26. September 2022

DART





(DART-Sonde)



(DART, Flugbahn)

Die Stimmung im Kontrollzentrum war angespannt. Wenn es in der nächsten Stunde Entscheidendes auf dem Spiel steht, breitet sich Stille und Konzentration aus. In weniger als einer Stunde würde die Raumsonde DART den Asteroiden Didymos erreichen, und ihre ganz Mühe und Arbeit würde in einem Lichtblitz enden.

Priya Joshi und ihr Spießgeselle – und Lebenspartner – Mark Anderson teilten sich einen Bildschirm in einer der hinteren Reihen. Sie gehörten nicht zum Einsatzteam, aber als Astronauten, die eingehend Training für Weltraumspaziergänge und die Navigation von Raumfahrzeugen mitbrachten, waren sie vor Ort, um dies direkt zu verfolgen und bei Bedarf Ratschläge zu geben. Außerdem gehörte Priya zum Asteroiden-Erkundungsteam der NASA, das möglicherweise eines Tages tatsächlich zu einem der fliegenden Felsbrocken des Sonnensystems aufbrechen könnte – und hier gab es die Chance, einen davon aus der Nähe zu sehen. Aus allernächster Nähe.

Es kam nicht oft vor, daß die NASA einem Asteroiden mit einer Raumsonde, die eine halbe Tonne wog, einen Tritt versetzte. DART verfolgte das Ziel, herauszufinden, welche Auswirkung ein solcher Einschlag auf die Umlaufbahn des Asteroiden haben würde – aber es war auch ein Testlauf für spätere, wesentlich anspruchsvollere Missionen. Von denen einige sogar bemannt sein könnten, je nachdem, was die heutige Nacht an Entdeckungen bereithielt. Didymos war ein Erdbahnkreuzer mit einer Umlaufzeit von zwei Jahren, relativ einfach zu erreichen, von dem die Rückkehr nach einem längerem Aufenthalt ebenso einfach wäre. Sollte sich die NASA je dazu entschließen, eine bemannte Mission dorthin zu schicken, dann hatte Priya vor, mit an Bord zu sein.

Die Missionsuhr sprang auf 6:30. 45 Minuten bis zum Einschlag. Didymos war ein heller Lichtpunkt in der Mitte des Bildschirms, noch zu weit entfernt, um eine Scheibe zu zeigen. Aber die Sonde näherte sich mit vier Meilen pro Sekunde, und während sie hinsahen, trennte sich ein schwächer leuchtender Punkt von dem hellen: Dimorphos, der winzige Mond von Didymos. Das war das eigentliche Ziel. DART würde ihn zentral treffen, während er seine Bahn durchlief, und seine Geschwindigkeit um einen winzigen Bruchteil abbremsen – genug, daß nach ein paar Umläufen der Unterschied von Teleskopen auf der Erde registriert werden konnte. Und diese winzige Veränderung würde die Umlaufbahn des Mutterkörper um einen noch geringeren Bruchteil ändern. Es würde keinen wirksamen, nur einen meßbaren Unterschied machen – aber hier ging es um die Demonstration eines Prinzips: daß wir die Umlaufbahn eines Asteroiden ändern können, wenn es jemals notwendig werden sollte.

­

Im Kontrollzentrum brandete Applaus auf, als sich die beiden Lichtpunkte trennten. „Exakt nach Zeitplan,“ sagte Mark. Bislang verlief die Mission planmäßig. Sie lief mittlerweile automatisch ab; die kleine Sonde war 36 Lichtsekunden entfernt. Wenn also etwas Unvorhergesehenes passierte, gab es wenig, was die Flugleitung unternehmen konnte.

