An Herrn Johann-Dietrich Wörner, Generaldirektor der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) und den Ministerrat der ESA
ESA HQ
4 Rue du Général Bertrand
F-75007 Paris
Sehr geehrter Herr Wörner, sehr geehrte Damen und Herren des Ministerrats,
wie Sie vielleicht aus den Nachrichten erfahren haben, sind in diesen Tagen drei Raumfahrtmissionen beim Nachbarplaneten der Erde, dem Mars, eingetroffen: die Sonde al-Amal der Vereinten Arabischen Emirate am 9. dieses Monats, der chinesische Orbiter Tianwen-1 am folgenden Tag, und gestern hat Ihre amerikanische Schwesterbehörde NASA dort einen drei Meter langen und über zwei Meter hohen Rover gelandet, der mitsamt einem Helikopter dort nach möglichen früheren Lebensspuren suchen soll.
Ich freue mich, daß Sie sich entschieden haben, sich nicht an solchen nervenauffreibenden wie kostpieligen Konkurrenzspielchen zu beteiligen, sondern diesem Zeitpunkt gewählt haben, die wirklich wichtigen Aspekte in den Vordergrund zu rücken und deshalb vor drei Tagen eine Kampagne gestartet haben, die darauf abzielt, die Diversität im Korps unserer Weltraumkadetten, in Gestalt des Frauenanteils, zu erhöhen. Raumfahrt ist nun einmal Symbolpolitik, und es stimmt hoffnungsvoll, daß gerade eine Behörde des Zukunftskontinents Europa sich in der Lage sieht, die Prioritäten richtig zu setzen. Wie Sie selbst feststellen, waren unter den bislang "fast 600 Menschen im Weltraum," wie Sie anmerken (genau waren es bis heute 581) nur gut 11% Frauen. Sie vermuten, daß dies an den hohen Anforderungen liegt, die für eine Aufnahme in ein Raumfahrerteam erfüllt werden müssen: "Das könnte an den Anforderungen liegen: Die ESA verlangt z.B. einen Abschluss in Mathe, Physik, Chemie oder Biologie."
Ich möchte Sie, Herr Generaldirektor, hiermit daran erinnern, daß die große Nation, der es als erster gelang, einen künstlichen Erdtrabanten zu starten und als erste einen Menschen auf die Reise ins All zu schicken - eine Pioniertat, die sich in 7 Wochen zum sechzigsten Mal jähren wird - sich diesem Problem schon in den Anfangsjahren der bemannten Raumfahrt gestellt hat und es, wie nicht anders zu erwarten, vorbildlich gelöst hat.
Walentina Tereschkowa, die als erste Frau im Juni 1963 mit Wostok 6 einen Raumflug absolvierte, war weder Pilotin noch Mitglied des Militärs, was für alle anderen Raumflugkandidaten in Ost wie West bis dahin Voraussetzung gewesen war. Sie verfügte auch über keinerlei wissenschaftliche Ausbildung. Ihre einzige Qualifikation bestand darin, daß sie in ihrer Freizeit begeisterte Fallschirmspringerin war. Dieses Einstellungskriterium verdankte sich der Tatsache, daß die Wostok-Raumkapseln bei der Landung mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf dem Boden aufprallten und aufgrund ihrer Kugelgestalt wild trudelten, wenn sich die Bremsfallschirme entfalteten. Um hier peinliche Mißgeschicke zu vermeiden, wurde der Pilot mit einem Schleudersitz in 7 Kilometern Höhe aus der Kapsel katapultiert und hatte während des Falls ausreichend Zeit, sich in eine aufrechte Lage zu bringen, bevor er den eigenen Fallschirm öffnete.
