Der erste Gedanke, der Nielsen durch den Kopf schoß, als der weiße Tropenhelm in seinem Blickfeld auftauchte, war, daß ihn jetzt ein ausländischer Reisender besuchen wollte. Das hätte ihn überrascht, denn soweit er wußte, hielten sich in der chinesischen Stadt Laopao ausschließlich Chinesen auf; er selbst bildete die Ausnahme. Es war etwas, das er nicht verdrängen konnte: auf allen Straßen scharten sich Menschenmengen um ihn, als ob er eine Art Fabelwesen wäre, das es aus der Zukunft in die Vergangenheit verschlagen hätte. Als der Besucher die Eingangsstufen erreicht hatte, wurde Nielsen freilich klar, daß ihn die helle Farbe des Tropenhelms genarrt hatte; es war nur ein Besucher, wie man ihm in Laopao erwarten konnte: ein junger chinesischer Geschäftsmann. Nielsen, der aus Minnesota stammte, besaß ein geschäftsmäßiges, freundliches Temperamt, und er wälzte sofort seine stämmigen Beine von dem Liegestuhl, auf dem er lag, um seinen Gast zu begrüßen. In seinen großen, hungrigen, leicht vorstehenden Augen blitzte es erwartungsvoll.
Das Gesicht des Neuankömmlings stand in markantem Gegensatz zum den perfekten Rundungen des Tropenhelms: es war schwermütig; die Wangenknochen verliehen ihm etwas Trauriges, obwohl (da es sich um ein chinesisches Gesicht handelte) keine Falten ihre Spur der Enttäuschung dort hinterlassen hatten.
"Sie werden mich sicher für sehr dreist erachten," sagte der Besucher. "Doch wenn ich Ihnen die Umstände erkläre, dann hoffe ich, daß Sie mir nachsehen, Sie ohne Einladung aufgesucht zu haben. Mein Name ist Chin Yuting; von Beruf bin ich Bankangestellter." Er sah Nielsen an, als erwarte er, umstandslos die Eingangsstufen huntergeworfen zu werden. Aber Nielsen war ehrlich über jede Gesellschaft erfreut, gleich unter welchen Umständen. Er hatte stets viel mitzuteilen, und für gewöhnlich niemanden, dem er es mitteilen konnte. Jahre der Einsamkeit hatten seinen Vorrat an Worten reifen lassen wie Wein in einer Flasche, und wenn der Korken dann einmal gezogen wurde, sprudelte seine Weisheit aus ihm hervor wie ein Nektar, an dem jedermann teilhaben durfte. Kein Tropfen wurde vergeudet; mitunter ließ er sogar seine geduldigen chinesischen Dienstboten daran teilhaben, oder träufelte sie in die Briefe über soziale und moralische Fragestellungen, die er den Shanghaier Zeitungen zusandte. Es störte ihn nicht, daß seine Freigiebigkeit bei den Tröpfen, Zynikern und Gecken nur auf taube Ohren traf. Er wußte, daß eine kostbares Naß in ausgetrockneten Wüsten spurlos versickert, aber er war überzeugt, daß Idealismus lobenswert und niemals wirklich verschwendet war. Nielsen hielt sich für jemanden, der Geistig Aufgeschlossen war und Staatsangelegenheiten Zu Beurteilen Wußte. Seine ausgreifende Weltläufigkeit hatte den engen geistigen Horizont von Jenkinsville, Minnesota, wo er aufgewachsen war, längst gesprengt, Selbst Minnesota, so schien es ihm oft, würde ihm jetzt wie ein Provinznest vorkommen, wo er doch Manila und Shanghai kannte und sich daran gewöhnt hatte, daß jedermann um ihn herum Chinesisch sprach und in Rikschas fuhr statt im Ford. Nielsen war stolz darauf, daß er kein Provinzler aus dem Mittleren Westen mehr war; er verachtete Leute, die keine Ideale pflegten und von nichts als Geld, Trinken, Weibern und Essen redeten. Mit solchen Nichtigkeiten kannte er sich natürlich nicht aus.
"Ich freue mich aufrichtig, Sie kennenzulernen, Herr Chin," sagte Nielsen. "Es gibt keinen Grund, warum Sie sich für Ihren Besuch entschuldigen sollten. Ich bin Amerikaner, wie Sie wissen, und Amerikaner geben nichts auf Förmlichkeiten und Zeremonien." Trotz seiner Selbsteinschätzung waren die Prinzipien, die ihn seine Schulbildung in Jenkinsville gelehrt hatte, in ihm noch präsent, wie die Kugeln alter Kriegsverletzungen im Körper verbleiben. Der Unterricht in Jenkinsville war keine Anleitung zum eigenständigen Denken gewesen - es war bloßer Unterricht. In Jenkinsville gab es sechsundzwanzig Personen - seine Klassenkameraden, soweit ihr Verstand halbwegs funktionierte - die exakt dasselbe dachten wie Nielsen, bis heute, obwohl die Zuchtmeisterin, die diese Hirne auf Linie gebracht hatte, ihr Werk vor fünfzehn Jahren beendet hatte. Demokratische Erziehung läßt sich nicht abschütteln: sie prägt dauerhaft.
"Ich werden Ihnen jetzt erklären," sagte Chin Yuting, "warum ich mir diese Freiheit erlaubt habe. Herr Nielsen: es war mir eine überaus große Freude, als ich gehört habe, daß Sie - ein Gentleman, der Englisch spricht - jetzt in Laopao wohnen. Seit drei Jahren lebe ich nun hier, mit bedrücktem Herzen. Ich stamme aus Peking; ich habe am Y--- Mission College studiert. Ich beherrsche die kantonesische Sprache, die man hier spricht, kaum. All diese Zeit über habe ich darauf gewartet, daß jemand nach Laopao kommt, mit dem ich mich in der Sprache von England oder Peking fließend unterhalten kann, mit dem ich über vergleichende Theologie diskutieren kann. Das ist mein liebstes Studiengebiet. Nach Laopao kommen französische Missionare - ich spreche kein Französisch. Deutsche Bergbauingenieure kommen auch - aber ich verstehe kein Deutsch. Ein Forschungsreisender aus Italien, der nach Tibet will - ein russischer Adliger auf der Flucht vor den Bolschewiken - kein Wort kann ich mit ihnen wechseln. Mein Herz bleibt stets allein, als wären meine Lippen stumm und meine Ohren taub. Und dann erfahre ich, daß ein Amerikaner hierher kommt, um ein Büro für Standard Oil zu eröffnen. Und mein Herz wird froh. Ich kenne zwar Amerika nicht und weiß nichts darüber zu sagen..."