„Umschaltung der Zielausrichtung wird von Didymos aus Dimorphos,“ sagte Priya. Und im diesem Moment ruckte das Bild jäh. „Das war die Korrekturzündung.“

Der Missionssprecher ein paar Arbeitsplätze weiter sagte: „Sonde hat Zielerfassung für Dimorphos. Alle Systeme sind GO. 41 Minuten bis zum Aufschlag.“

Priya sagte: „Das heißt, daß die Sonde noch … zehntausend Meilen entfernt ist.“

Mark lachte. „Hör auf mit der Angeberei!“

Priya spürte, wie sie rot wurde. „Ist doch einfach. 4 Meilen pro Sekunde, 60 Sekunden pro Minute, 41 Minuten.“

Mark sagte: „Vier Meilen pro Sekunde klingt schnell, aber das ist weniger als Orbitalgeschwindigkeit. Die ISS bewegt sich schneller.“

„Die ISS wird auch nicht mit einem Asteroiden zusammenstoßen.“

„Das will ich doch sehr hoffen,“ sagte Mark. „Ich fliege nächstes Jahr hoch.“

Sie knufften die Fäuste zusammen. „Auf einen erfolgreichen Flug.“ Sie war einmal oben gewesen, vor drei Jahren, aber stand noch nicht einmal wieder auf dem Einsatzplan.

„Du kommst schon noch einmal dran,“ sagte er.

Priya zuckte die Achseln. Um ehrlich zu sein, stand ein weiterer Besuch auf der ISS nicht oben auf der Liste ihrer Pläne. Sie würde lieber zum Mond fliegen, oder zu einem Asteroiden wie Didymus, oder gar zum Mars. Zu einem neuen Ziel, etwas nie Gesehenes entdecken, etwas zu tun, das noch niemals vorher ein Mensch getan hatte.

Die beiden Lichtpunkte drifteten auseinander, während sich die Sonde näherte. Mark sagte: „Irgendwo habe ich gelesen, daß die Zahl der Doppel-Asteroiden, die die Erdbahn kreuzen, wesentlich höher ist als die im Hauptgürtel. Merkwürdig.“

Priya sagte: „Das liegt am YORP-Effekt. Das einfallende Sonnenlicht auf einem rotierenden Körper führt dazu, daß er sich schneller dreht – bis er schließlich auseinanderbricht. Bei Asteroiden in Erdnähe ist die Sonneneinstrahlung stärker als im Asteroidengürtel.“ (***)

Mark lachte. „Das hätte ich als nächstes vermutet.“

„Aber sicher doch.“

Priya nahm einen Schluck Kaffee und behielt den warmen Becher in der Hand. Ihr war in den letzten Minuten eiskalt geworden.

Sie sahen zu, wie die Asteroiden auseinanderdrifteten. Didymos war jetzt endlich als Scheibe zu erkennen, nicht nur als Lichtpunkt. Er war annährend kugelförmig, mit zufällig verteilten Felsen und Senken. Dimorphos war wesentlich kleiner, mit nur 500 Fuß Durchmesser, ein Fünftel der Größe von Didymos, so daß sie erst wenige Minuten vor dem Aufprall erste Details ausmachen konnten. Als es soweit war, zeigte sich nur ein heller Fleck auf einer überraschend glatten, ebenmäßig runden Oberfläche.

„Seltsam,“ sagte Priya. „Er ist viel kugelförmiger als Didymos. Er sollte eigentlich viel unregelmäßiger sein. Weniger Schwerkraft, die auf das Material einwirkt.“

Es ging jetzt rasant voran. Didymos glitt seitlich aus dem Bildfeld, während Dimorphos im Zentrum verharrte. Der helle Fleck nahm Form an, aber diese Form war ein perfekter Kreis. Ein Kreis mit einer Ausbeulung im Zentrum. Das Sonnenlicht, das seitlich einfiel, machte deutlich, daß es sich um eine Kuppel handelte. Eine Kuppel mit runden Öffnungen, Parabolantennen und schwarzen schrägstehenden Solarmodulen.

