(Popular Science Monthly, September 1919)
Vorausgeschickt sei, daß es sich bei der ersten temporalen Wegmarke um kein "richtiges" Jubiläum handelt, sondern um ein Gerücht, eine "moderne Legende" (wie sie eben im Bereich der Wissenschafts- und Technikgeschichte ebenso auftreten wie in anderen Bezirken), und beim zweiten Datum um kein spezielles Vorkommnis, sondern nur eine gängige Meldung über eine seinerzeit kurrente Idee - die aber hierbei Gelegenheit bietet, das Thema nett zu illustrieren.
Die Idee, daß es sich bei den anderen Planeten unseres Sonnensystems um Welten gleich unserer Erde handele, war eine natürlich Konsequenz der kopernikanischen Revolution des sechzehnten und des frühen siebzehnten Jahrhunderts. die die Erde aus dem Mittelpunkt des Weltganzen, das als Empyreum um sie kreiste, "unter die Sterne versetzte" (der Anklagepunkt der Kirche gegen Galilei war nicht, daß er die Erde aus diesem Mittelpunkt gerückt hatte, sondern daß sie dadurch Teil des "Unwandelbaren", perfekten translunaren Bereichs geworden war, der nicht vom Sündenfall des ersten Menschenpaars dem Wandel und dem Verfall preisgegeben war. Die Kirche konnte in den zwei darauffolgenden Jahrhunderten mit dem Kompromißmodell Tycho Brahes gut leben, das die Sonne und die Fixsternsphäre weiterhin um sie kreisen ließ, während die übrigen Planeten des Sonnensystems ihre Bahnen um die Sonne zogen; dadurch fiel auch der neuralgische Punkt fort, daß mit den damaligen Teleskopen eine Fixsternparallaxe nachgewiesen werden konnt, also die aus dem heliozentrischen Modell zwingend folgende jährliche Verschiebung des Sternpositionen infolge des Umlaufs der Erde um die Sonne). Wenn die Erde "ein Planet" war, lag es nahe, daß sie ihr auch in anderer Hinsicht gleichkamen: durch ihre Bewohner. Die Diskussion über die "Vielfalt der bewohnten Welten" war bis zur Ägide Charles Darwins und der Evolutionstheorie Mitte des neunzehnten Jahrhunderts notwendigerweise theologisch grundiert: es war eines Schöpfers unwürdig, all diese Welten zu erschaffen, und im Anschluß an dieses Schöpfungswerk nur eine von ihnen vernunftbegabten Wesen als Heimstatt zuzuweisen. Daß die Bedingungen nach unterschiedlicher Sonnenentfernung, nach Jahresdauer und Schwerkraft sich dort in unterschiedlichen Anpassungen, in "fremden" Gestalten und Organen ausdrücken müßte, zieht sich wie ein roter Faden durch die "pluralistische" Literatur jener zwei Jahrhunderte. Aber WIE genau nun eine solche Anpassung aussehen müßte, blieb bis zur Durchsetzung der Evolutionstheorie, die die Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen als zentrales Element hatte, weitgehend ausgeklammert. Erst der Darwinismus hat "wirkliche Außerirdische" (wie sie uns dann bei den Marsbewohnern und Seleniten bei H. G. Wells oder seinem Zeitgenossen J. A. Rosny ainé entgegentreten) möglich gemacht. Dennoch war die Gewißheit, daß es "dort oben" vernunftbegabte Wesen gebe, ein Fixum der Abhandlungen zum Thema, seit Charles Bouvier de Fontenelle 1684 den ersten Klassiker jener Literatur verfaßte, die seither als "Populärwissenschaft" (im Französischen als Vulgarisation) die Erkenntnisse der Wissenschaft eine breiten Leserschaft zugänglich macht. Die Entretiens sur la pluralité des hondes habitables, die nächtlichen "Gespräche über die Vielzahl der bewohnten Welten," die der Erzähler im Schloßpark mit einer jungen, aber aufgeschlossenen Marquise führt, um zu demonstrieren, daß die Erkenntnisse der Wissenschaft, zumal der Himmelskunde, sogar "Kinder und Frauenzimmern" zugänglich sind, waren für die Verhältnisse der frühen Aufklärungszeit ein veritabler Bestseller. Fontenelle (der von 1657 bis 1757 lebte und von 1697 bis 1740 Generalsekretär des Académie des Sciences war) hat sein Büchlein bis in die 1720er Jahre in fünf weiteren Ausgaben immer wieder an die wechselnden Erkenntnisfortschritte der Astronomie angepaßt.
