12. April 2015

Aus der Schwalbenperspektive: Kulturpessimismus

„Elf Freunde müsst ihr sein, wenn ihr Siege wollt erringen“
(Gravur auf der "Victoria", dem Meisterschaftspokal des DFB von 1901 bis 1944)


Die Debatte in Zettels Raum und Zimmer zum Thema "Kulturpessimismus" hat mich dazu veranlasst, dieses Phänomen mal aus der Schwalbenperspektive zu betrachten. Denn auch wenn culture crumbles and religion stumbles (Bob Geldorf), gibt es in Deutschland noch einen Hort des Wahren, Guten und Schönen. Für die einen ist er das aufgrund seiner integrativen Wirkung auf Menschen mit Migrationshintergrund ("Özil" etc.) - für die anderen aufgrund seiner integrativen Wirkung auf Menschen ohne Migrationshintergrund ("Der Stolz einer ganzen Region", diese meistens strukturschwach). Und wofür braucht die Friedensmacht Deutschland funktionierende Sturmgewehre, wenn Jogis Buben den Brasilianern jederzeit völlig gewaltfrei sieben Buden einschenken können? 

Doch das Paradies ist bedroht. Von einer ziemlich penetrant nach Gummibärchen schmeckenden Limonade und ihrem gewissenlosen Hersteller, der auch noch - Achtung: historische Bildung ist gefragt - Österreicher ist. Der hat in - Achtung: zeitgeschichtliche Bildung ist gefragt - Sachsen irgendeinen Gurkenverein übernommen und zieht nun, nachdem er der Schwalbe mittels automatischer Abfüllung von Fantastilliarden kapitalistischer Euros Flügel verliehen hat, unbarmherzig Richtung Bundesliga. Dass nicht sein kann, was nicht sein darf, versteht sich von selbst, und der Deutsche tut - diesmal in seiner konkreten Instantiierung als Fußballfan - das, was er nach eigener Auffassung schon immer am besten konnte: Er leistet Widerstand.


Was hat das Ganze aber nun mit Kulturpessimismus zu tun? Wenn man sich die Statements auf der Aktionsplattform www.nein-zu-rb.de durchliest, sieht man nicht nur die unglaubliche Selbstgerechtigkeit, mit der auch noch die widerlichsten Aktionen bejubelt werden. Man erfährt auch, dass sich die Initiatoren als Bewahrer einer "Fußballkultur" sehen, die es wahrscheinlich noch nie gegeben hat. Und sie blenden alles aus, was dem widerspricht. Ein Beispiel anlässlich eines bevorstehenden Auswärtsspiels von Leipzig im Karlsruher Wildpark:

Bei diesem Spiel treffen zwei Vereine aufeinander, die vollkommene Gegensätze verkörpern. Auf der einen Seite unser Karlsruher Sport-Club Mühlburg-Phönix e.V., ein Traditionsverein dessen Wurzeln bis ins Jahre 1894 zurückreichen und der all das verkörpert, was den Fußball wie wir ihn lieben, ausmacht. Auf der anderen Seite ein künstlicher Club, der lediglich zu Werbezwecken besteht und für den nur aus infrastrukturellen Gründen und aus kapitalistischem Kalkül der Standort Leipzig als vorübergehende Heimat gewählt wurde. 
Herz gegen herzlose Ideologie, Karlsruher Bodenständigkeit gegen österreichischen Größenwahn, fanatische Leidenschaft gegen blinden Gehorsam, jahrelange Freud‘ und Leid gegen kurzlebigen Erfolg, emotionsgeladene Charaktere gegen charakterlose Blech-Marionetten, wahrer Fußball gegen die Ware Fußball!
Das Spiel selber, ein recht kampfbetontes 0:0, war noch eher kultiviert als das Auftreten der Karlsruher Fußballsiegelbewahrer. Auch zu anderen Anlässen kommt es zu Gewaltaufrufen. Ein von RB organisiertes Jugendcamp in Halle musste deswegen abgesagt werden. 

Diese Reaktionen waren in gewisser Hinsicht vorhersehbar, wenn man mit dem Wolkenkuckucksheim, in dem deutsche Fußballfans und -kommentatoren, vor allem aber die Funktionäre selber leben, vertraut ist. Denn die Illusion der Einheit von Breiten- und Spitzensport muss in jeder Hinsicht gewahrt werden. Das führt zu der völlig abstrusen Situation, dass Organisationen mit der Größe, dem Umsatz, aber auch der Professionalität eines Großunternehmens qua Statut die Struktur eines dörflichen Obst- und Gartenbauvereins haben müssen. Natürlich umgehen die meisten Proficlubs diese Regelungen, aber es ist halt wie überall im Fußball - die eigenen Spieler machen keine Schwalben, also ist auch das eigene Management lediglich den Mitgliedern verpflichtet. 

Was aber werfen die Fans, aber auch die einen oder anderen Spieler und Funktionäre dem "Konstrukt RB Leipzig" vor? Lediglich dass sie das, was sehr viele Vereine auch tun, offensichtlicher, konsequenter und deutlich geschickter anstellen. Also letztendlich nur, dass sie ihr eigenes Wolkenkuckucksheim zerstören. Und wenn Illusionen zerstört werden, bricht sich der Hass Bahn, und das in einem offensichtlich im deutschen Fußball bisher nie da gewesenen Ausmaß. 


Ob das wohl anders ist, wenn man die Schwalbenperspektive verlässt?

­

Meister Petz

© Meister Petz. Titelvignette: Nachbildung der Victoria, ausgestellt im Museum des FC Schalke 04. Vom User DerHans04 unter CC-BY-SA 3.0 lizensiert. Für Kommentare bitte hier klicken.