Nielsen erkannte sofort, daß hier eine durstige Seele seiner Ideale harrte. "Aber Herr Chin," sagte er, "Sie verstehen uns Amerikaner da falsch. Mit Amerikanern brauchen Sie nicht über amerikanische Angelegenheiten zu reden. Ich weiß nicht, wie das im alten Europa ist, mit seinen verstaubten Traditionen der Alten Welt - aber Amerikaner sind schon immer Weltbürger gewesen. Amerikaner sind es gewohnt, international zu denken. an die Höherentwicklung, an die Menschheit, an Ideale ... Wenn Sie einen Amerikaner sehen, dürfen Sie sich darauf verlassen, daß er irgendwo hinter seiner runden Hornbrille vornehme Ideale pflegt. Eins kann ich Ihnen schon jetzt sagen: wenn wir uns zusammensetzen, reden wir nicht über Kleinstadttratsch - wir werden uns über die Wichtigen Dinge des Lebens unterhalten. Amerikaner brennen darauf, die Geheimnisse des Universums zu ergründen. Vergleichende Theologie ... na ja, ich muß zugeben, daß das nicht so sehr mein Fall ist. Theologie und die ganzen anderen -Ologien und -Osophien: das überlasse ich lieber den engstirnigen Professoren, die keine Ahnung von dem haben, was außerhalb ihres Hörsaals vorgeht. Ich habe meine eigene Religion und meine eigene Philosophie, Herr Chin, eine ganz schlichte, und ihr Motto lautet: Sei Du SELBST, So Gut Es Geht und Hilf Deinem Nächsten, ER Selbst Zu Sein. MEINE Theologie ist die Menschheit - die SEELE zählt, und das, was hinter der Seele steckt. Ich bin der Herr und Meister - kennen Sie diese schönen Zeilen von einem unserer amerikanischen Dichter?"
"Ja," sagte Herr Chin schnell, aber ohne Ironie. "Natürlich kenne ich sie. Sie stammen von William Ernest Henley, der, glaube ich, ein englischer Dichter war."
"Ich bin der Herr und Meister meiner Ziele," intonierte Nielsen, der sich von seinem Zitat nicht abbringen ließ, und Chin Yuting fiel in die nächste Zeile ein: "Ich bleibe meiner Seele Kapitän." Einen Augenblick lang verharrten sie höchst meisterhaft und kapitänsgleich.
"Strenggenommen," sagte Chin Yuting, "sind solche Einstellungen zwar edel, aber man sollte sie nicht Theologie nennen. Mich interessiert - "
"Ach, Amerikaner geben nichts auf Bezeichnungen," sagte der aufgewühlte Nielsen. "Amerikaner denken für sich selbst, ganz egal, welche Bezeichnungen die dekadenten sogenannten Denker in der Alten Welt sich da ausgedacht haben."
"Wie aufregend ist es doch, solche großen Themen auf so angeregte Art zu erörtern," sagte Herr Chin mit leisem Lachen. "Ich fühlte mich jetzt schon erfrischt, wie ein Kamel, das lange durch die Wüste gewandert ist, bevor es zu einer Oase gelangt. Denn wahrhaft, Herr Nielsen - wenn ich solche interessanten Männer durch Laopao kommen gesehen habe, die mir vielleicht sogar bei meinem Studium der Theologie hätten helfen könnten, und mit denen ich kein Wort wechseln konnte - habe ich mich oft an die schönen Worte eines anderen englischen Dichters, nämlich S. T. Coleridge, erinnert: 'Wasser, Wasser überall - und kein Fleck, um zu trinken.' Ich habe oft gedacht - "
"Ah, das rührt an meins meiner besonderen Ideale," rief Nielsen. "Ich glaube, ich kann Ihnen hier helfen. Ich bin überzeugt, unser Treffen hier wird Resultate haben - wird einen Funken entzünden, so wie es sein sollte. Unser Zusammentreffen dient einem höheren Zweck; Herr Chin, ich habe das von Anfang an gespürt. Hören Sie gut zu: haben Sie schon einmal von Universalsprachen gehört? Universalsprachen sind ein ganz besonderes Interessengebiet von mir. Jedermann, dem die brüderlich vereinte Menschheit am Herzen liegt, sollte sich dafür interessieren. Hören Sie -"
"Ich habe Englisch gelernt," sagte Herr Chin, "weil man mir gesagt daß, daß das bereits die Weltsprache ist."
"Sie haben noch nie von Tchotl gehört, nehme ich an?" fragte Nielsen.
Der Strom von Chin Yutings Protest verdunstete abrupt und schrumpfte zu einer kurzen Silbe zusammen. "Nein," sagte er leise.
"Ich wundere mich, daß Sie noch nie von Tchotl gehört haben," sagte Nielsen, der seinerseits kurz aus dem Takt gekommen war. "Was ich sagen wollte ... ich bin ja niemand Bedeutendes, aber eins kann ich mir gutschreiben - und ich bin stolz darauf: ich stamme aus jener großartigen Kleinstadt, Jenkinsville in Minnesota - wo Tchotl entstanden ist - und daß ich von Anfang an Teil dieser Unvergleichlichen Weltweiten Bewegung gewesen bin, und daß ihre berühmten Begründer - Trent C. Howells und Oscar T. Lame - meine persönlichen Freunde sind. Und weiter - "
"Ich habe Ihnen schon zu Beginn gesagt, daß ich nichts von amerikanischen Angelegenheiten verstehe, Herr Nielsen," sagte Herr Chin. "Und zu meinem Unglück weiß ich noch weniger von - "
"Tchotl ist ganz ausdrücklich KEINE amerikanische Angelegenheit. Das Wesen, der tiefste Sinn von Tchotl liegt in seiner leuchtenden Universalität. Tchotl ist die Wahre Weltsprache. Sein Name, das werden Sie bemerkt haben, ist eine sinnreiche Kombination der Initialen ihrer Erfinder, Trent Carlos Howells und Oscar Tetworth Lambie - und ich bin absolut davon überzeugt, daß einst der Tag kommen wird, wenn die Namen dieser beiden Männer in Gold geprägt neben den Namen von Moses, Thomas Becket, Emerson, Konfuzius, George Washington, Homer, Mary Baker Eddy, Shakespeare und anderen Weltreformern prangen werden. Tchotl ist - "
"Aber wird es denn wirklich von vielen Sprechern..."
