17. Juli 2015

Die Dicke singt nicht

"It ain't over till the fat lady sings" wird gerne einmal zitiert, wenn eine Sache sich lange hinzieht und jemand die Hoffnung äußert, nun wäre es aber gleich vorbei. Mit der dicken Dame ist wahrscheinlich die stimmgewaltige Walküre gemeint, deren Einsatz bei Wagner den Weltuntergang ankündigt. Mit dem Weltuntergang ist die Oper dann auch zuverlässig aus. Und egal wie gut der Zuschauer die Oper anfangs vielleicht fand - irgendwann hat er doch genug und wartet ungeduldig auf die dicke Dame.

Das gilt um so mehr bei Vorführungen, die man schon von Anfang an nicht wirklich gut fand. Z. B. die Griechenlandkrise.
Immer noch ein Krisengipfel, immer noch eine letzte Frist, eine allerletzte Nachverhandlung, immer wieder Bedingungen, immer wieder Zahlungen - und dann wieder ein Krisengipfel mit Sitzungsende spät in der Nacht.
Begleitend dann eine Kakophonie von Meinungsäußerungen, von Politikern, "Experten" und Kommentatoren. Man kann gar nicht so unwichtig sein, daß man mit einer schrägen Position nicht eine Tickermeldung spendiert bekommen würde.

Nein, keine schöne Show. Und der Wunsch wächst, daß endlich der Auftritt der Dicken kommen würde. Egal ob dann der Weltuntergang kommt, oder der Grexit, oder der Banken-Crash, oder der Zusammenbruch der Demokratie, oder die völlige Entwertung des Geldes, oder, oder, oder ...
An Katastrophenszenarien wäre kein Mangel. Wenn nur endlich die Schlußarie käme.

Aber die Dicke singt nicht.
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Und sie wird auch nicht singen.

Die Griechen stimmen in völlig irrsinniger Selbstmordstimmung mit "Nein", die Deutschen wüten in den Kommentarspalten, die übrigen Europäer regen sich auf oder ab, wie es halt der Landessitte jeweils entspricht.
Aber das Drama geht weiter. Es wird noch Jahre so weitergehen.

Weil das in der Politik völlig normal ist.
Für komplexe Probleme gibt es nie einfache Lösungen, die man direkt umsetzen könnte. Je stringenter man in eine Richtung gehen würde, desto mehr Nebenwirkungen erzeugt man in anderen Bereichen. Und Mehrheiten findet man immer nur für Kompromisse, die für alle Beteiligten halbwegs akzeptabel sind und daher auch immer Wünsche offen lassen.

Echte Entscheidungen gibt es in der Regel nur per Krieg. Und da wird auch selten die Frage entschieden, wegen der der Krieg angefangen wurde. So mal als Beispiel: Ursprungsziel der Westallierten im zweiten Weltkrieg war es, die polnische Unabhängigkeit wieder herzustellen. Sie haben den Krieg gewonnen, aber das Ziel nicht erreicht.

Im Frieden besteht die hohe Kunst der Staatsmänner darin, sich irgendwie durchzuwursteln. Möglichst so, daß es nach außen trotzdem forsch und entschlußfreudig aussieht. Probleme werden nicht gelöst, sondern gelindert. Sie werden mit einigen Detailverbesserungen erträglich gemacht und dann auf die lange Bank geschoben. Wo sie sich oft genug nach einiger Zeit dann erledigt haben. Und sei es auch nur in der Art, daß neue Probleme die Aufmerksamkeit beanspruchen.

Das klingt erst einmal recht entsetzlich. Die alten Probleme werden nicht gelöst, und dauernd tauchen noch neue Probleme auf? Dann müßte ja die Lage immer schlechter werden.
Aber das wird sie nicht - im Gegenteil.
Im kurzfristigen Ausblick könnte man meinen, alles würde immer schlimmer. Aber von überschaubaren Ausnahmen abgesehen geht es uns in Deutschland, in Europa, in der Welt heute deutlich besser als vor 20 Jahren, und noch besser als vor 40 oder 60 Jahren.

Kleiner Rückblick zu den Problemen vor 20 Jahren: Jelzin verliert den Krieg in Tschetschenien, das Ende der Erziehung, vor uns die Sintflut, der Ausbruch der Killerviren ...
Irgendeines dieser Probleme gelöst?
Nein. Na und?
Und ganz miese Aussichten: "Die Gewinne der Großkonzerne steigen, ihre Arbeitsplätze schrumpfen. Wohlstand für alle wird es nicht mehr geben."
Ist es so gekommen? Nicht wirklich.

Also 40 Jahre zurück: Die Deutschen sterben aus, Amerika verliert den Vietnamkrieg, Mehr Steuern - weniger Sozialstaat, Lehrermangel - Notstand an den Schulen, schlechtes Fernsehprogramm, Abhöraffären ...
Irgendeines dieser Probleme gelöst?
Nein. Na und?

Und vor 60 Jahren: Aufstand in Kalifornien, die FDP ist überflüssig, das Fernsehprogramm taugt nichts, es gibt nicht genug Dienstmädchen für die Versorgung von Kindern, die Aufgaben des Bundesgrenzschutzes sind unklar, bei der europäischen Einigung gibt es Zoff ...
Irgendeines dieser Probleme gelöst?
Nein. Na und?

Einige Probleme sind echte Dauerbrenner der deutschen Nachkriegsgeschichte. Seit Jahrzehnten verrottet das Bildungswesen, sterben die Deutschen aus, gibt es Sozialabbau, sind die Wirtschaftsaussichten mies, werden wir unseren Wohlstand verlieren, gibt es Politikverdrossenheit.
Erstaunlicherweise gibt es immer noch Kinder, die ihren Namen schreiben können, ist die Bevölkerungszahl gestiegen, geben wir mehr Geld für Soziales aus als jemals zuvor, ist der Lebensstandard besser als jemals zuvor und die daran schuldige Politik macht auch immer weiter.

Und sie wird auch in Griechenland weitermachen.
Glaubt denn jemand ernsthaft, man würde ein europäisches Land knallhart vor die Wand fahren?
Glaube denn wirklich jemand, die EZB würde eine offizielle Insolvenz erklären und dem Bundesfinanzminister die Rechnung für die verbürgten Milliarden schicken?

Es wird schlicht noch lange so weitergehen: Es gibt Auflagen, die werden teilweise umgesetzt, teilweise nicht. Man wird die Altschulden strecken und verschieben, so daß es egal ist, ob man das "Schuldenschnitt" nennt. Man wird jährlich ein Stück Geld überweisen, das dann wirklich kassnwirksam wird und nicht nur der virtuellen Schuldenumwälzung dient - und dieses Geld werden die Europäer problemlos verschmerzen.
Und irgendwann werden dann nach und nach auch die übrigen EU-Staaten in die Nähe der schwarzen Null kommen.

Das Waldsterben wird nicht kommen, die Klimakatastrophe wird nicht kommen, die Hyperinflation wird nicht kommen, der Grexit wird nicht kommen, die politische Alternative zum "verkrusteten deutschen Parteiensystem" wird nicht kommen, die Weltrevolution wird nicht kommen. Im realen Leben singt die Walküre nicht.

Aber die nächste Krisensitzung wird kommen, die nächste Doping-Affäre bei der Tour de France wird kommen, der nächste Geheimdienstskandal wird kommen, die nächsten dummen Gesetze der Bundesregierung werden kommen.
Das können wir alles nicht verhindern. Aber etwas erträglicher gestalten - und das ist viel!

R.A.

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