„Da sitzen wir also mal wieder,“ sagte der Heilige.
„Das kannst du laut sagen,“ sagte Piet. „Auf dem Dampfschiff in die Niederlande. Genau wie jedes Jahr. Zum wievielten Mal machen wir das jetzt, Sinterklaas?“
„Zum fünfhundertvierundsiebzigsten Mal,“ sagte der Heilige.
„Bah,“ sagte Piet.
„Was soll das heißen: ‚bah‘?“ fragte Sinterklaas erbost. „Wieso bah?“
“Mir reicht es!“ sagte Piet.
„Aber du magst doch Kinder? Und die Kinder lieben uns!“
„Ach was,“ sagte Piet. „Die mögen nur unsere Geschenke. Es geht einzig und allein um die Päckchen, und sonst um gar nichts. Und jetzt zieht auch noch ein Sturm auf. Bah!“
„Hör‘ mal, Piet, red‘ nicht so ein dummes Zeug!“ sagte Sinterklas, der ernsthaft aufgebracht war. „Wenn noch ein ein Mal ‚bah!‘ sagst, werf‘ ich dich raus. Die Kinder lieben uns. Sie sind ganz verrückt nach uns …“ Huuuiiii … bevor Sinterklas fortfahren konnte, kam eine Windbö auf, die ihm fast die Bischofsmütze vom Kopf fegte … der Sturm begann zu wüten, die Luft wurde schwarz wie Tinte … die Wellen schlugen höher und höher …
„Da hast du’s!“ schrie Piet. „Wir gehen unter!“
„Unfug!“ rief Sinterklaas. „Uns ist fünfhundertdreiundsiebzig Mal nichts passiert. Warum soll das ausgerechnet dieses Mal … Gurgel …“ Eine große Welle schwappte Sinterklaas in den Mund und er mußte Bischofshut und Krummstab mit den Händen festhalten.
Der Sturm wurde immer wilder und wüster und furchtbarer. Haushohe Wogen, turmhohe Wellen … Das Dampfboot wurde hin- und hergeschleudert wie ein Spielzeugschiffchen auf den Westender Seen.
„Ich hab‘ schreckliche Angst!“ jammerte Piet.
“Unsinn!” rief Sinterklass erneut.
Und dann … gab es einen fürchterlichen Schlag. Das Schiff war auf Grund gelaufen. „Hilfe … Hilfe!“ schrie Piet. „Zu Hilfe! Das Schiff sinkt!“
„Was hast du gesagt?“ fragte Sinterklaas, während er zu schwimmen versuchte, während er noch seinen Bischofshut aufhatte und seinen Stab festhielt.
„Ich hab‘ gesagt: das Schiff sinkt!“ ächzte Piet, der gleich neben ihm schwamm.
„Aha,“ sagte Sinterklas. „Na, das stimmt. Das Schiff ist untergegangen.“
„Ach, ich bin durch und durch naß,“ sagte Piet. „Ich bin so naß und mir ist und kalt und ich fühle mich so furchtbar elend. Ich tu‘ mir so schrecklich leid!“
„Denk lieber an die armen Kinder in den Niederlanden,“ sagte Sinterklaas. „Wenn der Heilige ersäuft, gibt es für sie keine Süßigkeit und Spielsachen am 5. Dezember. Ach – jetzt ist es soweit. Ich bin zu alt, um hier im Golf von Biskaya noch weiter Runden zu drehen. Lebwohl, Piet.“
“Nicht!” rief Piet verzweifelt. “Nicht untergehen, Sinterklaas. Da vorn treibt ein großer Balken! Vielleicht schaffen wir es, darauf zu klettern!““
Nun, fürs erste waren sie gerettet. Der gute Heilige hatte seinen Stab verloren. Seinen Hut trug er noch auf dem Kopf, aber das Wasser troff heraus und er sah mehr wie ein Pudding als die Mitra eines Bischofs aus.
