Es fällt mir zunehmend schwerer, mich zur Flüchtlingsproblematik zu äußern. Nicht nur, dass die Debatte völlig polarisiert ist. Es gibt nur noch zwei Positionen: "Alle rein" oder "Alle raus". Jeder Zwischenton, jeder Hinweis auf die Komplexität der Situation wird gnadenlos zerrieben. Aber ich möchte hier auch nicht meine Position darlegen, das hat der Kollege Herr in so überzeugender Weise hier getan, dass ich mich vollständig darin wiederfinde.
Außerdem möchte ich keinesfalls zu den gefühlt 99% Mitbürgern gehören, die ganz genau wissen, was zu tun ist, und das in schlüssigster Weise damit begründen, dass sie es ja schon immer gewusst haben. Um es ganz offen zu sagen: Ich habe keine Ahnung, wie man das Problem am besten in den Griff bekommt. Und von den out-of-the-box-Argumenten hat mich bisher noch keines überzeugt. Ich hänge nicht so sehr an der Deutschtümelei, dass ich sie vermissen würde, auch bin ich kein Karl-May-Fan, der sich wünscht, auf der A9 von Bagdad nach Stambul zu fahren. Kurz gesagt, weder die bevorstehende Bereicherung des Abendlandes noch dessen dräuender Untergang will mir einleuchten. Und von beidem wird mir zu viel dahergefaselt.
Genau genommen will ich mich damit persönlich gar nicht mehr beschäftigen, weil es mich so frustriert. Ich zahle der deutschen Verwaltung jedes Jahr einen fünfstelligen Betrag allein an Einkommenssteuer, und dafür möchte ich doch erwarten können, dass eine bestehende Situation legislativ, juristisch und administrativ bewältigt werden kann. Wenn ein ganzes Mittelmeerland scheinbar problemlos alimentiert werden kann, dann muss es doch auch für dieses Flüchtlingsproblem eine Lösung geben. Wie gesagt, ich habe mich daran gewöhnt, dass mit meinem Steuergeld ziemlich viel Unsinn angestellt wird, und den Gedanken aufgegeben, dass man ja auch auf die Idee kommen könnte, es mir zu lassen, um damit meinen ganz persönlichen Unsinn anzustellen. Wenn's also ein paar Mark fuffzig mehr kostet, sei's drum.
Wenn mich aber etwas an der Debatte aufregt, ist es ihre unsägliche Verlogenheit, das schier unerträgliche Ausmaß an Hybris und Selbstbetrug, dem ich tagtäglich ausgesetzt bin. Dies möchte ich in zwei Artikeln tun, dabei beginne ich mit der Bereicherungsfraktion.
Zunächst fällt mir dabei ein Zitat ein, das man nicht oft genug wiederholen kann. Es ist die biblische Darlegung dessen, was wir heute als Distinktionsgewinn bezeichnen:
Der Pharisäer stellte sich hin und sprach leise dieses Gebet: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. (Lk 18, 11)Nun ist diese pharisäische Eigenart so menschlich wie nur irgendwas, und wenn sie einem in der Form von Biomarktkunden oder sonstigen der flüchtigen Mode unterworfenen Manifestationen begegnet, kann man ja großzügig darüber hinwegsehen. Im politischen Bereich - zumindest in einer pluralistischen Gesellschaft - hat sie nichts verloren.
Kollege Llarian hat sich mit der "Pack"-Aussage von Sigmar Gabriel ausführlich beschäftigt. Er geht das Thema von der Seite an, dass man Humanismus (den auch Herr als Grundlegung seiner Thesen eingenommen hat) nicht verordnen kann - und als Folge daraus niemanden beleidigen darf, der den Humanismus nicht teilt. Je mehr ich das Thema verfolge, um so mehr komme ich zu der Überzeugung, dass Llarian zum Ende seines Artikels einen entscheidenden Punkt angerissen hat, den ich nun ausführen möchte.
Nämlich den, dass die Motivation der öffentlichen Äußerungen oft gar kein Humanismus ist.
Je mehr die Debatte voranschreitet, um so weniger geht es eigentlich um den Kern der Sache (oder anders formuliert: das Nackte Gute), nämlich Menschen etwas Gutes zu tun. Sondern darum, in bestimmter Art und Weise wahrgenommen zu werden (das kommt auch im Evangelium vor, diesmal bei Matthäus, vgl. hier). Und zwar auf ganz verschiedenen Ebenen.
Die erste Ebene ist die stets misstrauisch beäugte "Reaktion des Auslandes".
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mit meinen Eltern früher den damals noch französisch lautenden Grand Prix Eurovision de la Chanson angeschaut habe. Mangels anderer geostrategischer Tätigkeiten der Bonner Republik war das der verlässlichste Indikator für das deutsche Ansehen. Und immer, wenn Nino de Angelo oder ein anderer Meistersinger mit zéro points vom Hof gejagt wurde, war für meine Eltern klar: Es lag keineswegs daran, dass der deutsche Sang in der Welt vielleicht ein wenig von seinem alten schönen Klang eingebüßt hätte. Sondern: "Ach die Holländer, die haben uns ja noch nie leiden können".
Dieser Reflex sitzt tief, und da viele schon in der Griechenlanddebatte ein "Scheubleu - zéro points" befürchteten - wie schlimm wäre es erst, wenn selbst syrische und afghanische Habenichtse "uns" den Rücken kehren würden, um beispielsweise das perfide Albion zu erreichen? Deshalb muss eine Willkommenskultur her - damit wir gut dastehen. Nicht umsonst ist Gabriel so sehr darauf herumgeritten, "dass das Pack nicht zu Deutschland gehört".