"Tchotl verfügt über eine überragende Bruderschaft von Weltdenkern. Sie hat einen Agenten - oder einen Vertreter - oder einen Apostel - nennen Sie die, wie Sie wollen - in jedem Land der Welt. Glauben Sie mir, Herr Chin, als ich das letzte Mal mit dem alten Tet (das ist O. T. Lambie) gesprochen habe, sagte er mir, daß Tschotl mittlerweile sogar in Montenegro vertreten ist, als Ergebnis einer überaus erfolgten Europareise einer jungen Dame aus Jenkinsville namens Mrs. Zinnia Putney Wicketts, deren unvergleichliche Eloquenz überall ein lebhaftes Interesse an Tchotl geweckt hat - "
"Aber könnte ein Tchotl-Sprecher in, sagen wir, Laopao denn sicher sein - "
"Der Grund, aus dem Tchotl so einen weltweiten Reiz ausübt, liegt darin, daß sein Prinzip so absolut einfach ist. Ein Kind versteht es ebensogut wie der gebildetste Gelehrte. In Tchotl gibt es keine Wörter, die länger als eine Silbe sind, und es gibt keine Konsonanten oder Vokale, die nicht allen Sprachen der Welt gemein sind. Zudem - und darin liegt die Einzigartigkeit von Tchotl, Herr Chin - werden beim Sprechen nicht nur die Lippen eingesetzt, sondern auch die Finger. Zum Beispiel - Ta, eine der Hauptsilben, bedeutet: alles, was lebt ... wenn ich einen Finger hebe und Ta sage, bedeutet das Mensch - zwei Finger: ein nichtmenschliches Säugetier - drei: irgendeine Vogelart - und so weiter, Und wenn - "
"Und wenn Sie auch noch den Daumen heben?" fragte Chin Yuting, dem fast die Augen aus dem Kopf sprangen.
"Nun ja...dann sind Sie bei den kleineren Saurierarten angelangt, soweit ich das noch ohne Lehrbuch weiß," sagte Nielsen leicht verwirrt. "Ich will nicht behaupten, daß ich völlig sattelfest bin, obwohl ich mich natürlich in meiner Freizeit damit beschäftige. Ich habe oben in meinem Büro noch ein zweites Lehrbuch zur Verfügung, und es würde mich wirklich freuen, Herr Chin, wenn ich Sie als Mitglied und Schüler anwerben könnte. Ich könnte Ihnen die ersten Lehrstunden geben und Ihnen dann die Einführung verkaufen - sie kostet nur fünf Dollar, und alle Erlöse dienen der Verbreitung der herrlichen Mission der Weltverständigung. Und Sie hätten den Vorteil, daß Sie der beste Tchotl-Sprecher in Laopao wären - der Erste aus diesem verschlafenen Nest, der sich der größten Weltbewegung unserer Tage anschließt."
"Das ist in der Tat ein überwältigender Gedanke," sagte Chin Yuting. "In einem einzigen Sprung über sämtliche Sprachbarrieren hinwegzusetzen. Auf solch einfache Weise mit dem Universum in Verkehr zu treten - das dürfte wohl fünf Golddollar wert sein - (dreizehn Dollar und zwanzig Cent in der Währung von Laopao). Wie lange, denken Sie, würde ich brauchen, um zu einem perfekten Sprecher von Tchotl zu werden, damit ich (beispielsweise) Vergleichende Theologie mit einem Professor in (beispielsweise) Montenegro auf Tchotl bespechen könnte?"
"Drei Monate intensiver Studien sollten ausreichen. Der alte Tet hat mir einmal erzählt, daß seine beste Schülerin - eine Dame aus Jenkinsville, die zur Gemeinde der Christian Science gehört - die Grundbegriffe nach drei Lehrstunden beherrschte und nach zwei Wochen Tchotl wie ein Einheimischer schwätzen konnte - wie ein Weltbürger, meine ich natürlich - aber das ist natürlich die Ausnahme. Mein lieber Freund, es macht mich stolz, Sie so begeistert zu sehen - ich freue mich, daß ich Ihr Lehrer für Tchotl sein darf - als Freund natürlich, Herr Chin, nur als Freund. Sie brauchen mich also für den Unterricht nicht zu bezahlen, so zwischen Freunden wie Sie und ich es sind. Fünf Dollar für das Lehrbuch - das ist alles, was Sie Tchotl kosten wird - und das ist günstig - das ist ein geringer Preis, um der universellen Bruderschaft beizutreten - eine Versicherung gegen den seelenvernichtenden Nationalismus unserer Tage, wie Trent Howells immer sagt - "
Chin Yuting konnte seine Begeisterung kaum zügeln. "Lassen Sie mich dieses Buch bei erster Gelegenheit sehen, Herr Nielsen. Lassen Sie mich die erste Lektion wiederholen."
"Ich hole es sofort," sagte Nielsen.
Als er auf dem Weg nach oben durch den Flur kam, sah er, daß die Post gekommen war. Für einen Moment vergaß er seinen eifrigen Schüler und beugte sich über den kleinen Stapel von Briefen und Zeitungen, dieses Lebenselixir aller Exilanten. Er schlug eine der Zeitungen von zuhause auf - den Jenkinsville Morning Examiner - und überflog die Schlagzeilen, während er langsam die Treppe hinaufstieg.
"Howells Mit Neuem Floh im Ohr", verkündete eine kleingehaltene Überschrift in der Rubrik "Lokales Allerlei" im Plauderton. "Trent C. Howells und sein Teilhaber Oscar Trentworth Lambie gestanden heute ein, daß ihr Projekt für eine Weltsprache ein Fiasko war. Trent zeigte sich heute morgen im Gespräch mit unserer Zeitung als guter Verlierer, der das Ende seiner Welt-Traums mit einem Lachen quittierte. 'Da gibt es nichts schönzureden,' gestand er freimütig ein. 'Unsere Mitgliederzahlen sind dramatisch zurückgegangen - vor allem nachdem Fräulein Zinnia P. Wicketts, der wir soviel verdanken, ihr Interesse verlor und sich dem Studium der byzantischen Baukunst zugewendet hat. Dreitausendneunhundertundzwölf Sprachlehrer, Sozialreformer und Logopäden haben unseren Fragebogen ignoriert, den wir vor sechs Monaten in alle Welt verschickt haben, um Tchotl zu fördern - und wir haben nur neun Lehrbücher verkauft - abgesehen von den achthundertsechzig, die wir kostenlos verteilt haben - eine brilliante Werbemaßnahme, die leider ohne jede Reaktion blieb. Tet (Oscar T. Lambie) und ich sind immer noch der festen Überzeugung, daß wir eine kapitale Idee verfolgt haben, als wir Tchotl entwickelt haben - aber die Welt ist nicht bereit für einen solchen Schritt - und das verweichlichte Europa hat sich gegen uns verschworen; dafür haben wir Beweise. Das ist alles Teil einer finsteren aristokratischen Verschwörung gegen die freie aufgeklärte Demokratie. Aber es nützt nichts. Von einem toten Pferd soll man absteigen, und Tet und ich wissen, wann wir verloren haben. Wir lassen es schlicht sein. Aber wir geben natürlich nicht auf: wir haben einen revolutionären Plan, der ein ganz neues wirtschaftliches Zeitalter eröffnen wird. Ich kann momentan noch nicht zuviel darüber verraten, ich frage nur soviel: haben Sie schon mal darüber nachgedacht, warum wir soviel Geld für Nahrungdsmittel ausgeben müssen - Fisch einführen, Weizen ausführen, Dosenspargel exportieren - während jeder von uns die ganze Zeit über direkt unter unseren Schuhsohlen -' Aber an dieser Stelle bemerkte Trent meinen neugierigen Blick und sagte nichts weiter. 'Oh nein, Sir,' lachte er. 'Sie werden mir das Geheimnis nicht entlocken. Die Welt wird bald alles darüber erfahren, wenn wir alle Details geklärt haben. Aber ich kann ihnen jetzt schon verraten, daß es eine ganz große Sache ist, und die größte aller Zeiten, was die Wirtschaft angeht. Tet und ich sitzen Tag und Nacht daran. Tchotl - das waren letztlich bloß Worte - aber hier geht es um Taten..."