“Und all meine Geschenke sind jetzt ein Fressen für die Fische,“ seufzte Sinterklaas. „All das Marzipan und die Buchstaben aus Schokolade und die Tiere aus Zuckerwerk – alles futsch! Und wie lange sollen wir jetzt hier dümpeln?“
„Ich sehe Land!“ rief Piet. „Schau, da vorn ist Land! Und da kommt auch ein Boot, um uns zu retten. Das muß die Küste von Frankreich sein. Das ist ein französisches Boot!“
Gerettet ... endlich gerettet!
Tropfend und zitternd standen Sinterklaas und Piet im Laden eines Fischhändlers in einem französischen Küstenstädtchen.
„Nous sommes Sint Nicholas et Pierre, » sagte Sinterklaas. Das ist Französisch und bedeutet: Wir sind Sinterklaas und Piet. Aber die Frau des Fischhändlers verstand sie nicht wirklich.
Sie sagte nur: „Ach, ihr armen, armen Schiffbrüchigen…“ (sie sagte das natürlich auf Französisch). „Zieht doch die nassen Sachen aus. Ich geb‘ euch einen Anzug von meinem Mann. Seinen Sonntagsanzug. Und für den Jungen habe ich noch Kleidung von meinem Sohn übrig.“
„Wie können wir uns dafür erkenntlich zeigen?“ fragte Sinterklaas. „Wir können Ihnen nichts dafür bezahlen. All unser Geld liegt jetzt auf dem Meeresgrund.“
„Das macht nichts“ sagte die gute Frau. „Ihr könnt auch heute bei uns übernachten.“
„Das ist sehr lieb von Ihnen. Aber uns bleibt keine Zeit dafür,“ sagte der Heilige. „Wir haben es furchtbar eilig. Sonst kommen wir nicht mehr rechtzeitig in die Niederlande. Ach du liebe Güte, wir kommen bestimmt zu spät. Da warten sie schon auf uns und jetzt verspäten wir uns. Wir haben ja nicht mal mehr Geld für die Weiterfahrt.“
„Mein Mann wird Sie in die Niederlande bringen,“ sagte die gute Frau.
Sinterklaas und Piet hockten auf der offenen Ladefläche eines Lastwagen und klammerten sich fest, denn der Fischhändler fuhr wie ein Wahnsinniger. Er überfuhr alle roten Ampeln und hielt bei keiner Grenzkontrolle an. Er schnitt mit quietschenden Reifen die Kurven, raste die Straßen entlang und donnerte durch die Städte. Aber dem Heiligen ging es noch nicht schnell genug. „Wenn wir bloß rechtzeitig da sein … wenn wir bloß vor dem 5. Dezember ankommen …“ seufzte er. „Schneller bitte, noch schneller!“
Und nachdem sie einen ganzen Tag und eine ganze Nacht durchgefahren waren, waren sie in den Niederlanden. „Nach Amsterdam?“ fragte der Fischhändler.
„Natürlich,” sagte Sinterklaas, “nach Amsterdam.“
“Ich setze euch hier ab,“ sagte der Fischhändler. „Mitten in Amsterdam. Und ich fahre gleich zurück. Meine Frau wartet auf mich.“ Und fort war er.
Da standen sie nun, mitten in Amsterdam, auf dem Damm, vor dem Königlichen Palais. Unter den Tauben und den Leuten. Sinterklaas schaute sich um und machte das, was er in jedem Jahr bei seinem Besuch in den Niederlanden tat: er winkte und er nickte und er lächelte. Es kamen viele Leute vorbei. Aber niemand blickte den Heiligen und Piet an. Niemand erkannte sie. Überhaupt niemand.
„Ich bin Sinterklaas,“ sagte der gute Heilige zu einem Passanten.
Der Herr blieb stehen, schnupperte kurz und sagte: „Lieber Mann, Sie riechen nach Fisch!“ Dann ging er weiter. Das stimmte nun allerdings – sie rochen tatsächlich nach Fisch. Und niemand, niemand, niemand erkannte sie. Niedergeschlagen setzten sich sie auf eine Bank neben dem Nationaldenkmal.