Eine weitere Ebene ist die der Projektion:
Es ist ja nicht so, dass die Freunde der unkontrollierten Zuwanderung alle Menschen gleich willkommen heißen würden - wenn man unweit eines US-Army-Stützpunktes wohnt, ist man keineswegs erstaunt, was da alles an gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ans Tageslicht kommt. Aber momentan müssen die imperialistischen Besatzer als liebste Feinde auf die Ersatzbank. Auch wenn die Amis natürlich als Kriegstreiber in Afghanistan, Irak, Libyen und auf dem Balkan als Hauptschuldige am Flüchtlingsstrom feststehen (bei Syrien ist es nicht ganz klar, möglicherweise auch, wegen Nichteingreifens?), jetzt sind die Sachsen dran.
In - selbst für mich als Bayern, der in dieser Hinsicht einiges gewohnt ist - geradezu ekelerregender Weise fällt die Qualitätspresse über die gesamte Bevölkerung des Freistaats her und nimmt dabei sogar die linke Hochburg Leipzig nur selten aus. Die ZEIT fordert einen "Säxit" und bemüht dabei ein Stereotyp schlimmer als das andere. Dabei kehrt sich die Logik der Berichterstattung um: Bei islamistischen Straftaten erfolgt in der Regel stante pede ein Disclaimer, dass die meisten Moslems ja friedlich sind. Hier dagegen ist von friedlichen Sachsen keine Rede, man erhält den Eindruck einer braunen Einheitsfront, die im verdorbenen sächsischen Volkscharakter gründet.
Woher aber kommt dieser plötzliche Sachsenhass? Die ZEIT war, wie ein großer Teil des linken Spektrums von Grass zu Fischer und Lafontaine, ohnehin gegen die Wiedervereinigung und hat in der DDR im Grunde genommen das bessere Deutschland gesehen. Deshalb sind dort alle DDR-Nostalgiker und Linkswähler wohlgelitten, nicht aber die traditionell sehr konservativen Sachsen. Wenn heute wieder vom "Tal der Ahnungslosen" die Rede ist, so bezieht sich das weniger auf den Empfang des Westfernsehens als darauf, dass die Segnungen des Sozialismus dort nie angekommen sind. Und indem man das Neonazitum anstatt zu einem Ostproblem zu einem sächsischen Problem macht, kann man auch wunderbar begründen, dass die Sozialisation in der "kommoden Diktatur" (Grass) keineswegs zu autoritärem Denken führt. Das liegt vielmehr an den sächsischen Genen.
Die dritte ist die Ebene der Rationalisierung
Ein weiterer Grund, der mich am Humanismus der Zuwanderungsfans zweifeln lässt, ist die Tatsache, dass sie stets versuchen, rationale Gründe dafür vorzuschieben, warum es ein erstrebenswertes Ziel ist. Das bedeutet aber doch, dass sie selbst nicht so recht davon überzeugt sind, etwas Gutes um des Guten Willen zu tun.
Exemplarisch dafür steht dieser Artikel, der so ziemlich alle Argumente enthält.
Das von konservativer Seite so oft angeführte "antideutsche" Motiv spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, wie Gabriels Äußerungen zeigen, hat sich längst die nationale Lesart eines "am deutschen Vorreitertum soll die Welt genesen" durchgesetzt. Die "kulturelle Bereicherung" ist demnach nicht mehr eine Verdrängung, wie sie die "Ausländer bleiben, Deutsche vertreiben"-Fraktion bis in die 90er gefordert hat. Man will einfach eine Projektionsfläche, an der man die eigene Weltoffenheit beweisen kann. Dabei ist die persönliche Nähe selbstverständlich verhandelbar - man lässt sich schießlich auch keinen Strommast in den Garten stellen, nur weil man Kernkraft- und Braunkohlegegner ist.
Ein weiteres Argument ist der Vorteil der Zuwanderer für die Sozialsysteme. Dieser Punkt wird von den Befürwortern genau so apodiktisch behauptet wie deren Schmarotzertum von der Gegenseite. Ich kann und will das an der Stelle nicht kaffeesatzleserisch beurteilen. Aber eine humanitäre Tat mit einem späteren finanziellen Gewinn zu begründen scheint mir nicht humanistisch zu sein.
Kaum in der Diskussion (bis auf jenen taz-Artikel) ist ein Motiv, das mir viel einleuchtender erscheint: Die Flüchtlinge als Pulverfass der Revolution:
Der von Rechtspopulisten geschürte Verdacht, vor allem die Ärmsten müssten die Kosten der Masseneinwanderung tragen, muss effektiv widerlegt werden. Migration stellt oft manchesterkapitalistische Verhältnisse (wieder) her, aber sie stellt auch die soziale Frage in größerer Schärfe. Mittel- und langfristig mag sich Migration rechnen, indem sie Arbeitsmarktlücken und Rentenlöcher stopft und Steuersäckel und Sozialkassen füllt, kurzfristig kommt es jedoch zu Belastungen, die auch die Mittelschichten treffen werden und ihre Willkommensbereitschaft erschüttern können. Einwanderung löst dann eine neue Gerechtigkeitsdebatte aus, die Reiche und Superreiche in Zugzwang bringen sollte.Die nicht gerade trockenen Träume, es denen da oben mal zu zeigen, einen die beiden Lager - Revolutionäre in spe einmal mit und einmal ohne Ariernachweis.
Und die große Menge an Wut (dazu mehr in Teil 2).
Meister Petz
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