Im Kontrollzentrum wurde Stimmengewirr laut. „Was zum Teufel…! Das ist künstlich! Von wem stammt das?“

Priya sagte: „Abrechen! Abrechen! Oh, Mist…!“ Sie setzte den Kaffeebecher hart auf den Tisch, so daß ihr der Inhalt über die Hand schwappte, aber sie sah nicht hin. Sie konnte nicht wegsehen. Die Sonde setze ihren Weg unbeirrt fort; das Abbruchsignal kroch mit Lichtgeschwindigkeit hinter ihr her - wenn überhaupt eins gesendet worden war. Und die Triebwerke der Sonde hätten in den wenigen Sekunden, die noch blieben, die Sonde weit genug ablenken können, selbst wenn das Signal augenblicklich gefunkt worden wäre.

Die Zielerfassung erledigte ihre Aufgabe bestens. Die Sonde schlug genau in der Mitte der Parabolantenne, die auf der Kuppel montiert war, ein.

Die Bildübertragung brach mit dem Aufschlag ab, aber DART hatte 10 Tage zuvor einen Cubesat ausgesetzt, der das Resultat aufzeichnen sollte. LICIA sendete scharfe Bilder von der sich ausbreitenden Trümmerwolke, die als scharf gebündelter Kegel in den Raum schoß – der genau auf LICIA gerichtet war. Es blieb gerade noch Zeit, einige der geknickten Träger und verbogenen Metallplatten zu erkennen, bevor LICIA mit der Wolke kollidierte und das Signal aussetzte.

(Jerry Oltion, „Shepherd Moons,“ Analog Science Fiction – Science Fact, September-Oktober 2022)





(Ill. von Edlar Zakirov für "Shepherd Moons")

***



Science Fiction als „Zukunftsliteratur“ muß nicht zwangsläufig in der Zukunft spielen. Zeitreisende haben in unzähligen Geschichten sämtliche Epochen der menschlichen Geschichte aufgesucht, Erzählungen über Parallelwelten, in denen die Geschichte einen anderen Verlauf genommen hat, spielen oft in einer entsprechend abgewandelten Gegenwart, und Besuche von Außerirdischen in auf der Erde in ferner Vergangenheit sind ebenfalls ein Standarttopos des Genres, nicht erst, seit der Monolith in Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltall“ in unseren Vorfahren in der afrikanischen Savanne den ersten Funken rationalen Denkens einpflanzte. Aber SF im Sinne der technologischen Extrapolation, besonders in Gestalt der Raumfahrt, des „Aufbruchs ins Weltall“ – das spielt sich in aller Regel in den vor uns liegenden Jahren und Jahrhunderten ab. (*)

Um so überraschender ist es, einen solchen gerade erschienenen Text zu lesen, der nicht schildert, was in 10 oder 50 Jahren geschehen könnte - sondern in wenigen Stunden, am heutigen Abend – um genau zu sein, in 1 Stunde und 55 Minuten, während ich diese Zeilen tippe. Dann nämlich wird, kurz nach Mitternacht, um 1 Uhr 14 Mitteleuropäischer Sommerzeit, die Raumsonde DART (das Kürzel steht für „Double Asteroid Redirection Test,“ und verweist nicht zufällig auf das englische Wort für „Wurfpfeil“) auf dem 170 Meter großen Trabanten des 1996 entdeckten Erdbahnkreuzers Didymos einschlagen – mit einer Geschwindigkeit von 24.000 Stundenkilometern. Wie in Jerry Oltions Erzählung beschrieben, dient dieser Einschlag dazu, durch die entstehende kinetische Energie die Umlaufbahn um seinen „Planeten“ leicht zu verändern. Es handelt sich dabei um keine signifikante Änderung: Bestensfalls wird damit gerechnet, daß sich die bisherige Umlaufzeit von 11,9 Stunden, in der der 170 Meter messende Brocken in einer Entfernung von 1200 Metern um seinen Partner rotiert, um 5 Sekunden verlangsamt – wenn es sich bei ihm um einen soliden, festen Felsblock handeln sollte. Fall es, wie bei vielen kleinen Asteroiden, sich um einer lockere gepackte „Sand- und Schutthalde“ handeln sollte, die nur durch ihre minimale Masse zusammengehalten wird, könnte es auch sein, daß der Einschlag ohne jede meßbare Auswirkung bleibt. Bislang gibt es noch keine Aufnahmen, die Aufschluß über die Natur dieses „Himmelsungeziefers“ geben (wie sie einmal von Astronomen genannt wurden; der Ausdruck soll auf den österreichischen Astronomen Edmund Weiss (1837-1917) zurückgehen. Bislang gibt es von dem kleinen Begleiter nur die punktförmigen Radioechos, anhand derer er im November 2003 vom Radioteleskop Arecibo entdeckt worden ist – 7 Jahre, nach der Entdeckung von Didymos.

