18. August 2014

Das Land ohne Außenpolitik (2)

Das alte deutsche Reich war ein sehr großes und vielgestaltiges Gebilde.
Mit vielen Völkern, Sprachen und religiösen Bekenntnissen. Auf dem Reichstag gab es Vertreter mit tschechischer, französischer, dänischer, polnischer oder italienischer Herkunft. Und die Unterschiede zwischen den deutschen Vertretern waren fast so groß: Für einen Schwaben war ein Pommer oder Sachse ähnlich fremd wie ein Däne oder Holländer. Entsprechend unterschiedlich waren auch die Gebräuche und lokalen Rechtsformen.

Aber damit konnten die Reichsangehörigen umgehen. Sie hatten Latein und später Hochdeutsch als gemeinsame Verkehrssprache. Sie gewöhnten sich eine gewisse Toleranz im Umgang mit fremden Sitten an. Und vor allem teilten sie ein im Grundsatz gemeinsames Rechtssystem.
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Interne Konflikte wurden zu einem erstaunlich großen Teil durch dieses Rechtssystem gelöst. Es war wichtiger und besser ausgebaut als in wohl allen anderen europäischen Ländern. Insbesondere gab es dort die reale Möglichkeit für Untertanen, auch ihre Fürsten zu verklagen.

Wenn z. B. in Frankreich die Bauern wirklich sehr unzufrieden waren mit den Forderungen ihres Feudalherrn – dann gab es eben einen Aufstand, einige Steuereintreiber wurden gelyncht, einige Güter geplündert und der Feudalherr wußte, daß er zu weit gegangen war. Der Aufstand wurde zwar immer niedergeschlagen und diverse Steuerpflichtige demonstrativ hingerichtet.
Aber ihr eigentliches Ziel konnten die Aufständischen oft erreichen – von den neuen Forderungen wurde Abstand genommen. Ein Gang vor Gericht wäre zwar theoretisch manchmal möglich gewesen, aber praktisch völlig aussichtslos.

Im Reich war es dagegen nicht nur möglich, sondern durchaus aussichtsreich, den Feudalherren wegen unberechtigter Forderungen zu verklagen. Das konnte heftige Gebühren kosten und auch mal ein/zwei Generationen dauern. Aber alleine die Möglichkeit zur Klage war schon ein gewisser Schutz vor Übergriffen. Und die Klage fast immer sinnvoller als ein Aufstand.

Das Besondere an den Bauernkriegen war eigentlich, daß sie für Deutschland die Ausnahme waren, aber im übrigen Europa die Regel. Sie waren eben weitgehend religiös begründet – das war vor Gericht nicht verhandelbar.

Das aus Sicht des übrigen Europas wohl erstaunlichste Verfahren gab es Anfang des 18. Jahrhunderts in Mecklenburg: Da wurde sogar ein Herzog von seinen Untertanen verklagt, am Ende setzte die Reichsarmee das Urteil gegen ihn durch und er mußte ins Exil gehen. In Erinnerung geblieben ist dagegen der eine spektakuläre Fall, als gegen Ende des Reichs ein prominenter Rechtsbrecher straffrei blieb: Friedrich der Große und seine Verbündeten waren zu stark und die Reichsarmee wurde besiegt.


Diese Mentalitätsunterschiede zwischen Frankreich und Deutschland merkt man bis heute. Wenn Franzosen mit ihrer Regierung unzufrieden sind, dann gibt es Straßenproteste. Oft mit einer Heftigkeit, die in Deutschland als Bürgerkrieg empfunden würden. Und ab einer gewissen Stärke der Proteste gibt die Regierung nach.

Die typische deutsche Gegenwehr ist dagegen der Gang zum Verwaltungsgericht. Und auch die erfolgversprechende – fast alle gekippten Regierungsvorhaben sind vor einem Gericht gescheitert, fast keines wegen irgendwelchen Demos.


Und so stellen sich die Deutschen auch das Völkerrecht vor.

Nicht so, wie der Rest der Welt das sieht – als einen lockeren Rahmen von Vereinbarungen, der durch Gewohnheitsrecht gefüllt wird und sich an der praktischen Durchführbarkeit orientiert.
Sondern wie vor einem deutschen Verwaltungsgericht: Es gibt ein Gesetz, und es gibt ein eindeutiges Urteil. Schuldig oder unschuldig. Ohne Rücksicht darauf, ob das in der Realität umgesetzt werden kann.


Irgendwie sehen die Deutschen den Rest der Welt immer noch so, wie sie die die anderen Stämme oder Volksgruppen im alten Reich erlebt haben: Mit anderen Sprachen und Gebräuchen, aber „eigentlich“ nach denselben Grundsätzen handelnd.
Deutsche sind am Ausland im Wesentlichen anekdotisch interessiert. Und da stecken sie auch viel Gehirnschmalz rein: Wie die Begrüßung funktioniert, welche Gesten was bedeuten, was man ißt und trinkt – das steht ausführlich in jedem Reiseführer.

Aber daß andere Länder strukturell ganz anders aufgebaut sein können. Daß die Mentalität sich oft wirklich unterscheidet. Daß es draußen in der Welt ganz andere Wertmaßstäbe und Ziele gibt. Daß Konflikte tiefere Ursachen haben können als nur Mißverständnisse oder der böse Wille einiger Beteiligter.
All das wird hierzulande nicht wirklich verstanden.

(Fortsetzung hier)

R.A.

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