So fragt die Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises den Lektor und sich in ihrem Beitrag „Recherche“. Darin geht es um die Schuldfrage am Sturz eines dreizehnjährigen schwulen Jungen aus dem Fenster. Für die Polizei ein Unfall, für die recherchierende Dichterin ein Verbrechen. Sie will nicht nur das fünfstöckige Mehrfamilienhaus entlarven, sondern unsere ganze Gesellschaft.
Warum gab sie ihrem Text den Titel „Der Gott der verlorenen Dinge?“ Gomringer nannte die Klagenfurter Veranstaltung einen „Germanisten-Porno“. Ihre Hausbesuche spiegeln die Herrschaft einer Pornokratie. Die 22 Jahre alte Interviewerin weiß zwar nur theoretisch „wie man einen Mann oral befriedigt“, aber in einer der Wohnungen hat eine pensionierte Professorin das Bedürfnis, zweimal die Woche durch einen jungen Mann fast erdrosselt zu werden; im 5. Stock, aus dem der Junge stürzte, wohnt Frau Terp, Pflegemutter des Jungen, mit ihrer Tochter, die andeutet, der Vater, der im 1. Stock mit dem Schwesterchen lebe, missbrauche das Mädchen. Sie selber bevorzugt kleine Mädchen und erklärt es als Lernen für den Schauspielerberuf.
Es bleibt verschleiert, wer und was genau den Jungen in den Selbstmord getrieben hat. Die Gewissensfrage wird aber gestellt: „Meinen Sie, so eine Tragödie ist für ein ganzes Haus von Bedeutung?“ Die Schriftstellerin sucht eine moralfreie Sprache. Sie nennt es für den Jungen ein Wohnen „in unaufgeräumten Verhältnissen“ und rechtfertigt ihre Dichter-Augen: „und es ist ja völlig falsch, anzunehmen, dass Autoren die harmlosen Dinge, das Schöne, die stille Größte feierten. Sie feiern das, was sie anzieht: das Gegenteil von Ganzheit.“ Vieles am Schreiben sei widerlich, weil es die Voyeure anziehe und die Herzlosen.
Manchmal wird das Urteil genauer: „Hier in einer Landschaft der Verlorenheiten, - Wie meinen Sie das, Verlorenheiten?“
Dieses Wort führt den Hörer oder Leser zu dem vier Mal im Text verwendeten Begriff „der Gott der verlorenen Dinge“. Was könnten die Dinge sein, die für Gott oder vor Gott oder im zeitgenössischen Weltbild vergessen, verschwunden sind? In der Mitte ihres Textes wird Gomringer ganz aktuell. Die den Fall Untersuchende notiert sich: „Und dieser unendlich traurige Co-Pilot, der so ruhig atmete, als er den Sinkflug einleitete (…), war keinem in der Gemeinde, die die Nächstenliebe propagierte, Mäntel und Decken in die Ukraine mit einem eigens angeschafften Laster karrte, ein Gebet wert. Dieser Mann war der Teufel des Teufels. Er war einer von uns.“ Sie formuliert christenkritisch im Stil Nietzsches: Gar nicht so sehr, Gott sei tot, sondern: der tätige Glaube seiner Verehrer sei tot.
Die Solidarität mit jedem armen und kranken Menschen, ohne Verteufelung, gehört also zu den verlorenen Dingen, sagt sie. Und die Homoerotik endlich zu akzeptieren. „Der Gott der verlorenen Dinge ist hier anzurufen für den Jungen.“
Die Recherche zum Selbstmord durch Abstürzen wird zur philosophischen Predigt: „Wo werden wir wahr?“ „Der Gott der verlorenen Dinge. Ich glaube immer noch, dass der Titel gut ist. Muss er durch, der neue Lektor. Wer bist du denn?“ Nicht nur eine Selbstempfehlung. Einer ihrer Vorgänger hatte sich bei der Lesung mit dem Rasiermesser die Stirn aufgeschnitten, dass Blut auf seinen Text tröpfele. Sie über sich in der Rolle der Kollegin, unter Tränen: „Bin ich Schriftstellerin oder Kriegsreporterin?“ Gegen Schluss das Bild einer vom Wind bewegten Schaukel für „die absolute Verlorenheit“ des Gegenwartsmenschen. „So enden alle Wesen, alle Dinge, auch die Betrachtung der Betrachtungen in den feuchten Augen eines Wesens, fremder als der Nachbar“.
Nur der Tod erscheint als objektive Wahrheit.
Ihr Schlusssatz lautet: „Und die einen nennen es Gott, und die anderen wissen es besser.“ Das ist vieldeutig. Und offenbart noch einmal die Zerrissenheit. Es mag bedeuten: Da gibt es die Religiösen als dumme Fromme oder besser als kritische Glaubende, und die Atheisten als Besserwisser oder gescheiter als vorsichtige Agnostiker. In jedem Fall nur subjektive Wahrheiten.
© Ludwig Weimer. Für Kommentare bitte hier klicken.