Die DART-Sonde, ein annähernd kastenförmiges Gerät mit den Abmessungen 1,8 mal 1,9 mal 2,6 Metern und einem Gewicht – bzw. einer Ruhemasse - von 620 Kilogramm, ist am 24. November 2021 von der Air Force Base Vandenberg in Kalifornien an der Spitze einer Falcon 9 auf ihren Weg gebracht worden. Um die Resultate des Impakts näher in Augenschein zu nehmen, soll im Jahr 2024 die Raumsonde HERA der Europäischen Raumfahrtagentur ESA folgen, die ihr Ziel 2026 erreichen soll.



(Didymus und Dimorphos, Größenvergleiche)

***

Im Kontrollzentrum brach Pandämonium aus. Während mehr als ei Dutzend Stimme laut wurden, sagte Priya zu Mark: „Die Anlage muß recht tief in den Asteroiden eingelassen gewesen sein. Wenn es sich auf auf der Oberfläche befunden hätte, hätte die Explosion alles nur zur Seite geschleudert. Aber die Ejekta sind genau entlang der Flugbahn gekommen, gebündelt, so wie die Gase eines Raketentriebwerks. Ich vermute, daß sich mindestens ein Dutzend Stockwerke unter der Oberfläche befunden haben.“

Greg, der Techniker an der Arbeitsstation neben ihr, nickte. „Das erinnert mich an die Angriffe auf das World Trade Center vom 11. September. Die Flugzeuge sind komplett ins Gebäude hineingeflogen, und erst ein oder zwei Sekunden später ist es zur Explosion gekommen. Die Sprengenergie ging komplett nach außen, und sie kam von tief innen.“

Priya hatte damals die Grundschule besucht, aber sie erinnerte sich an die Bilder davon, als wenn es gestern passiert wäre. „Ja,“ sagte sie. „Die Gebäude bestanden hauptsächlich aus leerem Raum. Und da war hier auch der Fall, wie es aussieht. Die Explosion fand erst statt, als DART auf das Gestein selbst aufgeschlagen ist.“

Mark sagte: “Das bedeutet, daß sie bewohnt war. Wenn es eine automatische Station wäre, würde man keinen Platz für Bewohner benötigen.“

”Ich habe nichts unter den Trümmern gesehen, das nach Leichen aussah,“ sagte Greg.

„Schwer zu sagen,“ sagte Mark. „Aber es sieht nicht so aus, als hätte es dort eine Atmosphäre gegeben. Die Trümmer waren alles festes Material. Hardware.“

„Und Felsbrocken, am Ende,“ sagte Priya. Sie zog die Zeitmarke auf ihrem Bildschirm einen halben Zentimeter nach links und spielte noch einmal den Einschlag und seine Auswirkungen ab. Zwischen den Metalltrümmern waren deutlich einige Brocken Asteroidenmaterial zu erkennen. „Das muß das Fundament sein,“ sagte Priya.

Schon erstaunlich, was man alles über ein Objekt lernen kann, wenn es zerstört wird, dachte sie. Sie waren wie Physiker, wie Partikelspuren in einem Beschleuniger nachverfolgten und aus den Spuren auf die Ursache schlossen.