„Da sitzen wir also,“ sagte der Heilige.
„Das kannst du laut sagen,“ sagte Piet. „Keine Geschenke. Kein Geld. Die Menschen erkennen uns nicht. Was hab‘ ich dir gesagt? Die Kinder lieben uns nur deshalb, weil wir ihnen Geschenke bringen.“
In diesem Augenblick kam ein noch ganz junges Mädchen an der Hand ihrer Großmutter vorbei.
„Sinneklaß!“ rief das Kind.
„Das ist nicht Sinterklaas,“ sagte die Oma. „Das ist ein ganz gewöhnlicher Mann.“
“Sinneklaß!” sagte das Kind trotzig und versuchte sich von der Hand ihrer Oma loszumachen.
Ein anderes Kind rief ebenfalls. „Sinterklaas!“ Ein kleiner Junge fing an zu singen: „Sinterklaas – bonne, bonne, bonne …“ Und bald hatten sich wohl an die tausend Kinder um die Bank versammelt; sie sangen und jubelten und riefen laut. Die Väter und Mütter meinten mürrisch: „Komm mit, Rietje. Komm schon, Jantje. Das ist nicht Sinterklaas, das seht ihr doch. Das ist bloß ein Mann, der nach Fisch riecht.“ Aber die Kinder rissen sich los und liefen zur Bank. Sinterklaas schüttelte allen die Hand und hörte ihren Liedern zu. „Wo ist dein Stab, Sinterklaas? Und wo ist deine Mütze? Wo ist der Sack mit den Geschenken?“ fragten die Kinder. Sinterklaas erzählte ihnen von ihrem Schiffbruch.
„Wie furchtbar!“ riefen alle Kinder. „Armer Sinterklaas. Armer Schwarzer Piet. Das Dampfboot ist untergegangen und jetzt sitzen sie hier und haben nichts anzuziehen und nichts zu essen.“
Einige ältere Kinder hielten Kriegsrat. „Wißt ihr, Sinterklaas hat uns schon so oft Geschenke gebracht. Wir machen das jetzt andersherum. Jetzt schenken wir ihm etwas.“ Sie liefen nach Haus und kamen mit ganzen Stapeln voller Geschenkpakete zurück. Es gab belegte Brote und Äpfel und Kartoffeln und Milchflaschen. Nach und nach liefen alle Kinder nach Hause, um etwas herbeizuholen. Außer Essen brachten sie auch richtige Geschenke mit: ihr schönstes Spielzeug, ihre Eisenbahnzüge und Kranwagen und Spielzeugtiere. Ihre Puppen und Puppenstuben und Spielzeugherde.
Die Erwachsenen sahen sich das aus der Entfernung an und kamen aus dem Kopfschütteln nicht heraus. „Was für ein Wahnsinn!“ riefen sie laut. „Ein ganz normaler Mann, der nach Fisch stinkt …“
Es kamen noch zwei Kinder mit einem riesigen Paket herbei. „Was mag darin wohl sein?“ fragte Sinterklaas neugierig. Ihm gefielen die Geschenke; er konnte gar nicht genug davon bekommen. Vorsichtig machte er das große Paket auf.
Und was war darin? Ein Sinterklaas-Anzug und ein Schwarzer-Piet-Kostüm.
„Das waren wir für euch ausgeliehen,“ sagten die Kinder. „Mit dem Geld aus unserer Spardose. Die Anzüge müssen wieder zurückgegeben werden, aber vorher ihr dürft sie ein paar Tage lang tragen.“
Sinterklas hatte Tränen in den Augen, so glücklich war er. Und Piet tanzte vor Freude.
