Dem Zeitgeist erscheinen Wahrheiten, die als absolut und beweisbar ausgegeben werden, als überholte Ideologien. Er anerkennt als neue Leitideen: Nur subjektive Erkenntnisse, einen Pluralismus von Denkmodellen und bestenfalls eine Ökumene der Verschiedenheiten. Er argumentiert: Da die Weltentstehung und die chemische und biologische Evolution des Lebens einem Haufen von Zufällen zu verdanken sind, sei alles zu relativieren und jeder herausgelesene Sinn als hineingelesener zu hinterfragen.
Man kann als gemeinsames Motiv zum Umsturz der Weltbilder die hinter allen Zweifeln erscheinende oberflächliche Begründung „Weil-aus-Zufall“ ausmachen. Hinzu kommt: Die Evolution des Kosmos und des Lebens auf unserem Planeten beruht nicht nur auf Milliarden von Zufällen, sondern auch auf Katastrophen wie zum Beispiel dem Einschlag Meteoriten, der Arten auslöschen und Neuem eine Chance geben kann.
Der Molekularbiologe Jacques Monod gab daher schon 1975 seinem philosophischen Bestseller den Titel „Le hasard et la nécessité“ (Zufall und Notwendigkeit). Er sah als Notwendigkeit, „dass einzig und allein der Zufall jeglicher Neuerung, jeglicher Schöpfung in der belebten Natur zugrunde liegt. Der reine Zufall, nichts als der Zufall, die absolute, blinde Freiheit als Grundlage des wunderbaren Gebäudes der Evolution – diese zentrale Erkenntnis der modernen Biologie ist heute nicht nur eine unter anderen möglichen oder wenigstens denkbaren Hypothesen; sie ist die einzig vorstellbare.“ (dtv 1069,106)
„Zufall“ ist in der Umgangssprache mit der Kausalität „sinnlos“ verbunden. Der naturwissenschaftliche Begriff Zufall ist anders, er bezieht sich auf die Ursachen für Variationen.
„Bei der Weitergabe der Erbinformationen, die in den Genen lokalisiert und durch die DNS codiert sind, schleichen sich Kopierfehler ein, die einen permanenten Umbau des Genoms (Mutationen) und der Steuermechanismen ermöglichen und so zu einem ständigen Wandel führen. Damit ist die Voraussetzung für eine Evolution gegeben“, sagt das Lexikon der Geowissenschaften. „Bislang sind keine inneren Vorgänge bekannt, die der Evolution eine Richtung geben.“ Vielzeller müssen also entsprechend auf vielen zufälligen Fehlern beruhen. Sind Neuheiten gleichsam zufällige Nebenprodukte? Warum wird halbfertiges Überlebensfähiges nicht unbedingt selektiert? Viele Fragen sind offen.
„Eine wirkliche Auflösung dieses Problems von Zufall und Notwendigkeit in der Evolution kann es vielleicht nur geben, wenn außerirdisches Leben entdeckt wird, das tatsächlich eine vom irdischen Leben völlig unabhängige Geschichte hat.“ (Thomas Weber zu: Jonathan B. Losos, Wieso Menschen und Delphine intelligente Wesen sind, FAZ 15.04.2018).
Warum aber nennt man das aus der Summe von Fehlern beim Kopieren der codierten Information entstandenen lebensfähige Neue einen Ablese-Fehler statt positiv eine kreative Variante oder ein Zufallsglück? Warum definiert man das Ganze mit dem merkwürdigen Wie des Werdens statt mit dem Ergebnis? Auf einem anderen Feld, dem Historischen, sagt man hingegen doch gerne: Es lernt die Menschheit, wenn sie überhaupt aus der Geschichte etwas lernt, am ehesten aus Fehlern.