Nielsen unterbrach seine Lektüre nur lang genug, um das Tchotl-Lehrbuch aus einer Schublade seines Schreibtischs zu holen, der Schwung seines Vorhabens hatte ihn so weit getrieben, bevor ihm aufging, welche Konsequenzen diese Meldung für seinen triumphalen Verkaufserfolg bedeutete. Immer noch grübelnd ging er die Treppe hinab. An der Wohnzimmertür blieb er kurz stehen. Für einen Sekundenbruchteil spielte sich vor seinem geistigen Auge eine unmögliche Szene ab, wie auf einer schlecht ausgeleuchteten Bühne: "Schauen Sie hier, Herr Chin, ich möchte, daß sie diese Meldung hier lesen. Ich nehme alles zurück..." Zurücknehmen? Die hehren Ideale einzusammeln - die rosigen Girlanden seiner Worte zusammenzuknüllen und in einem staubigen Winkel fortzuräumen - aufgeben und von vorne beginnen - und vor allem: etwas, das er erfolgreich verkauft hatte, zurückzunehmen ... jeder Instinkt in ihm sperrte sich gegen eine solche Zumutung. Worte waren sein Geschäft, seine Signatur - nichts durfte diese Spur seines Wirkens auslöschen. Worte waren Saatkörner, die er in die Seelen seiner Zuhörer pflanzte - es grenzte ja an Verrat, die aufkeimenden Sprößlinge auszureißen - Verrat am fruchtbaren Boden, Verrat am Sämann - jawohl: und nachgerade Lästerung des Hausherrn. Bestand nicht die ganze Pflicht des Menschen darin, Dinge Zu Vermitteln? Nielsen wandte seinen inneren Blick zum Gott des Vertreters und ihm ward die Gewißheit zuteil, daß seine höchste Dienstpflicht der Gelungene Verkauf war. Er trat ins Wohnzimmer. Herr Chin, dessen Hunger nach sofortiger allumfassender Brüderschaft durch das Warten noch angestachelt worden war, kam ihm entgegen und streckte die Hand nach dem Buch aus.
"Indem ich dieses Buch aufschlage," sagte Chin Yuting feierlich, "öffne ich auch die Tür zur Weltgesellschaft, Hinter dieser metaphorischen Tür stehen Tausende von Weltbrüdern bereit, so scheint es mir, und rufen - auf Tchotl - Willkommen, Bruder Chin! Bislang war ich taub und stumm durch das Übel der einen, der Nationalsprache, aber von nun an werde ich für alle Jahre frei sein von diesem Makel, und jedem, der nach Laopao gelangt, kann ich die Hand der Freiheit reichen und ihm auf Tchotl zurufen - Willkommen, Bruder! - öffne mir deine Gedanken und teile die meinen ..."
Nielsen zögerte nur lange genug, um die Zeitung um den Papierkorb fallen zu fallen. "Ich werde der Welt mitteilen, daß Sie recht haben, Bruder," sagte er.
* * *
"Tchotl" erschien 1932 in Stella Bensons Erzählungssammlung Christmas Formula and Other Stories, die im Londoner Verlag Joiner & Steele in the bibliophil aufgemachten Reihe The Furnival Books als Nr. 11 in einer Auflagenhöhe von 500 Exemplaren erschien. Die einzige auflagenstärkere Veröffentlichung erfolgte 1936 im postum erschienen Band Collected Short Stories (London: Macmillan). Als Textgrundlage für die Übersetzung diente das Examplar Nr. 43 der ersten Buchausgabe.
Das Name Laopao ist von Stella Benson erfunden; es gibt keine chinesische Stadt, die "alte Kanonen" - 老炮 - heißt; hinter dem im Auftakt umrissenen Ambiente verbirgt sich die Stadt Mengzi, 蒙自, im südlichen Yunnan, in der die Autorin in den 1920er Jahren lebte, zu Bensons Zeiten noch nach der alten französischen Translitation als Mengtz umschrieben. Diese oft recht divergenten Transliterationen waren (und sind) im Englischen als "post office names" geläufig. In der englischen Fassung ist die Schreibweise "Lao-pao"; die häufige Verwendung des Bindestrichs ist ein Kennzeichen der alten Wade-Giles-Transliteration; bei Namen aus Hongkong oder Singapur findet sie sich heute noch; ich habe mich nach der Usus der Pinyin-Umschreibung für die Kontraktion entschieden.
Herr Chin zitiert Coleridges "Rime of the Ancient Mariner" inkorrekt; statt "not a spot to drink" heißt es dort: "not a drop to drink." Die Schlußstrophe von W. E. Henleys 1875 veröffentlichtem Gedicht "Invictus" lautet:
It matters not how strait the gate,
How charged with punishments the scroll,
I am the master of my fate:
I am the captain of my soul.
Von den zu findenden Nachdichtungen im Deutschen befriedigt keine. Zwei Beispiele:
Egal, wie schmal der Grat wohl meines Strebens
War, genügend Strafen konnt´ ich nicht entgeh´n.
Dennoch: Ich bin der Lenker meines Lebens,
Ja, meiner Seele bin ich der Kapitän.
Was kümmert’s, daß der Himmel fern
und daß von Straf’ mein Buch erzähl’,
ICH bin der Meister meines Los´,
ICH bin der Captain meiner Seel’!
Mein erster tastender Versuch:
Ganz gleich, wie eng und schmal die Tür,
Wie hoch die Strafe, wenn ich fehle.
Mein Schicksal liegt allein bei mir:
Ich bin der Lenker meiner Seele.