Hinter dem steinernen Löwen des Denkmals zogen sie sich um. Und als sie wieder zum Vorschein kamen, brachen alle Kinder in lauter Jubel aus und sangen: „Der Mond scheint durch die Bäume …“
Das hier war jetzt der gute Heilige, der jedes Jahr die Niederlande besuchte. Das war der fröhliche Schwarze Piet. Jetzt erkannten auch die Erwachsenen endlich, daß sie es wirklich waren. Niemand zweifelte jetzt noch daran. Auch wenn der Heilige und Piet noch ein wenig nach Fisch rochen – das machte nichts.
Er wurde feierlich empfangen, der Heilige Mann. Alle jubelten ihm zu, selbst die Erwachsenen, und er machte seine Runde mit dem Schwarzen Piet, an allen Häusern vorbei, als wenn gar nichts geschehen wäre. Und er hatte auch Geschenke zu verteilen. Aber ja doch! All die Päckchen, die er von dem Kindern erhalten hatte, konnte er jetzt austeilen. Jedes Kind erhielt sein Geschenk. Und keines bekam das zurück, was es gegeben hatte – dafür trug Piet schon Sorge. So zogen sie durch das ganze Land.
Sinterklaas flog mit dem Flugzeug nach Hause, und er durfte umsonst mit KLM fliegen, weil er eine Sehr Bedeutende Person war. Und als er wieder in Spanien war, schickte er das Sinterklaas-Kostüm und das Schwarze-Piet-Kostüm per Einschreiben zurück, mit einem kleinen Brief: „Das war der großartigste 5. Dezember in all den fünfhundertvierundsiebzig Jahren! Herzlichen Dank!“
* * *
Zu den unzähligen Beiträgen (*), die Annie M. G. Schmidt seit ihrem Eintritt in der Redaktion der zweitgrößten niederländischen Tageszeit „Het parool“ zum Jahresanfang 1949 bis zu ihrem Ausscheiden neun Jahre später zumeist auf der samstäglichen Jugendseite veröffentlicht hat, zählte der Großteil der zwischen 1950 und 1958 in neun kleinen Bändchen gebündelten Kindergedichte, die ihr in der niederländischen Nachkriegsliteratur einen Platz gesichert haben, wie ihn bei uns etwa Erich Kästner oder James Krüss einnehmen. Dazu zählen auch die 76 längeren Gedichte um „das Schaf Veronika“ samt den „alten Damen Grün“ und dem typisch niederländischen „Herr Pastor,“ dem Dominee (in Buchform in drei Bändchen erschienen: „Het schaap Veronica,“ 1951; „Kom, zei het schaap Veronica,“ 1953, und „Het hele schaap Veronica,“ 1960), die im Wochentakt erschienenen „Übungen für das erste Lesealter“ um Jip und Janneke, die jeweils nur eine Druckseite - oder 250 Wörter – umfassen (8 Büchlein zwischen 1953 und 1960) und die in der deutschen Übersetzung die Namen Heiner und Hanni erhielten; in den Erstauflagen waren zur Leseerleichterung die mehrsilbigen Wörter mit Trennstrichen versehen, selbst im Titel („E-ven-tjes la-chen, Jip en Jan-ne-ke“). Dazu gehörte auch die für erwachsene Leser(innen) bestimmte Kolumne, in denen der Alltag in den Niederlanden der Nachkriegszeit aus der Perspektive einer „schlichten Seele“ sarkastisch kommentiert wurde – deutsche Leser dürfen als Vergleich hier an Elke Heidenreichs „Else Stratmann“ denken („Impressies van een simpele ziel,“ 1951; „Nieuwe impressies van een simpele ziel,“ 1952; und „Impressies van een simpele ziel 3,“ 1953; anders als die übrigen Reihen nicht bei Schmidts Stammhaus De Arbeiderspers verlegt, sondern beim namhaftesten Verlag der Niederlande, Querido). Dazu gehörte auch die seit der Nummer 3383 vom 19. Januar 1956 erschienene Rubrik „Dit staat in de sterren,“ für die sich Annie MG von einem „professionellen Astrologen“ beraten ließ.