„Wer zum Teufel hat das gebaut?“ fragte jemand weiter hinten. „Und zu welchem Zweck?“

„Elon?“ fragte Mark.

Greg sagte, “Unwahrscheinlich. Für so etwas braucht es eine Menge Starts. Das hätte er nicht geheim halten können.“

„Also China?“ fragte Priya.

„Nordkorea,“ sagte jemand, und alle lachten. Aber es lag eine nervöse Spannung in diesem Gelächter. Jemand hatte ganz offensichtlich eine Basis auf Didymos errichtet, und der einzige Grund dafür war derselbe Grund, aus dem die DART-Mission losgeschickt worden war: den Doppelasteroiden langsam auf eine andere Bahn zu bringen. Aber da dies eine geheime Mission war, lag es nahe, daß, wer auch immer dahinter steckte, ihn näher zur Erde bringen sollte.


(Jerry Oltion, „Shepherd Moons“ **)

***

Wie ebenfalls von Oltion beschrieben, ist dies nur ein allererster Test: nämlich OB es überhaupt möglich ist, die Bahn eines solchen Apollo-Asteroiden, eines „Erdbahnkreuzers“ überhaupt zu beeinflussen. Zwar sind unter den bislang bekannten Kandidaten keine, mit denen in den kommenden Jahrzehnten ein Einschlag auf der Erde droht. Allerdings lassen sich solche Umlaufbahnen nur über wenige Jahrzehnte mit genügender Genauigkeit vorausberechnen; danach akkumulieren sich die Störeffekte der inneren Planeten, aber auch des Jupiter, so sehr, daß die genauen Parameter alle Anzeichen eines mathematisch chaotischen Systems zeigen. Genau darin besteht aber auch eine Chance: Wenn man 20, 30 oder mehr Jahre im Voraus weiss, DASS eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, daß es bei einer Nahbegegnung mit Mutter Erde zu einem tatsächlichen Einschlag kommen könnte, dann würde schon eine solche winzige Veränderung ausreichen, um diese Marge so weit auszudehnen, um die drohende Gefahr abzuwenden. Man mag das Ganze für eine sinnlose Spielerei halten – oder schlimmer: für einen Ausdruck von Hybris, von Machbarkeitswahn. Tatsache ist aber, daß es im Lauf der Erdgeschichte immer wieder zu katastrophalen Einschlägen gekommen ist. Der bekannteste ist der Einschlag, der vor 65 Millionen Jahren zum Aussterben der Dinosaurier (und der Trilobiten) geführt hat; der 25 Kilometer durchmessende Krater des Nördlinger Rieses geht ebenfalls auf einer solche „Stippvisite aus dem All“ vor 12 Millionen Jahren zurück. Solche Brocken würde man mit solchen Methoden wohl nicht ablenken können. Aber es gibt keinen Grund, es nicht im Hinblick auf die bekannten und erreichbaren Boliden zu erproben, als „Testlauf“ (oder „proof-of-concept,“ wie es in Oltions Originaltext heißt). Es würde kein gutes Licht auf unsere technischen Fähigkeiten werfen, wenn wir ein solches Ereignis lange Zeit im Voraus kommen sehen würden UND über die Mittel verfügten, es abzuwenden – und dies trotzdem unterlassen würden.



(DART, Start am 24.11.2021 von der AFB Vandenberg)

Eine ungewollte Symbolik liegt darin, daß der Cubesat LICIACube, der heute Nacht die kosmische Karambolage aufzeichnen soll, am 11. September ausgesetzt worden ist (um 23:14 Weltzeit, um genau zu sein; das Kürzel steht für „Light Italian CubeSat for Imaging of Asteroids,“ seine Abmessungen betragen 10 mal 20 mal 30 Zentimeter)“ – zu hoffen ist, daß es nicht, wie es Oltion als zukünftiger SF imaginiert hat, zu einer Reprise von 9/11 „im Weltraum“ kommt.