Der Entschluß, weibliche Kosmonauten zu rekrutieren, wurde 1961 von dem Leiter des Ausbildungsteams der Kosmonauten, Nikolai Kamanin, getroffen, nachdem er in einer Reportage des LIFE MAGAZINE davon gelesen hatte, daß in den Vereinigten Staaten im Rahmen des Project Mercury auch Frauen als künftige Astronauten ausgebildet und trainiert wurden. Im Oktober 1961 notierte Kamanin in seinem Tagebuch: "Wir dürfen nicht zulassen, daß die erste Frau im Weltall eine Amerikanerin sein wird. Das wäre eine Beleidigung der patriotischen Gefühle der sowjetischen Frauen." Die Mitglieder der amerikanischen Gruppe, die später in Anlehnung an ihre männlichen Kollegen von den "Mercury 7" die "Mercury 13" getauft wurden, waren freilich allesamt ausgebildete Pilotinnen mit langer Flugerfahrung. Für das sowjetische Rekrutierungprogramm bestanden die Kriterien nur darin, daß die Kandidatinnen weniger als 1,70 m groß sein mußten, um in der beengten Kapsel Platz zu finden, weniger als 70 kg wogen und eben trainierte Fallschirmspringer waren. Die Steuerung des Fluges erfolgte ausschließlich durch Funkkommandos des Kommandozentrum; die einzige Aufgabe der Kosmonauten bestand darin, die Orientierung der Kapsel im Raum mit Hilfe von Steuerdüsen zu übernehmen, damit die Zündung der Triebwerke die gewünschte Bahnänderung zur Folge hatte.
Nachdem der oberste Sowjet das Vorhaben im Dezember 1961 gebilligt hatte, begann Tamanin im Januar mit der Vorauswahl unter 60 potentiellen Kandidatinnen, von denen schließlich fünf eine Ausbildung begannen. Tatjana Kusnezowa fiel durch Erkrankung für den Termin für den Flug krankheitsbedingt aus; Schana Jorkina hatte bei den Leistungstests (die unter anderem im mehrstündigen Tragen eines Raumanzugs bei einer Temperatur von 70° Celsius bei einer Luftfeuchtigkeit von 30 Prozent bestanden) schlecht abgeschnitten, und Tereschkowa wurde vor ihren Konkurrentinnen Irina Solowjowa und Walentina Ponomarjowa der Vorzug gegeben, weil diese im Zivilstand als Büroangestellte arbeiteten und sie als Fabrikarbeiterin das Proletariat repräsentierte.
Tereschkowa, 1938 als Kind weißrussischer Einwanderer im Dorf Bolschoje Maslennikowo in der Nähe von Jaroslawl geboren, hatte mit 16 als Arbeiterin in in einer Reifenfabrik in Jaroslawl begonnen, wo sie eine Maschine bediente, die die Komponenten der Pneus vor dem Vulkanisierungsprozeß zurechtschnitt. Anschließend arbeitete sie ab 1959 im Textilwerk Krasny Perekop in der Garnfabrikation. Zu dieser Zeit wurde sie auch Mitglied im Aero-Klub in Jaroslawl, wo sie am 21. Mai 1959 den ersten von insgesamt 90 Fallschirmsprüngen ausführte.
Als die Wostok 6 am Morgen des 16. Juni 1963 vom Kosmodrom in Baikonur startete, befand sich Waleri Bykowski mit Wostok 5 bereits seit zwei Tagen im Orbit; dieser erste Doppelflug sollte eine weitere Demonstration der technologischen Überlegenheit des Sowjetsystem sein und nahm die Konstellationen des amerikanischen Gemini-Programms um zwei Jahre vorweg. Es waren die letzten Flüge der Wostok-Baureihe. Der Flug verlief nicht reibungslos. Während der 48 Erdumkreisungen mit einer Dauer von 70 Stunden notierte Kamanin in seinem Tagebuch:
С Терешковой разговаривал несколько раз. Чувствуется, что она устала, но не хочет признаться в этом. В последнем сеансе связи она не отвечала на вызовы ленинградского ИПа. Мы включили телевизионную камеру и увидели, что она спит. Пришлось её разбудить и поговорить с ней и о предстоящей посадке, и о ручной ориентации. Она дважды пыталась сориентировать корабль и честно призналась, что ориентация по тангажу у неё не получается. Это обстоятельство всех нас очень беспокоит: если придется садиться вручную, а она не сможет сориентировать корабль, то он не сойдет с орбиты. На наши сомнения она ответила: «Не беспокойтесь, я все сделаю утром». Связь она ведёт отлично, соображает хорошо и пока не допустила ни единой ошибки.