(* „Unzählig“ darf in diesem Zusammenhang fast wörtlich genommen werden. Die ausführliche Bibliographie von Schmidts Oeuvre aus der Hand von Marcel Raadgreep, „Ik krijg zo’n drang van binnen: Bibliografie van het werk van Annie M.G. Schmidt,“ erschienen bei De Wombat, Amsterdam 2009, zählt für das Jahr 1954 157 Beiträge für „Het parool“; für das folgende Jahr 143, und der Kompilator weist darauf hin, daß diese Liste nicht vollständig ist, weil die Hauptredaktion nicht sämtliche Beiträge mit Namen oder Kürzel versah.)
Was allerdings nicht dazu zählt, sind die kleinen Geschichten oder Fabeln, die Annie Schmidt, zumeist unter Wahrung der Märchenform und mit dem entsprechenden Personal aus Riesen, Drachen, Prinzessinnen, Königssöhnen und Hexen verfaßt hat, und von denen die erste Sammlung von 15 Märchen 1964 als „Hexen en zo“ in Buchform herauskam – aus dem simplen Grund, weil diese Texte erst entstanden sind, nachdem Schmidt Anfang 1958 ihren Abschied aus der Redaktion genommen hatte, um sich ganz auf das Schreiben konzentrieren zu können. Diejenigen dieser kleinen Geschichten, die gegen Ende ihres Lebens noch das Placet der fast erblindeten Autorin erhielten, sind von Tine van Buul und Reinold Kuipers 1997 zusammengestellt worden und bei Querido unter dem Titel „Misschien wel echt gebeurd: De 43 sprookjes en verhalen“ erschienen (der Titel läßt sich mit „Vielleicht ist es ja passiert: Märchen und Geschichten“ wiedergeben).
In „Het parool“ erschienen danach noch die Texte des Bandes „Meneer recht, mevrouw averecht“ (1963 bei De Arbeiderspers) vom September 1962 bis zum Februar 1963 im Vorabdruck und nach einer Pause von mehr als 30 Jahren der Vorabdruck ihrer ziemlich episodisch gehaltenen Memoiren „Wat ik nog weet“ im wöchentlichen Takt zwischen dem 4. Januar und dem 6. Dezember 1991).
Der einzige „reguläre“ Text, den Annie M.G. Schmidt noch in „Het parool“ publiziert hat, ist eben „De heerlijkste 5 december in vijfhondertvierenzeventig jaar,“ erschienen auf der Kinderseite der Zeitung in der Ausgabe vom Samstag, dem 3. Dezember 1960 (20. Jahrgang, Nr. 4877), illustriert mit Zeichnungen von Fiep Westendorp. Westendorp (1916-2004) hatte ab 1953 den Großteil der graphischen Ausstattung von Schmidts Texten übernommen; vor allem ihre schwarz-weißen Silhouetten-Umrisse haben den Geschichtchen um Jip und Janneke ein unverkennbares optisches Gepräge gegeben. Um angesichts der relativ schlechten Druckqualität auf Zeitungspapier eine unverwechselbare Signatur zu setzen, hat sie ihre Gestalten mit ganz in schwarz ausgefüllten Armen, Beinen und Köpfen getuscht, in denen nur ein winziger weißer Lichtpunkt die Augen markiert. Es war wohl unvermeidlich, daß im Zuge des grassierenden Zeit-Ungeistes des 21. Jahrhunderts diese Darstellungen „durchgehend rassistisch, stereotyp“ als „Verhöhnung bunter Menschen“ (wie man sich das gerade noch erlaubte „People of Color“ übersetzen möchte) denunziert worden sind (sh. etwa De Volkskrant vom 29 August 2019: „Kinderliteratur ist durchgehend rassistisch, sexistisch und homophob“) – ungeachtet der schlichten Tatsache, daß Texte, die sich ausdrücklich an Fünf- und Sechsjährige richten, gar nicht anders KÖNNEN, als typische Klischees in archetypischen Situation zu schildern: „die böse Stiefmutter“ wird immer ein gesichtsloser Schemen sein; das Ausfüllen mit individuellen Zügen – anstatt der konturlosen Fläche – gehört einem späteren Entwicklungsstadium ab ungefähr dem achten Lebensjahr an: wenn nämlich jugendliche Leser begreifen können, daß Erzählsituationen nicht eindeutig schwarz/weiß sind; daß auf einen unzuverlässigen Erzähler nicht unbedingt Verlaß ist und die Dinge nicht immer das sind, als das sie erscheinen. Diese grundlegende Erkenntnis, die jeder Detektiverzählung zugrunde liegt, wächst allen Lesern in diesem Alter auf ganz natürliche Weise zu. Daß gardinenpredigende Moralapostel nicht ansatzweise in der Lage sind, dies verstehen zu können – oder begreifen zu WOLLEN – liegt in ihrer Natur.