Der erste Gedanke, der Nielsen durch den Kopf schoß, als der weiße Tropenhelm in seinem Blickfeld auftauchte, war, daß ihn jetzt ein ausländischer Reisender besuchen wollte. Das hätte ihn überrascht, denn soweit er wußte, hielten sich in der chinesischen Stadt Laopao ausschließlich Chinesen auf; er selbst bildete die Ausnahme. Es war etwas, das er nicht verdrängen konnte: auf allen Straßen scharten sich Menschenmengen um ihn, als ob er eine Art Fabelwesen wäre, das es aus der Zukunft in die Vergangenheit verschlagen hätte. Als der Besucher die Eingangsstufen erreicht hatte, wurde Nielsen freilich klar, daß ihn die helle Farbe des Tropenhelms genarrt hatte; es war nur ein Besucher, wie man ihm in Laopao erwarten konnte: ein junger chinesischer Geschäftsmann. Nielsen, der aus Minnesota stammte, besaß ein geschäftsmäßiges, freundliches Temperamt, und er wälzte sofort seine stämmigen Beine von dem Liegestuhl, auf dem er lag, um seinen Gast zu begrüßen. In seinen großen, hungrigen, leicht vorstehenden Augen blitzte es erwartungsvoll.
Das Gesicht des Neuankömmlings stand in markantem Gegensatz zum den perfekten Rundungen des Tropenhelms: es war schwermütig; die Wangenknochen verliehen ihm etwas Trauriges, obwohl (da es sich um ein chinesisches Gesicht handelte) keine Falten ihre Spur der Enttäuschung dort hinterlassen hatten.
"Sie werden mich sicher für sehr dreist erachten," sagte der Besucher. "Doch wenn ich Ihnen die Umstände erkläre, dann hoffe ich, daß Sie mir nachsehen, Sie ohne Einladung aufgesucht zu haben. Mein Name ist Chin Yuting; von Beruf bin ich Bankangestellter." Er sah Nielsen an, als erwarte er, umstandslos die Eingangsstufen huntergeworfen zu werden. Aber Nielsen war ehrlich über jede Gesellschaft erfreut, gleich unter welchen Umständen. Er hatte stets viel mitzuteilen, und für gewöhnlich niemanden, dem er es mitteilen konnte. Jahre der Einsamkeit hatten seinen Vorrat an Worten reifen lassen wie Wein in einer Flasche, und wenn der Korken dann einmal gezogen wurde, sprudelte seine Weisheit aus ihm hervor wie ein Nektar, an dem jedermann teilhaben durfte. Kein Tropfen wurde vergeudet; mitunter ließ er sogar seine geduldigen chinesischen Dienstboten daran teilhaben, oder träufelte sie in die Briefe über soziale und moralische Fragestellungen, die er den Shanghaier Zeitungen zusandte. Es störte ihn nicht, daß seine Freigiebigkeit bei den Tröpfen, Zynikern und Gecken nur auf taube Ohren traf. Er wußte, daß eine kostbares Naß in ausgetrockneten Wüsten spurlos versickert, aber er war überzeugt, daß Idealismus lobenswert und niemals wirklich verschwendet war. Nielsen hielt sich für jemanden, der Geistig Aufgeschlossen war und Staatsangelegenheiten Zu Beurteilen Wußte. Seine ausgreifende Weltläufigkeit hatte den engen geistigen Horizont von Jenkinsville, Minnesota, wo er aufgewachsen war, längst gesprengt, Selbst Minnesota, so schien es ihm oft, würde ihm jetzt wie ein Provinznest vorkommen, wo er doch Manila und Shanghai kannte und sich daran gewöhnt hatte, daß jedermann um ihn herum Chinesisch sprach und in Rikschas fuhr statt im Ford. Nielsen war stolz darauf, daß er kein Provinzler aus dem Mittleren Westen mehr war; er verachtete Leute, die keine Ideale pflegten und von nichts als Geld, Trinken, Weibern und Essen redeten. Mit solchen Nichtigkeiten kannte er sich natürlich nicht aus.
"Ich freue mich aufrichtig, Sie kennenzulernen, Herr Chin," sagte Nielsen. "Es gibt keinen Grund, warum Sie sich für Ihren Besuch entschuldigen sollten. Ich bin Amerikaner, wie Sie wissen, und Amerikaner geben nichts auf Förmlichkeiten und Zeremonien." Trotz seiner Selbsteinschätzung waren die Prinzipien, die ihn seine Schulbildung in Jenkinsville gelehrt hatte, in ihm noch präsent, wie die Kugeln alter Kriegsverletzungen im Körper verbleiben. Der Unterricht in Jenkinsville war keine Anleitung zum eigenständigen Denken gewesen - es war bloßer Unterricht. In Jenkinsville gab es sechsundzwanzig Personen - seine Klassenkameraden, soweit ihr Verstand halbwegs funktionierte - die exakt dasselbe dachten wie Nielsen, bis heute, obwohl die Zuchtmeisterin, die diese Hirne auf Linie gebracht hatte, ihr Werk vor fünfzehn Jahren beendet hatte. Demokratische Erziehung läßt sich nicht abschütteln: sie prägt dauerhaft.
"Ich werden Ihnen jetzt erklären," sagte Chin Yuting, "warum ich mir diese Freiheit erlaubt habe. Herr Nielsen: es war mir eine überaus große Freude, als ich gehört habe, daß Sie - ein Gentleman, der Englisch spricht - jetzt in Laopao wohnen. Seit drei Jahren lebe ich nun hier, mit bedrücktem Herzen. Ich stamme aus Peking; ich habe am Y--- Mission College studiert. Ich beherrsche die kantonesische Sprache, die man hier spricht, kaum. All diese Zeit über habe ich darauf gewartet, daß jemand nach Laopao kommt, mit dem ich mich in der Sprache von England oder Peking fließend unterhalten kann, mit dem ich über vergleichende Theologie diskutieren kann. Das ist mein liebstes Studiengebiet. Nach Laopao kommen französische Missionare - ich spreche kein Französisch. Deutsche Bergbauingenieure kommen auch - aber ich verstehe kein Deutsch. Ein Forschungsreisender aus Italien, der nach Tibet will - ein russischer Adliger auf der Flucht vor den Bolschewiken - kein Wort kann ich mit ihnen wechseln. Mein Herz bleibt stets allein, als wären meine Lippen stumm und meine Ohren taub. Und dann erfahre ich, daß ein Amerikaner hierher kommt, um ein Büro für Standard Oil zu eröffnen. Und mein Herz wird froh. Ich kenne zwar Amerika nicht und weiß nichts darüber zu sagen..."