Wenn schon der tatsächliche Besuch dieser postulierten Brüder im Geiste nicht im Bereich nicht nur des technisch Durchführbaren, sondern auch nicht im Bereich der Vorstellbaren lag (daß die "Aerostaten," seit dem ersten Flug einer Montgolfiere 1783, hierfür im Vakuum des Weltraums nicht in Frage kamen, hat viele Autoren, die auf der Suche nach einer Transportmöglichkeit für ihre Protagonisten waren, nicht an ihrer Verwendung gehindert, von Eberhard Christian Kindermanns "Geschwinder Reise mit einem Luft=Schiff nach der oberen Welt" von 1744 bis zu Edgar Allen Poes "The Unparalleled Adventure of One Hans Pfaall" von 1835 - aber hier handelte es sich ebenso um literarische Zaubertricks wie bei den "astralen Traumvisionen" etwa in Humphrey Davys "Consolations in Travel: or, The Last Days of a Philosopher", die der englische Pionier der Chemie 1829 todkrank nach seinem zweiten Schlaganfall als philosophische Daseinsversicherung niederschrieb): gab es dann nicht, zumindest auf dem Papier, als theoretische Fingerübung, sich ihnen bemerkbar zu machen? Mit ihnen in einen Geistes- und Ideenaustausch zu treten? Und sei es nur, um hier - wir treten in das Zeitalter des Meßbaren, der empirisch Bewiesenen ein (*) - den Nachweis zu haben, "daß wir nicht allein sind", daß Blaise Pascals Satz über das Schweigen des Weltalls, "le silence éternel de ces espaces infinis m'effraie" seine Gültigkeit verlieren würde? (* dieselbe Verschiebung zum positivistisch Beglaubigten sehen wir im Aufkommen des Spiritismus in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts: das Tischrücken, die angeblichen ektoplasmischen Materialisierungen, die "Mediumschriften", die Protokolle der Séancen: all dies tritt als materielle, anfaßbare Zeugnisse an die Stelle der alten Visionen und Traumbotschaften.) Auf welche Weise wäre eine Umsetzung eines solchen Vorhabens anzugehen?
I. 1819
Für das erste Projekt dieser Art, das in der Literatur (zum Thema "Kontakt mit Außerirdischen" wie in der zeitgenössischen Publizistik jener Jahre) auftaucht, stehen zwei Namen: der des österreichische Astronomen Johann Joseph von Littrow (1781-1840) und des Göttinger Physikers Carl Friedrich Gauss (1777-1855) sowie zwei Jahre: 1819 und 1822. Nur haben beide Varianten mit dem kleinen Schönheitsfehler zu kämpfen, daß ihnen das Vorhaben, den Bewohnern von Mond oder Mars mit Lichtsignalen Kenntnis von unserem Dasein und unserer Vernunftbegabung zu vermitteln, zwar in den Presseberichten der folgenden Jahrzehnte zugeschrieben wurde, sich davon aber in ihren Schriften keine Spuren finden. Ungeachtet dessen hat sich dieses Gerücht bis heute gehalten. Das Weltlexikon Nr. 1 Wikipedia führt unter dem Lemma Communication with extraterrestrial intelligence als Pioniervorhaben an:
Joseph Johann Littrow proposed in 1819 to use the Sahara as a sort of blackboard. Giant trenches several hundred yards wide could delineate twenty-mile-wide shapes. Then the trenches would be filled with water, and then enough kerosene could be poured on top of the water to burn for six hours. Using this method, a different signal could be sent every night.