Annie Schmidts frühe Texte in „Het parool,“ aber auch in den Buchveröffentlichungen, waren zumeist von Wim Bijmoer (1914-2000) bebildert worden; nicht nur in der Zeitung, sondern auch in den Buchveröffentlichungen; angefangen mit ihrem ersten Band mit Kindergedichten, „Het fluitketeltje“ von 1950 (meine eigene Ausgabe des kleinen Büchleins - „Het beroemdste versjesboek, met de échte plaatjes“ - ist die 18. Auflage von 1991). Bijmoer war nicht nur Annie Schmidts Redaktionskollege bei der Zeitung; es gehörte auch mit ihr zu der Kabaretttruppe „De inktvis“ (Der Tintenfisch), die sich 1948 aus diesem Stab formiert hatte und für die Schmidt zahlreiche Liedertexte lieferte – was wiederum zu zahlreichen anderen Aufträgen wie etwa den Drehbucharbeiten für die niederländische Rundfunkserie „In Holland staat een huis“ (allgemein bekannt als „De familie Doorsnee,“ 1952-58) und die erste Situationskomödie im niederländischen Fernsehen, „Pension Hommeles“ (1957-59) führte. Die beiden niederländischen Beiträge für den allerersten „Eurovision Song Contest,“ ausgetragen im Mai 1956 in Lugano im Tessin, Jetty Paerls „De vogels van Holland“ und Corry Brokkens „Voorgoed voorbij“ (nach den Regeln dieses ersten „Grand Prix de la chanson europeenne“ durfte jedes der sieben teilnehmenden Länder zweimal auftreten, um auf eine abendfüllende Vorstellung zu kommen), waren nach Texten von Annie Schmidt komponiert worden. Angesichts solcher Aufträge wird verständlich, warum sie sich mit Beginn des Jahres 1958 entschlossen hat, sich von der Arbeitsbelastung durch die Redaktionstätigkeit freizumachen.
Der erste Buch-Nachdruck von „De heerlijkste 5 december in vijfhondertvierenzeventig jaar“ ist in der oben genannten Sammlung „Misschien wel echt gebeurd“ erfolgt; als eigenständiges kleines Bilderbüchlein (mit einem Umfang von 27 Seiten) ist es mit den Zeichnungen von Fiep Westendorp 2004 von Querido herausgebracht worden. Ebenfalls bei Querido ist 2020 eine großformatige Bilderbuchfassung mit Illustrationen von Noëlle Smit (geb. 1972 in Alkmaar) erschienen, der ich die vollfarbigen Zeichnungen oben entnommen habe (ISBN 978-904513076-7, gebunden, 32 S., Format DIN B5; € 9,95; die 3. Auflage ist am 31. Oktober 2024 vom Verlag ausgeliefert worden).
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„… werf’ ich dich ‘raus”: Beim Übertragen aus dem Niederländischen etwa ins Deutsche muß der Übersetzer oft – aber nicht immer – ein höheres rhetorisches Register ziehen als das Original zu bieten hat, das, wenn es man rein wörtlich nimmt, erheblich salopper daherkommt. „Iemand ontslaan“ bedeutet zwar schlicht „entlassen,“ das trifft aber nicht den Tonfall, der hier zwischen Herr und Knecht anklingt.