Die Europäische Aufklärung hat ein richtiges Axiom begriffen: Ein transzendenter Schöpfer kann nicht eingreifen, wenn er nicht zu Raum und Zeit gehört, weder am Beginn der Schöpfung noch in die Weltgeschichte. Aber die zweite Möglichkeit, dass er es gar nicht braucht und gar nicht will, weil er alles der Materie und dem Menschen zutraut, ließ sie aus. Die Bibel-Frommen waren entsetzt über die zu folgernde ‚Ohnmacht‘ Gottes, - und schon war der breite Graben da zwischen Gelehrten und angeblich Fromm-Dummen.
Da gab es freilich eine Schuld der Kirchen. Christen, die weiterbeten, aber nicht handeln, wie damals bei der Shoah, reduzieren das Glaubenshandeln des Gottesvolkes auf eine Trost-Religion. Für den scharfen historischen Blick relativieren die Frommen damit rückwirkend auch alle in der Bibel erzählten Wunder, indem sie am eigenen Nicht-Tun zeigen, dass es solche Taten nicht gibt und nie gab. Damit öffneten seit der Aufklärung die tatenlosen Christen selber das Tor für eine rationalistisch-aggressive - und heute friedliche agnostisch-wissenschaftliche - Bibelkritik.
Die deutsche Sektion der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie hat für Dezember 2018 zusammen mit der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg zu einer theologischen Fachtagung eingeladen mit dem Titel: „Zwischen Progression und Regression - Die katholische Kirche in postfaktischen Zeiten“. Im Werbetext für den Kongress heißt es:
„Schließlich wird auch der Begriff der Wahrheit in einer Weise ökonomisiert, pluralisiert und perspektiviert, dass die Ausdrücke „post-truth“ und „postfaktisch“ zu Chiffren für die Zeit wurden. Auch die religiösen Welten werden von den Transformationsprozessen erfasst und ein Wandel in Zugehörigkeiten, Praktiken, theoretischen Hintergründen und konkreten Erfahrungen erschüttert die Religionsgemeinschaften ebenso wie die demokratischen Gemeinwesen… Ist Wahrheit auffindbar, kommunikabel und praktikabel? Inwiefern ist Wahrheit unwandelbar? Kann Wahrheit auch veränderlich sein?“
Wie sehr und wie viele wünschen sich eine veränderliche Kirche, eine wirklichkeitsnähere Moral. Ein veränderbares Geschlecht.
Man weiß, dass es unerreichbar ist, aber man sagt: Der wahre Ökumenismus muss die Ökumene der Weltreligionen sein. Sie würde nämlich die eigenen Schwächen entschuldigen, einen Missionseifer strafenswert und einen edlen Wettstreit überflüssig machen.
Man sagt nicht, aber denkt: Als die Welt noch verbindliche Religionen besaß, gab es doch auch viele Götter; sie sind ja nur Bilder (nur die Juden reduzierten sie unglücklich auf den einen)? Nun hat man keine Angst mehr vor Göttern, aber vor fundamentalistischen Religionen und eine vor unseren eigenen Geschöpfen, den intelligenten Robotern und einem allmächtigen Netzwerk.
Man wagt es nicht zu denken, aber zu fühlen: War der Pantheismus unserer Klassiker nicht etwas Schöneres, Lebensnäheres als die Kirchen mit ihrem an das Kreuz Genagelten (schon wieder ein Jude)? Der bleibende Antisemitismus – gegen einen nichtmissionarischen Glauben! – war die merkwürdigste Nebenfolge der christlichen Weltmission und vereinigt sich heute mit der islamischen Reaktion der Nachbarn Israels.
Manche möchten wieder mit den Bäumen sprechen und glauben, dass diese ebenso wie ihr Hund eine Seele haben. Ob der Mensch überhaupt verantwortlich ist: frei ist beim Wollen und Handeln oder nicht, wagen viele nicht mehr zu entscheiden. Wir alle sind, lautet ein Aphorismus Nietzsches, gern in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat.
Ob unser Nachdenken ein Produkt des Geistes ist oder nur ein chemisches oder neuronales? Gewissen und Freiheit nur Einbildungen? Sowohl ein Ja wie ein Nein wären auch hier nur subjektive Gewissheiten, und jede Wahrscheinlichkeit fände auch ihre Einwände. Ist der homo habilis schon eine ausgestorbene Art? Was der heutige homo dubitabilis kann, ist zweifeln.