Dem Chronisten fällt am dieser Stelle einer kleine Erzählung von Fredric Brown ein, „Earthmen Bearing Gifts,“ erschienen in „Galaxy Science Fiction“ im Juni 1960: auf dem Mars, der wie damals noch üblich, als sterbender Planet geschildert wird, warten die letzten Marsianer auf die Ankunft einer Rakete vom blauen Planeten, deren Start sie mit ihren Teleskopen registriert haben. Was sie nicht wissen ist, daß die Rakete einen atomaren Sprengkopf trägt, dessen Explosion den Erdlingen signalisieren soll, daß ihr „Testlauf“ tatsächlich von Erfolg gekrönt war

Auf dem Observatorium Nr. 1 auf dem Erdmond spähte Rog Everett durch das Okular des Teleskops und sagte mit Triumph in der Stimme: „Da knallt es, Willie. Und sobald die Filme entwickelt sind, wissen wir mehr über den alten Mars.“ Er setzte sich auf – es gab nichts weiter zu beobachten – und er und Willie Sanger schüttelten sich feierlich die Hände. Es war ein historischer Augenblick.

„Rog, hat es genau das Zielgebiet in Syrtis Major getroffen?“

„So genau, daß es keinen Unterschied macht. Vielleicht 1000 Meilen daneben. Und bei einem Schuß von 50 Millionen Meilen ist das verdammt genau. Sag mal, Willie, glaubst du eigentlich wirklich, daß es Marsbewohner gibt?“

Willie dachte kurz nach, dann sagte er: „Nein.“

Er hatte recht.


***

Es ist übrigens nicht das erste Mal, daß die Erdlinge ein Wurspiel mit einer kosmischen Zielscheibe veranstalten. Das fand am 3. Juni 2005 statt, als die Raumsonde „Deep Impact“ ihre Lanze auf den Kern des Kometen Tempel-1 abschoß, der dort mit einer Geschwindigkeit von 37.000 km/h einschlug, eine kinetische Energie von 1.96 x 10^10 Joule freisetzte und einen Einschlagkrater von 150 Metern Durchmesser hinterließ.



(DART in der Montagehalle von SpaceX im Juli 2021)



(Montage von LICIA am 30. August 2021)

***



(Jerry Oltion mit dem "Trackball," einem kleinen Spiegelteleskop zum Eigenbau, das er vor einigen Jahren erfunden hat und dessen Materialkosten sich auf gut 500 US-Dollar beschränken.)

Jerry Oltion, der im Dezember 2021 von der DART-Mission erfuhr und sich in den Kopf setzte, rechtzeitig eine kleine Erzählung über dieses Ereignis zu schreiben, ist der SF-Autor, der die meisten erzählenden Texte in „Analog“ veröffentlicht hat („Shepherd Moons“ ist seine 102. Erzählung in diesem Magazin). „Analog“ war nicht das erste Magazin, das sich auf diese Art von Literatur spezialisiert hat; das war das von Hugo Gernsback gegründete „Amazing Stories,“ desen erste Ausgabe im April 1926 an die Kioske kam; aber seitdem Amazing nach zahlriechen zeitweisen Einstellungen und Verlagswechseln 1994 sein Erscheinen einstellte, ist es das dienstälteste Genremagazin. Darüber hinaus ist Oltion ein engagierter Amateurastronom; für das führende US-amerikanische Fachmagazin „Sky & Telescope“ schreibt er regelmäßig eine Kolumne über den Selbstbau von Fernrohren – ein Hobby, das auch heute durchaus noch nicht ausgestorben ist, wenn es um Spiegelteleskope mit einer lichten Öffnung von mehr als 30 Zentimetern geht. Seit dort 1982 seine erste Story erschienen ist, hat er es auf gut 160 Kurztexte gebracht; für seine Novelle „Abandon in Place“ erhielt er 1997 den Nebula Award. Ganz nebenbei darf der Autor die Veröffentlichung seines Textes als ein passendes Präsent werten: Vor 4 Tagen, am vergangenen Donnerstag, feierte er seinen 65. Geburtstag