Nielsen erkannte sofort, daß hier eine durstige Seele seiner Ideale harrte. "Aber Herr Chin," sagte er, "Sie verstehen uns Amerikaner da falsch. Mit Amerikanern brauchen Sie nicht über amerikanische Angelegenheiten zu reden. Ich weiß nicht, wie das im alten Europa ist, mit seinen verstaubten Traditionen der Alten Welt - aber Amerikaner sind schon immer Weltbürger gewesen. Amerikaner sind es gewohnt, international zu denken. an die Höherentwicklung, an die Menschheit, an Ideale ... Wenn Sie einen Amerikaner sehen, dürfen Sie sich darauf verlassen, daß er irgendwo hinter seiner runden Hornbrille vornehme Ideale pflegt. Eins kann ich Ihnen schon jetzt sagen: wenn wir uns zusammensetzen, reden wir nicht über Kleinstadttratsch - wir werden uns über die Wichtigen Dinge des Lebens unterhalten. Amerikaner brennen darauf, die Geheimnisse des Universums zu ergründen. Vergleichende Theologie ... na ja, ich muß zugeben, daß das nicht so sehr mein Fall ist. Theologie und die ganzen anderen -Ologien und -Osophien: das überlasse ich lieber den engstirnigen Professoren, die keine Ahnung von dem haben, was außerhalb ihres Hörsaals vorgeht. Ich habe meine eigene Religion und meine eigene Philosophie, Herr Chin, eine ganz schlichte, und ihr Motto lautet: Sei Du SELBST, So Gut Es Geht und Hilf Deinem Nächsten, ER Selbst Zu Sein. MEINE Theologie ist die Menschheit - die SEELE zählt, und das, was hinter der Seele steckt. Ich bin der Herr und Meister - kennen Sie diese schönen Zeilen von einem unserer amerikanischen Dichter?"
"Ja," sagte Herr Chin schnell, aber ohne Ironie. "Natürlich kenne ich sie. Sie stammen von William Ernest Henley, der, glaube ich, ein englischer Dichter war."
"Ich bin der Herr und Meister meiner Ziele," intonierte Nielsen, der sich von seinem Zitat nicht abbringen ließ, und Chin Yuting fiel in die nächste Zeile ein: "Ich bleibe meiner Seele Kapitän." Einen Augenblick lang verharrten sie höchst meisterhaft und kapitänsgleich.
"Strenggenommen," sagte Chin Yuting, "sind solche Einstellungen zwar edel, aber man sollte sie nicht Theologie nennen. Mich interessiert - "
"Ach, Amerikaner geben nichts auf Bezeichnungen," sagte der aufgewühlte Nielsen. "Amerikaner denken für sich selbst, ganz egal, welche Bezeichnungen die dekadenten sogenannten Denker in der Alten Welt sich da ausgedacht haben."
"Wie aufregend ist es doch, solche großen Themen auf so angeregte Art zu erörtern," sagte Herr Chin mit leisem Lachen. "Ich fühlte mich jetzt schon erfrischt, wie ein Kamel, das lange durch die Wüste gewandert ist, bevor es zu einer Oase gelangt. Denn wahrhaft, Herr Nielsen - wenn ich solche interessanten Männer durch Laopao kommen gesehen habe, die mir vielleicht sogar bei meinem Studium der Theologie hätten helfen könnten, und mit denen ich kein Wort wechseln konnte - habe ich mich oft an die schönen Worte eines anderen englischen Dichters, nämlich S. T. Coleridge, erinnert: 'Wasser, Wasser überall - und kein Fleck, um zu trinken.' Ich habe oft gedacht - "
"Ah, das rührt an meins meiner besonderen Ideale," rief Nielsen. "Ich glaube, ich kann Ihnen hier helfen. Ich bin überzeugt, unser Treffen hier wird Resultate haben - wird einen Funken entzünden, so wie es sein sollte. Unser Zusammentreffen dient einem höheren Zweck; Herr Chin, ich habe das von Anfang an gespürt. Hören Sie gut zu: haben Sie schon einmal von Universalsprachen gehört? Universalsprachen sind ein ganz besonderes Interessengebiet von mir. Jedermann, dem die brüderlich vereinte Menschheit am Herzen liegt, sollte sich dafür interessieren. Hören Sie -"
"Ich habe Englisch gelernt," sagte Herr Chin, "weil man mir gesagt daß, daß das bereits die Weltsprache ist."
"Sie haben noch nie von Tchotl gehört, nehme ich an?" fragte Nielsen.
Der Strom von Chin Yutings Protest verdunstete abrupt und schrumpfte zu einer kurzen Silbe zusammen. "Nein," sagte er leise.
"Ich wundere mich, daß Sie noch nie von Tchotl gehört haben," sagte Nielsen, der seinerseits kurz aus dem Takt gekommen war. "Was ich sagen wollte ... ich bin ja niemand Bedeutendes, aber eins kann ich mir gutschreiben - und ich bin stolz darauf: ich stamme aus jener großartigen Kleinstadt, Jenkinsville in Minnesota - wo Tchotl entstanden ist - und daß ich von Anfang an Teil dieser Unvergleichlichen Weltweiten Bewegung gewesen bin, und daß ihre berühmten Begründer - Trent C. Howells und Oscar T. Lame - meine persönlichen Freunde sind. Und weiter - "
"Ich habe Ihnen schon zu Beginn gesagt, daß ich nichts von amerikanischen Angelegenheiten verstehe, Herr Nielsen," sagte Herr Chin. "Und zu meinem Unglück weiß ich noch weniger von - "
"Tchotl ist ganz ausdrücklich KEINE amerikanische Angelegenheit. Das Wesen, der tiefste Sinn von Tchotl liegt in seiner leuchtenden Universalität. Tchotl ist die Wahre Weltsprache. Sein Name, das werden Sie bemerkt haben, ist eine sinnreiche Kombination der Initialen ihrer Erfinder, Trent Carlos Howells und Oscar Tetworth Lambie - und ich bin absolut davon überzeugt, daß einst der Tag kommen wird, wenn die Namen dieser beiden Männer in Gold geprägt neben den Namen von Moses, Thomas Becket, Emerson, Konfuzius, George Washington, Homer, Mary Baker Eddy, Shakespeare und anderen Weltreformern prangen werden. Tchotl ist - "
"Aber wird es denn wirklich von vielen Sprechern..."