Ich habe mehrfach mit Tereschkowa gesprochen. Wir haben alle den Eindruck, daß sie übermüdet ist, es aber nicht zugeben will. Beim letzten Versuch der Kontaktaufnahme erhielten wir keine Antworten von ihr. Wir schalteten die Fernsehkamera ein und sahen, daß sie eingeschlafen war. Ich mußte sie wecken, um mir ihr die bevorstehende Landung und die Ausrichtung des Schiffes per Handsteuerung zu besprechen. Sie versuchte zweimal, die Lage zu korrigieren und gab ehrlich zu, daß sie dazu nicht imstande war. Der Umstand bereitet uns große Sorgen. Wenn wir mit manueller Steuerung landen müssen und die Ausrichtung nicht stimmt, kann es sein, daß das Schiff die Umlaufbahn nicht verlassen kann. Als wir ihr das mitteilten, sagte sie: "Macht euch keine Sorgen; ich schaffe das morgen schon." Die Verständigung ist ausgezeichnet; sie versteht alle Funksprüche und hat noch keinen Bedienungsfehler begangen.
Es stellte sich im Nachhinein heraus, daß bei der Montage die Kabel für die Steuerhebel vertauscht worden waren; anstatt die Umlaufbahn abzusenken, hätte die vorgesehene Einstellung nach der Triebwerkszündung zu einer Anhebung geführt. Bei der Mechanik des Autopiloten war der Anschluß korrekt erfolgt; die Landung erfolgte am frühen Morgen des 19. Juni im der Steppe von Kasachstan, 600 Kilometer von Karaganda entfernt; drei Stunden vor der Landung von Bykowski. Sergej Koroljow, der "große Unbekannte," der damals im Westen unbekannte "große Designer" hinter dem sowjetischen Raumfahrtprogramm, bat Tereschkowa, niemals über den beinahe fatalen Konstruktionsfehler zu sprechen. Erst 40 Jahre, nachdem Koroljow 1966 an den Folgen einer Krebsoperation gestorben war, hat sie darüber in Interviews berichtet.
Herr Generaldirektor, ich erinnere Sie an solche Anekdoten nicht aus Selbstzweck und um alter Zeiten willen. Sondern um Sie daran zu erinnern, daß mit Ingenium und Pioniergeist solche riskanten Situationen auch von Menschen zu meistern sind, die über keinen "Abschluß in Mathe oder Chemie" verfügen. Auch Helen Sharman, die erste Engländerin im All, die 1991 zur russischen Raumstation MIR flog, besitzt zwar einen Abschluß im Chemie; ihre Arbeit bestand aber darin, Geschmacksverstärker für Schokoriegel der Firma Mars zu entwickeln (das brachte ihr in der englischen Presse den Spitznamen "das Mädchen vom Mars" ein). Christa McAuliffe, die im Januar 1986 bei der Explosion des Space Shuttles Columbia ums Leben kam, war Lehrerin an einer High School in den Fächern Geschichte und Englisch.
Natürlich wäre es ratsam, ein Programm im Namen der Diversität auch auf weitere gesellschaftlich marginalisierte Gruppen als nur Frauen auszuweiten. Immerhin stellen diese breits mehr als ein Zehntel der bisherigen Gäste im All. Der britische Biologe J. B. S. Haldane - auch er lebenslang ein glühender Bannerträger der Ideale des Sozialismus - hat etwa 1962 in Genf auf einer Tagung der UNESCO zur Zukunft der bemannten Weltraumfahrt den Vorschlag unterbreitet, zum Zweck der Gewichtsersparnis Beinamputierte ins All zu schießen. Hier dürfte für viele Kommissionen noch auf Jahre hinaus Stoff für Beratungen, Tagungen und das Erstellen von Expertisen gegeben sein. Da es in der Natur von Verwaltungen liegt, zu expandieren, den Ausstoß an Akten zu maximieren und die tatsächlich geleistete Arbeit zu minimieren, dürfte dieses Tätigkeitsfeld den Zielen einer EU-Behörde in optimaler Weise entsprechen.
Ich hoffe, Ihnen hiermit behilflich gewesen zu sein, ganz im Sinne des alten Wahlspruchs, der da lautet: "Die Lösung lautet heute schon: Sowjetunion! Sowjetunion!"
Mit sozialistischem Gruß! / с социалистическим приветствием!
(Jerrie Cobb, eine der "Mercury 13," Anfang der 1960er Jahre vor einer Mercury-Raumkapsel)
U.E.
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