In einem Interview, das Oltion Anfang dieses Monats für das Netztagebuch gegeben hat, mit dem die Redaktion von „Analog“ ihre Arbeit und die Texte ihres Magazins begleitet, hat Oltion gesagt: „Wir haben noch ein paar Wochen Zeit zu spekulieren, bevor die Geschichte entweder nur noch in einer Alternativwelt spielt – oder zur prophetischsten Erzählung wird, die es je gegeben hat. Ich kann’s kaum erwarten, welche Möglichkeit zutreffen wird.“

Auch wenn man einem Autor, zumal in Hinblick auf das eigene Werk, ungern widerspricht: aber an dieser Stelle sieht sich der kleine Pedant dazu genötigt. Es dürfte bekannt sein, daß Science-Fiction-Fans (und -Autoren) Treffen veranstalten, oft auf jährlicher Basis, die nicht nur im Englischen als „Conventions“ geläufig sind (der jährlich stattfindende „Worldcon“ bildet die größte und bekanntete dieser Tagungen). Bei diesen Gelegenheiten bringen die Veranstalter zum Andenken oftmals kleinere oder größere Veröffentlichungen heraus, in denen nicht die Themen der Podiumsdiskussionen angekündigt und die jeweiligen Ehrengräste vorgestellt werden, sondern in denen sich oft auch Essays und kleiner Erzählungen dieser Ehrengäste finden, als ein besonderes Souvenir.

Eine der kleineren und intimeren dieser Tagungen ist der „Miscon,“ der seit 1986 jährlich in Missoula im US-Bundestaat Montana mit jeweils einigen Hundert Teilnehmern abgehalten wird. Und auf dem „Miscon 6,“ der vom 10. Bis zum 12. Mai 1991 stattfand, war neben dem Hauptehrengast Barbara Hambly (wir haben in der vorigen Woche gelernt, daß es „-gästin“ heißen muß) auch ein gewisser Jerry Oltion geladen. Und im „Miscon 6 Program Book,“ das aus diesem Anlaß gedruckt wurde, findet sich von ihm eine kleine Science Fiction-Erzählung mit dem Titel: „Ukrainian Tractor Pirates Go (Almost) to the Moon.“

Natürlich handelt es sich dabei um eine kleine Persiflage alter Klischees der abenteuerlichen Groschenheftklischees, in denen es von Raumpiraten und im Hinterhof gebauten Mondraketen nur so wimmelte. Aber niemand, am wenigsten der Autor selbst, konnte vor 30 Jahren, ein halbes Jahr, bevor die ukrainische Sowjetrepublik im Dezember 1991 formell ihre Unabhängigkeit erklärte, ahnen, daß wir eine Generation später, tief in der „Zukunftsära“ des 21. Jahrhunderts, ganz praktisch-faktisch ukrainische Traktor-Piraten am Werk sehen würden, wie sie zwar nicht zum Mond fliegen, aber doch ihre Prisen in Gestalt russischer Landkampfwagen aufbringen.



(Ukrainischer Traktor-Pirat beim Aufbringen einer Prise, 2022.)





(Die Radarechos des Arecibo-Observatoriums vom November 2003, auf denen Dimorphos zuerst entdeckt wurde.)

Anmerkungen:

(*) Ein ähnlicher Fall von „Zeitgleichheit“ ist mir bislang nur im Fall von Elizabeth Hands Roman „The Glimmering“ untergekommen. In diesem Buch löst ein Seebeben vor der Antarktis die Freisetzung gigantischer Mengen von Methan aus, die mit großen Mengen Brom-Tetrachlorid, die auf der Weddell-Halbinsel illegal entsorgt worden sind, reagieren und für die nächsten Jahre den Himmel der Erde in ein waberndes Flammenschauspiel verwandeln, wie es SF-Lesern sonst nur aus Roger Zelaznys Roman „Straße der Verdammnis“ von 1969 bekannt war. Hands vierter Roman ist im April 1997 im Verlag HarperPrism erschienen; die Katastrophe im Buch ist auf das Datum des 27. März 1997 festgelegt. Ein vergleichbarer Fall kommt ansonsten nur in George Pals Film „Destination Moon“ aus dem Jahr 1950 vor; dem ersten Film nach dem 2. Weltkrieg, in dem sich Hollywood eines SF-Themas annahm. Während die Hobby-Ingenieure in ihrer Werkstatt den Start ihrer im Hinterhof gebastelten Mondrakete vorbereiten, um sich dem drohenden Zugriff des amerikanischen Militär zu entziehen, sieht man an der Rückwand des Werkraums einen Monatskalender hängen, der deutlich den „Juni 1950“ zeigt. Das Erstaunliche ist, daß der Film mehr als 2 volle Jahre Vorbereitungs- und Drehzeit in Anspruch genommen hat und immer wieder verschoben werden mußte; in die amerikanischen Kinos ist er am 26. Juni 1950 gekommen. (Ich kann es mir nur so erklären, daß Pal diese Szene mit verschiedenen Kalendern mehrfach gedreht hat; und als sich der tatsächliche Termin abzeichnete, die zutreffende Szene in letzter Minute in die Masterkopie, die als Vorlage für die Verleihkopien diente, geschnitten hat.) (In der - ziemlich mißglückten - Verflimung von Zelaznys "Damnation Road" aus dem Jahr 1978 spielte übrigens ein gewisser O.J. Simpson einer der drei Hauptrollen. Die Welt ist klein.)

(**) Als „Schäferhundmonde“ bezeichnet man ein Paar von Trabanten, die bei den vier großen Gasplaneten des Sonnensystems, die sämtlich über ein Ringsystem verfügen, manche dieser Ringe schmal und wie mit einem Messer geschnitten halten, indem einer dieser Trabanten knapp innerhalb der Distanz zum Mutterplaneten kreist, der andere knapp außérhalb. Resonanzefffekte sorgen dafür, daß nur Staubpartikel, die in einer sehr schmalen Zone laufen, nicht „nach außen“ oder „innen“ geschleudert werden. Auch im Zusammenhang damit ist es zu einer erstaunlichen „Synchronizität“ gekommen: postuliert wurde die Existenz solcher „Wachhunde“ anhand der extrem geringen Breite des F-Rings des Uranus, dessen Ringe im Juli 1977 anhand einer Sternbedeckung durch den Planeten mit der „fliegenden Sternwarte“ des Kuiper-Observatoriums entdeckt worden war. Peter Goldreich und Scott Tremaine schlugen in ihrem Aufsatz „Toward a Theory of the Uranian Rings“ solche Begleiter als mögliche Erklärung für dieses Phänomen vor. Die Arbeit erschien in der Nummer 5692 von „Nature“ (Band 277, Seiten 97-99), am 11. Januar 1979. Am 5. März 1979, keine 8 Wochen später, funkte die Raumsonde Voyager 1 während ihres Vorbeiflugs am Saturn die ersten Bilder solcher kosmischen „Schäferhunde“.

(***) "YORP-Effekt": kurz für Yarkovsky-O’Keefe-Radzievskii-Paddack-Effekt. Dadurch, daß kleine Asteroiden aufgrund ihre unregelmäßigen Form auch unregelmäßig vom Sonnenlicht angestrahlt werden, entsteht durch das Zuürckstrahlen ein winziger, aber dennoch vorhandener Dreheffekt. Im Lauf von Jahrmillionen kann er sich soweit auswirken, daß Asteroiden, die wie oben erwähnt, nur einer "Schutthalde" bilden, zerfallen. Nachgewiesen wurde der Effekt im Jahr 2013 anhand der Rotantion der Asteoiden (54509) YORP und (1862) Apollo; der Komet P2013-R3 ist durch diesen Effekt zerfallen.



(Illustration des YORP-Effekts)

U.E

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