"Tchotl verfügt über eine überragende Bruderschaft von Weltdenkern. Sie hat einen Agenten - oder einen Vertreter - oder einen Apostel - nennen Sie die, wie Sie wollen - in jedem Land der Welt. Glauben Sie mir, Herr Chin, als ich das letzte Mal mit dem alten Tet (das ist O. T. Lambie) gesprochen habe, sagte er mir, daß Tschotl mittlerweile sogar in Montenegro vertreten ist, als Ergebnis einer überaus erfolgten Europareise einer jungen Dame aus Jenkinsville namens Mrs. Zinnia Putney Wicketts, deren unvergleichliche Eloquenz überall ein lebhaftes Interesse an Tchotl geweckt hat - "
"Aber könnte ein Tchotl-Sprecher in, sagen wir, Laopao denn sicher sein - "
"Der Grund, aus dem Tchotl so einen weltweiten Reiz ausübt, liegt darin, daß sein Prinzip so absolut einfach ist. Ein Kind versteht es ebensogut wie der gebildetste Gelehrte. In Tchotl gibt es keine Wörter, die länger als eine Silbe sind, und es gibt keine Konsonanten oder Vokale, die nicht allen Sprachen der Welt gemein sind. Zudem - und darin liegt die Einzigartigkeit von Tchotl, Herr Chin - werden beim Sprechen nicht nur die Lippen eingesetzt, sondern auch die Finger. Zum Beispiel - Ta, eine der Hauptsilben, bedeutet: alles, was lebt ... wenn ich einen Finger hebe und Ta sage, bedeutet das Mensch - zwei Finger: ein nichtmenschliches Säugetier - drei: irgendeine Vogelart - und so weiter, Und wenn - "
"Und wenn Sie auch noch den Daumen heben?" fragte Chin Yuting, dem fast die Augen aus dem Kopf sprangen.
"Nun ja...dann sind Sie bei den kleineren Saurierarten angelangt, soweit ich das noch ohne Lehrbuch weiß," sagte Nielsen leicht verwirrt. "Ich will nicht behaupten, daß ich völlig sattelfest bin, obwohl ich mich natürlich in meiner Freizeit damit beschäftige. Ich habe oben in meinem Büro noch ein zweites Lehrbuch zur Verfügung, und es würde mich wirklich freuen, Herr Chin, wenn ich Sie als Mitglied und Schüler anwerben könnte. Ich könnte Ihnen die ersten Lehrstunden geben und Ihnen dann die Einführung verkaufen - sie kostet nur fünf Dollar, und alle Erlöse dienen der Verbreitung der herrlichen Mission der Weltverständigung. Und Sie hätten den Vorteil, daß Sie der beste Tchotl-Sprecher in Laopao wären - der Erste aus diesem verschlafenen Nest, der sich der größten Weltbewegung unserer Tage anschließt."
"Das ist in der Tat ein überwältigender Gedanke," sagte Chin Yuting. "In einem einzigen Sprung über sämtliche Sprachbarrieren hinwegzusetzen. Auf solch einfache Weise mit dem Universum in Verkehr zu treten - das dürfte wohl fünf Golddollar wert sein - (dreizehn Dollar und zwanzig Cent in der Währung von Laopao). Wie lange, denken Sie, würde ich brauchen, um zu einem perfekten Sprecher von Tchotl zu werden, damit ich (beispielsweise) Vergleichende Theologie mit einem Professor in (beispielsweise) Montenegro auf Tchotl bespechen könnte?"
"Drei Monate intensiver Studien sollten ausreichen. Der alte Tet hat mir einmal erzählt, daß seine beste Schülerin - eine Dame aus Jenkinsville, die zur Gemeinde der Christian Science gehört - die Grundbegriffe nach drei Lehrstunden beherrschte und nach zwei Wochen Tchotl wie ein Einheimischer schwätzen konnte - wie ein Weltbürger, meine ich natürlich - aber das ist natürlich die Ausnahme. Mein lieber Freund, es macht mich stolz, Sie so begeistert zu sehen - ich freue mich, daß ich Ihr Lehrer für Tchotl sein darf - als Freund natürlich, Herr Chin, nur als Freund. Sie brauchen mich also für den Unterricht nicht zu bezahlen, so zwischen Freunden wie Sie und ich es sind. Fünf Dollar für das Lehrbuch - das ist alles, was Sie Tchotl kosten wird - und das ist günstig - das ist ein geringer Preis, um der universellen Bruderschaft beizutreten - eine Versicherung gegen den seelenvernichtenden Nationalismus unserer Tage, wie Trent Howells immer sagt - "
Chin Yuting konnte seine Begeisterung kaum zügeln. "Lassen Sie mich dieses Buch bei erster Gelegenheit sehen, Herr Nielsen. Lassen Sie mich die erste Lektion wiederholen."
"Ich hole es sofort," sagte Nielsen.
Als er auf dem Weg nach oben durch den Flur kam, sah er, daß die Post gekommen war. Für einen Moment vergaß er seinen eifrigen Schüler und beugte sich über den kleinen Stapel von Briefen und Zeitungen, dieses Lebenselixir aller Exilanten. Er schlug eine der Zeitungen von zuhause auf - den Jenkinsville Morning Examiner - und überflog die Schlagzeilen, während er langsam die Treppe hinaufstieg.
"Howells Mit Neuem Floh im Ohr", verkündete eine kleingehaltene Überschrift in der Rubrik "Lokales Allerlei" im Plauderton. "Trent C. Howells und sein Teilhaber Oscar Trentworth Lambie gestanden heute ein, daß ihr Projekt für eine Weltsprache ein Fiasko war. Trent zeigte sich heute morgen im Gespräch mit unserer Zeitung als guter Verlierer, der das Ende seiner Welt-Traums mit einem Lachen quittierte. 'Da gibt es nichts schönzureden,' gestand er freimütig ein. 'Unsere Mitgliederzahlen sind dramatisch zurückgegangen - vor allem nachdem Fräulein Zinnia P. Wicketts, der wir soviel verdanken, ihr Interesse verlor und sich dem Studium der byzantischen Baukunst zugewendet hat. Dreitausendneunhundertundzwölf Sprachlehrer, Sozialreformer und Logopäden haben unseren Fragebogen ignoriert, den wir vor sechs Monaten in alle Welt verschickt haben, um Tchotl zu fördern - und wir haben nur neun Lehrbücher verkauft - abgesehen von den achthundertsechzig, die wir kostenlos verteilt haben - eine brilliante Werbemaßnahme, die leider ohne jede Reaktion blieb. Tet (Oscar T. Lambie) und ich sind immer noch der festen Überzeugung, daß wir eine kapitale Idee verfolgt haben, als wir Tchotl entwickelt haben - aber die Welt ist nicht bereit für einen solchen Schritt - und das verweichlichte Europa hat sich gegen uns verschworen; dafür haben wir Beweise. Das ist alles Teil einer finsteren aristokratischen Verschwörung gegen die freie aufgeklärte Demokratie. Aber es nützt nichts. Von einem toten Pferd soll man absteigen, und Tet und ich wissen, wann wir verloren haben. Wir lassen es schlicht sein. Aber wir geben natürlich nicht auf: wir haben einen revolutionären Plan, der ein ganz neues wirtschaftliches Zeitalter eröffnen wird. Ich kann momentan noch nicht zuviel darüber verraten, ich frage nur soviel: haben Sie schon mal darüber nachgedacht, warum wir soviel Geld für Nahrungdsmittel ausgeben müssen - Fisch einführen, Weizen ausführen, Dosenspargel exportieren - während jeder von uns die ganze Zeit über direkt unter unseren Schuhsohlen -' Aber an dieser Stelle bemerkte Trent meinen neugierigen Blick und sagte nichts weiter. 'Oh nein, Sir,' lachte er. 'Sie werden mir das Geheimnis nicht entlocken. Die Welt wird bald alles darüber erfahren, wenn wir alle Details geklärt haben. Aber ich kann ihnen jetzt schon verraten, daß es eine ganz große Sache ist, und die größte aller Zeiten, was die Wirtschaft angeht. Tet und ich sitzen Tag und Nacht daran. Tchotl - das waren letztlich bloß Worte - aber hier geht es um Taten..."