„Das Dampfboot“: üblicherweise schlagen Wörterbücher für das „stoomboot“ des Originals den „Dampfer“ vor (ganz im Sinne von Ringelnatz: „… der arme Sauerampfer / sah Eisenbahn um Eisenbahn / Sah niemals einen Dampfer“). Weil aber die frühen Illustratoren von Jan Schenkmans Text anläßlich der Ankunft in Amsterdam ausnahmslos einen mit Sicherheit nicht-hochseetüchtigen Raddampfer zeigen, habe ich mich im Sinne von Fontanes „John Maynard“ für die ältere deutsche Version entschieden.
Daß der heilige Nikolaus in der niederländischen Tradition aus Spanien herüberkommt (statt vom Nordpol wie in der amerikanischen Folklore, die durch die Zeichungen von Thomas Nast für die amerikanische Zeitschrift "Harper's Weekly" in den 1870er und 1880er Jahren erfunden worden ist), verdankt sich einem historischen Zufall: die italienische Hafenstadt Bari, die durch die Überführung der Reliquien aus dem kleinasiatischen Myra im Jahr 1087 zu einem bedeutenden Wallfahrtsort aufstieg, gehörte von 1504 bis 1714 als Teil des Königreichs Neapel zum Habsburgerreich und damit zu Spanien. Niederländische Seefahrer, die nach der Anerikennung der Unabhängigkeit der Niederlande nach dem achtzigjährigen Krieg durch den Frieden von Münster von 1648 mit den spanischen Häfen Handel trieben, erfhuren so, daß sein Wallfahrtsort und der Wirkungsbereich seines segenvollen Einflusses auf spanischem Gebiet lag. Das Dampfboot, mit dem er die Überfahrt zurücklegt, ist von Jan Schenkman in seinem Bilderbuch "Sint Nikolaas en zijn knecht" von 1850 als seinerzeit modernstes Transportmittel der Geschichte hinzugefügt worden. Schenkman (1806-1863), im Zivilstand Lehrer an einer Privatschule in Amsterdam ("particuliere scholen" sind Schulen, die nicht in staatlicher, sondern kirchlicher, sonstiger konfessioneller oder privater Trägerschaft stehen), der nach der Beteiligung an den Aufständen des Jahres 1848 in Amsterdam entlassen worden war, fristet anschließend seinen Lebensunterhalt mit dem Verfassen von Kinderbüchern. Er hat auch Sinterklaas' Gehilfen, den in den ersten Ausgaben noch nicht so genannten schwarzen Piet hinzugefügt. In dieser Version treten die beiden den Heimflug allerdings noch zeitbedingt in einem Ballon an.
(Ankunft und Abreise aus der ersten Ausgabe von "Sint Nikolaas en zijn knecht," G. Theod. Bom, Amsterdam 1850)
Der Übersetzer ist sich durchaus bewußt, daß Annie Schmidts kleine Erzählung "eigentlich" auf den Tag des hl. Nikolaus, den 6. (oder 5. Dezember) gemünzt ist. Dieses Changieren im Datum, das sich ja auch beim Beginn des Weihnachtsfestes am 24. oder 25. Dezember zeigt, verdankt sich dem antiken Brauch, den folgenden Tag schon ab dem Sonnenuntergang zu zählen. In den Niederlanden ist der 6. Dezember bis heute traditionelle Tag, an dem die "große Gabenflut" erfolgt. Da diese Aufgabe im Laufe des 19. Jahrhunderts im deutschen und englischen Sprachraum an den Weihnachtsmann delegiert worden ist - und in dessen Nachfolge an das "Christkind," das es als "christ child" im Englischen so nicht gibt -, habe ich mir erlaubt, ihn mir für die heutige Gelegenheit aufzusparen.
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Zettels Raum wünscht allen Lesern ein friedliches, entspanntes und von allen Mißhelligkeiten des Zeitlaufs verschontes Weihnachtsfest.
U.E.
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