wird, die ihn bestimmen.
 
Aber moment mal! Gesetzmäßigkeiten? Gibt es denn da einen Determinismus? Ein Naturgesetz? Waren es nicht politische Entscheidungen, die von den Akteuren auch anders hätten getroffen werden können? Und ganz viel Kriegsglück? Oder soll die Realität auf ein spieltheoretisches Modell reduziert werden, ganz so, wie Prof. Rieck es gemacht hat, um vor der Invasion eine Prognose zu wagen, deren Nichtzutreffen er nach der Invasion versuchte zu erklären?

Es gibt tatsächlich drei grobe Arten von Gesetzmäßigkeiten, die in dieser Artikelserie eine Rolle spielen werden:
- Physikalische Gesetzmäßigkeiten; im weitesten Sinne Gesetzmäßigkeiten der Logistik: Wie kann man Waffenwirkung in ihr Ziel bringen? Wie lange dauert so etwas? Wie kann es überraschend sein? Militärisch ist vieles nicht so möglich, wie man es sich denkt, wenn man sich der nötigen technischen Zwischenschritte nicht bewußt ist. Diese Schritte zu organisieren ist gewöhnlich die Aufgabe von Offizieren. 
- Ökonomische Gesetzmäßigkeiten: Welche Entscheidungen treffen Akteure in der Maximierung ihres Nutzens und in Antizipation der Entscheidungen anderer Akteure, insbesondere hinsichtlich Waffenwirkung? Gedanklich wird man hier Konzepte aus der Neuen Institutionenökonomik und verwandten Gebieten, etwa der Spieltheorie, wiederfinden. Nach diesen Gesetzmäßigkeiten agieren gewöhnlich Politiker, nicht Offiziere.
- Politisch-psychologische Gesetzmäßigkeiten: Hiermit ist gemeint, wie Menschen gegenüber Machtausübung und Propaganda reagieren. Im Grunde kann man darin auch ökonomische Ergebnisse sehen, allerdings spielt eine sehr wesentliche Rolle, was für Kosten und Nutzen man unterstellt. Man kann da eine plausibele Unterstellung finden, wenn man sich bewußt macht, wie man selber "instinktiv" reagiert oder wie man es bei seinen Mitmenschen beobachtet. Dies ist am ehesten spekulativ, aber das wird man in meiner Darstellung erkennen. Am Ende handelt es sich um typische Verhaltensmuster des "gemeinen Volkes"-

Man mag jetzt einwenden, daß dies doch zu reduktionistisch und zu materialistisch sei. Von den Personen wird in diesem Modell ja völlig abstrahiert! Spielen nicht Haß, Chauvinismus, Religion, allgemein ideelle Werte, Persönlichkeit der Führer und schlichtweg auch Verrücktheit oder Irrtümer eine so entscheidende Rolle, daß Menschen töten oder ihr Leben riskieren?

Natürlich sind in unserem Selbsterleben unsere ideellen Werte Bestimmungsfaktoren für unsere Entscheidungen; ebenso wie Verrücktheit und Irrtümer unsere Erklärung für die Entscheidungen anderer sind. Bei individuellen Entscheidungen und im persönlichen Kontakt mag das gelten. Auf der Ebene, auf der über Kriegführung entschieden wird, kann man es aber in guter Näherung an die Realität ignorieren, weil politische und militärische Entscheidungen nie von einer einzelnen Person getroffen und durchgeführt werden, sondern (abgesehen von präsidentiellen Twitter-Botschaften, die nicht vom Social Media Team verfaßt werden) immer in einen kollektiven Prozess eingebunden sind: Berater, Bürokratie und ausführende Organisationsebenen, Parteifunktionäre, Wähler und politische Rivalen. Ein offen verrückter Präsident, der sein Umfeld erkennbar ins Verderben reißt, würde sich nicht dauerhaft halten können und Irrtümer können sich nur halten, wenn es einen Nutzen für die Akteure gibt, ihnen anzuhängen. 

Wie das genau man kollektiv Irrtümern anhängt, wird in etwa zwei Artikeln zu den Themen Medienökonomie und Propaganda erörtert werden. Um vorher einen Begriff von den Irrtümern zu bekommen, wird in Artikeln davor dargelegt werden, wie das Regierungsprojekt "Krieg" abläuft und ablaufen sollte sowie, was es gemeinsam hat mit anderen Regierungsprojekten und was Eskalation wirklich ist. Der Ereignisgang in den aktuellen Krieg hinein wird in diesen Artikeln nebenbei gezeichnet werden, dafür werden mehr Worte verloren über die tatsächlichen militärischen Möglichkeiten der NATO und anderer Staaten, natürlich nur unter Verwendung öffentlich zugänglicher, aber leider zu oft ignorierter Tatsachen.