Die erwähnte theologische Fachtagung fragt unsinnigerweise: „Warum sind gerade die Felder von Sexualität und Macht die Hauptkampfzonen der progressiven und regressiven Kräfte innerhalb der Religion?“ Die Antwort braucht doch kein Referat, sondern nur die Bemerkung: Weil es sonst den Menschen nicht gäbe.
Ein zweites Beispiel: Eine Theologische Fakultät (Paderborn mit TU Dortmund) schreibt für ihr Graduiertenkolleg „Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung“ derzeit Promotions- bzw. Habilitationsstipendien (1200,- im Monat für 3 Jahre) aus für den Arbeitstitel: „Subjektive Theorien römisch-katholischer Priester zu seelsorglicher Identität und seelsorglichem Handeln in einer Zeit gesellschaftlicher und kirchlicher Umbrüche“.
Vor lauter Eifer, aktuell zu sein, schreibt der Professor „Subjektive Theorien“, und der graduierte Student muss drei Jahre lang Strategien beschreiben und relativieren, die schon morgen überholt sind, statt etwas Solides zu studieren. Das zweite Thema, es lautet „Gott als Kommunikation“, ist da zukunftsfähiger. Man darf eine Menge von Fragen in der fertigen Arbeit eines begabten Dr. habil. erwarten: Existiert Gott nur im steinzeitlich fühlenden Ego?, nur als Laut im Gespräch?, nur als Vorwand für Zwist und Kriege zwischen Völkern?, usw.
Das philosophische Denken steuert daraufhin, dass es vom Menschen her vermessen und nicht erlaubt sei, mit unseren Begriffen von Person und Liebe einen transzendenten Gott zu beschreiben. Wollen wir gar nicht mehr von Du zu Du mit ihm stehen? Steht hinter der weisen Beschränkung aller Analogie-Versuche, den Verborgenen vorstellbar und zugänglich zu machen, etwas Anderes, vielleicht das Ärgernis, dass, wenn er nahe rückt, von uns etwas überfordernd Ethisches verlangt wäre wie die Preisgabe des Egoismus? Das natürliche und transzendente Göttliche der Völker und der Dichter war keine Person, die eine Nachahmung erheischt, sondern vertrug sich als tieferes oder höheres Anderes gut mit dem Fühlen des Menschen, mit unseren Wünschen, Ängsten und Träumen. Vielleicht ist dies wohl auch der tiefste Grund des Antisemitismus, wie einige jüdische Schriftsteller meinen.
Die akademische christliche Theologie offenbart, dass sie die Erfahrung und damit die Sprache von ihrer Sache zu verharmlosen droht. Denkt doch einmal die Kirchgänger am Ort nicht nur zum Gottesdienst, sondern zu Versammlungen versammelt, wie sich die Synagogen, die Apostel und ihre Gemeinden zum Gespräch zusammentaten. Das würde ein Chaos? Gewiss, schlimmer als die erwünschte Streitkultur.
Dann wären Reformen unmöglich? Nein, wenn eine Versammlung sich daran erinnerte, dass es in ihrem Glauben auch ein Verbindendes zwischen Gottes Wollen und den Wünschen von Menschen gibt. Die Bibel nennt es den heiligen Geist. Man hat es im täglichen Betrieb vergessen und erhebt sich über die freikirchlichen Pfingstler und die Praxis der Zungenredner. Man fährt am Fest seines Gedächtnisses lieber ins Grüne. „Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen“ (Goethe, Reineke Fuchs). Die jüdischen Propheten waren vom Geist bewegt, das Schöpfungslied ließ ihn schon über dem Chaos der frischen Erde brüten. Die Apostel sahen ihn und seine Zeit für alle gekommen und seit dem Konzil zu Konstantinopel 381 wird er (im Sinn des im jüdischen Menschen Jesus geöffneten transzendenten Geistes Gottes) deshalb großgeschrieben.
© Ludwig Weimer. Für Kommentare bitte hier klicken.