Nielsen unterbrach seine Lektüre nur lang genug, um das Tchotl-Lehrbuch aus einer Schublade seines Schreibtischs zu holen, der Schwung seines Vorhabens hatte ihn so weit getrieben, bevor ihm aufging, welche Konsequenzen diese Meldung für seinen triumphalen Verkaufserfolg bedeutete. Immer noch grübelnd ging er die Treppe hinab. An der Wohnzimmertür blieb er kurz stehen. Für einen Sekundenbruchteil spielte sich vor seinem geistigen Auge eine unmögliche Szene ab, wie auf einer schlecht ausgeleuchteten Bühne: "Schauen Sie hier, Herr Chin, ich möchte, daß sie diese Meldung hier lesen. Ich nehme alles zurück..." Zurücknehmen? Die hehren Ideale einzusammeln - die rosigen Girlanden seiner Worte zusammenzuknüllen und in einem staubigen Winkel fortzuräumen - aufgeben und von vorne beginnen - und vor allem: etwas, das er erfolgreich verkauft hatte, zurückzunehmen ... jeder Instinkt in ihm sperrte sich gegen eine solche Zumutung. Worte waren sein Geschäft, seine Signatur - nichts durfte diese Spur seines Wirkens auslöschen. Worte waren Saatkörner, die er in die Seelen seiner Zuhörer pflanzte - es grenzte ja an Verrat, die aufkeimenden Sprößlinge auszureißen - Verrat am fruchtbaren Boden, Verrat am Sämann - jawohl: und nachgerade Lästerung des Hausherrn. Bestand nicht die ganze Pflicht des Menschen darin, Dinge Zu Vermitteln? Nielsen wandte seinen inneren Blick zum Gott des Vertreters und ihm ward die Gewißheit zuteil, daß seine höchste Dienstpflicht der Gelungene Verkauf war. Er trat ins Wohnzimmer. Herr Chin, dessen Hunger nach sofortiger allumfassender Brüderschaft durch das Warten noch angestachelt worden war, kam ihm entgegen und streckte die Hand nach dem Buch aus.
"Indem ich dieses Buch aufschlage," sagte Chin Yuting feierlich, "öffne ich auch die Tür zur Weltgesellschaft, Hinter dieser metaphorischen Tür stehen Tausende von Weltbrüdern bereit, so scheint es mir, und rufen - auf Tchotl - Willkommen, Bruder Chin! Bislang war ich taub und stumm durch das Übel der einen, der Nationalsprache, aber von nun an werde ich für alle Jahre frei sein von diesem Makel, und jedem, der nach Laopao gelangt, kann ich die Hand der Freiheit reichen und ihm auf Tchotl zurufen - Willkommen, Bruder! - öffne mir deine Gedanken und teile die meinen ..."
Nielsen zögerte nur lange genug, um die Zeitung um den Papierkorb fallen zu fallen. "Ich werde der Welt mitteilen, daß Sie recht haben, Bruder," sagte er.
* * *
"Tchotl" erschien 1932 in Stella Bensons Erzählungssammlung Christmas Formula and Other Stories, die im Londoner Verlag Joiner & Steele in the bibliophil aufgemachten Reihe The Furnival Books als Nr. 11 in einer Auflagenhöhe von 500 Exemplaren erschien. Die einzige auflagenstärkere Veröffentlichung erfolgte 1936 im postum erschienen Band Collected Short Stories (London: Macmillan). Als Textgrundlage für die Übersetzung diente das Examplar Nr. 43 der ersten Buchausgabe.
Das Name Laopao ist von Stella Benson erfunden; es gibt keine chinesische Stadt, die "alte Kanonen" - 老炮 - heißt; hinter dem im Auftakt umrissenen Ambiente verbirgt sich die Stadt Mengzi, 蒙自, im südlichen Yunnan, in der die Autorin in den 1920er Jahren lebte, zu Bensons Zeiten noch nach der alten französischen Translitation als Mengtz umschrieben. Diese oft recht divergenten Transliterationen waren (und sind) im Englischen als "post office names" geläufig. In der englischen Fassung ist die Schreibweise "Lao-pao"; die häufige Verwendung des Bindestrichs ist ein Kennzeichen der alten Wade-Giles-Transliteration; bei Namen aus Hongkong oder Singapur findet sie sich heute noch; ich habe mich nach der Usus der Pinyin-Umschreibung für die Kontraktion entschieden.
Herr Chin zitiert Coleridges "Rime of the Ancient Mariner" inkorrekt; statt "not a spot to drink" heißt es dort: "not a drop to drink." Die Schlußstrophe von W. E. Henleys 1875 veröffentlichtem Gedicht "Invictus" lautet:
It matters not how strait the gate,
How charged with punishments the scroll,
I am the master of my fate:
I am the captain of my soul.
Von den zu findenden Nachdichtungen im Deutschen befriedigt keine. Zwei Beispiele:
Egal, wie schmal der Grat wohl meines Strebens
War, genügend Strafen konnt´ ich nicht entgeh´n.
Dennoch: Ich bin der Lenker meines Lebens,
Ja, meiner Seele bin ich der Kapitän.
Was kümmert’s, daß der Himmel fern
und daß von Straf’ mein Buch erzähl’,
ICH bin der Meister meines Los´,
ICH bin der Captain meiner Seel’!
Mein erster tastender Versuch:
Ganz gleich, wie eng und schmal die Tür,
Wie hoch die Strafe, wenn ich fehle.
Mein Schicksal liegt allein bei mir:
Ich bin der Lenker meiner Seele.
U.E.
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