Weniger allgemein wird es sein, wenn auf den Gang des Krieges seit 2014 eingegangen wird, insbesondere in technologischer Hinsicht. Hier wird die Entwicklung bei Artillerie, der der Autor dieser Zeilen besonders nahe steht, Angriffsdrohnen, Seedrohnen, Luftkriegsführung, Logistik, Aufklärungsmitteln und elektronischer Kampfführung betrachtet. Auf Kernwaffen wird ebenfalls eingegangen.

Eines vorweg: In dieser Artikelserie wird keine Prognose gemacht, wie der Krieg langfristig ausgehen wird, indem ein Rüstungsgleichgewicht wiederhergestellt ist; was ein Rüstungsgleichgewicht ist, dazu später. Vielmehr kann man es als Zeichen der Unseriösität nehmen, wenn jemand öffentliche Prognosen über den Kriegsausgang wagt. Alles, was die Medien suggerieren, sind lediglich "lineare Extrapolationen" aufgrund bestimmter (selektiver?) Informationen. Wir müssen mit diesem Nichtwissen leben.
 
Der Grund dafür ist einfach erklärbar und die Erklärung schon mal ein Vorgeschmack auf den Rest der Artikelserie.
Fast alle Kriege enden mit einem Verhandlungsergebnis auf der Basis der Einschätzung, zu der die Führungspersonen der Kriegsparteien darüber kommen, was passiert, wenn man weiterkämpfen läßt. Man einigt sich auf ein Verhandlungsergebnis, das für jede Seite mindestens so gut ist wie das, was man erwartet, wenn weitergekämpft wird. In der neueren Geschichte, wo die Kriegsherren nicht mehr persönlich in die Schlachten reiten mußten, gibt es tatsächlich nur einen einzigen Krieg, in dem der Kriegsherr bis zum eigenen Tode mit seinen letzten Soldaten gekämpft hat: Den Tripel-Allianz-Krieg zwischen Paraguay und der Allianz aus Uruguay, Brasilien und Argentinien von 1864 bis 1870.
 
Naturgemäß hinken nun Außenstehende (Hochschuldozenten, Offiziere von EU-Staaten und natürlich Blogger) der Einschätzung der Führungspersonen hinterher. Diese haben mehr Aufklärungsmittel über die Feindlage und einen besseren Kenntnisstand über ihre eigene Lage. Aus verhandlungstaktischen Gründen teilen sie dies nicht öffentlich mit. Daher werden wir eine stichhaltige Prognose nicht vor einem Verhandlungsergebnis haben. Und nein, die gegenwärtigen Verhandlungen zwischen den USA und Putin werden keineswegs zu mehr führen, als Merkel und Hollande vor zehn Jahren erreicht haben. Sie sind schon von ihren öffentlich preisgegebenen Rahmenvorstellungen Trumps lediglich eine Verhandlung zwischen Putin und Trump über einen temporären Kriegsaustritt der USA für die Zeit von Trumps Präsidentschaft. Ihre Bezeichnung als "Friedensverhandlungen" ist eine schiere Übertreibung aus dem Land der Superlative. Der meisten Superlative.

Diese Artikelserie kann aber mit ihrem Erklärungsmodell beschreiben, welche entscheidenden Fehler die einzelnen Akteure begangen haben und sie kann bestimmte Szenarien ausschließen: Weitgehend ausgeschlossen kann werden, dass es zu einem nuklearen Schlagabtausch kommt. Das ist schön und für viele sicher beruhigend. Nicht ausgeschlossen ist das Szenario, dass wir schon mit den letzten drei Jahrzehnten das Ende der weltgeschichtlich kurzen Epoche erleben, in der Demokratien unabhängig von autokratischen Reichen in ihrer Umgebung existieren. Das ist allerdings vor allem für diejenigen Grund zur Besorgnis, die sich mit ihrem passiven Wahlrecht exponiert haben.

Und damit ist der Bogen zum Eingangszitat geschlagen, das aus Machiavellis Beurteilung der Sizilienexpedition Athens stammt, die den endgültigen Untergang dieser antiken Demokratie 80 Jahre später einleitete. 


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