und nennt als Quelle Patrick Moores Buch Our Universe, an Introduction (2008), S. 52. (Patrick Moore (1923-2012), den man nicht mit dem gleichnamigen Mitbegründer von Greenpeace verwechseln sollte, hat sich im englischen Sprachraum durch seine monatlsch von der BBC ausgestrahlte Serie "The Sky at Night", die er von der ersten Sendung im April 1957 bis zu seinem Tod moderierte, den Ruf einer absoluten Autorität erworben, gegen die der Ruf des "Raumfahrtprofessors" Heinz Haber, der älteren Lesern noch aus dem Zeiten der Mondlandungen des Apollo-Programms ein Begriff sein dürfte, leichtgewichtig zu nennen wäre. Aber auch felsenfeste Koryphäen können nicht jede Facette ihres Wissens eigenhändig verifizieren und sind auf die Richtigkeit des Vorgefundenen angewiesen. And even Jove nods occasinally...) Tatsache ist, daß Littrows Projekt, ein gigantisches Flammensignal mit brennendem Öl der Wüste einzuschreiben, sich weder in den drei Bänden der Vermischten Schriften von 1846, in dem sich seine kleinen Miszellen und Zeitungsbeiträge finden, noch in der letzten zu Lebzeiten edierten Fassung seines meistgelesenen populären Hauptwerks Die Wunder des Himmels (in 3 Bänden 1834-36; in einem Band 1837, dritte Auflage 1842) findet. Allein in Berichten des nächsten Jahre wird es erwähnt: etwa 1847 in einem Vortrag von François Arago oder im Vorwort zu Patrick Scotts längst vergessenem Langgedicht Love in the Moon von 1853; bei Asaph Hall - dem Entdecker der Marsmonde - 1878 oder beim Popularisator der Himmelskunde, Norman Lockyer, 1892 - die es vage "einem deutschen Astronomen" zuschreiben und Sibirien an die Stelle der Sahara setzen. Simon Newcomb (der Technikgeschichtlern durch seinen Versuch bekannt ist, daß er 1902 mit einem dampfbetriebenen Zwölfdecker-Flugzeug beim Startversuch einen spektakulären Trümmerhaufen hinterließ) schrieb das Projekt im gleichen Jahr "dem deutschen Astronomen Zach" zu und erweiterte die Kantenlänge des rechtwinkligen Dreiecks, das als geometrische Figur gesendet werden sollte, auf "several hundred miles", um vom Mars statt vom Mond aus wahrgenommen zu werden. Gauss, dem die Facette zugeschrieben wird, den Satz des Pythagoras als Illustration der universalen Sprache der Mathematik zu verwenden, dürfte aufgrund seiner Erfindung des Heliostats von 1818 in diese Überlieferungskette gelangt sein, mit dem mit Hilfe von Konvexspiegeln gebündelte Lichtsignale als Blinkzeichen über mehrere Kilometer Distanz gesendet werden konnten. Immerhin gibt es eine Stelle in einem Brief von Gauss an Heinrich Olbers vom 25. März 1825, in dem er davon spricht, daß es möglich wäre, mit einhundert weiträumig verteilten Heliostaten ein Lichtsignal zu erzeugen, das auch vom Mond aus wahrgenommen werden könnte. Von der ihm zugeschriebenen Umsetzung, den 47. Lehrsatz Euklids in den Weiten der Tundra Sibiriens dadurch zu kommunizieren, daß riesige Weizenfelder in dieser Form angebaut sollten, findet sich freilich bei ihm nichts. Daß das Jahr 1819 im Zusammenhang mit dem Namen Littrows genannt wird, mag damit zusammenhängen, daß Littrow in diesem Jahr zum Leiter der neugegründeten Wiener Sternwarte ernannt wurde. (Littrows Name mag Zeitzeugen der Mondlandungen vor einem halben Jahrhundert nur dadurch noch fern im Ohr liegen, weil die letzte Expedition, Apollo 17, im Dezember 1972, mit dem Geologen Harrison Schmitt an Bord, die Hügelregion Taurus-Littrow im südöstlichen Teils des Meers der Ruhe zum Ziel hatte.)
II. 1869
Für das folgende Datum, ein halbes Jahrhundert später, stehen wir auf gesicherteren Füßen. In diesem Jahr hielt Charles Cros (1842-1888), ein heute fast völlig vergessener Exzentriker, Erfinder (wir würden heute "Bastler" sagen, wenn das nicht auf so viele Erfinder jener Zeit zuträfe) und angelegentlicher Bohemien im Rahmen der populären abendlichen Vortragsreihe am Boulevard des Capuchins, die Camille Flammarion (DER namhafte Popularisator der Astronomie in Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts), im Mai ein Referat über die Möglichkeiten und technischen Voraussetzungen, die nötig wären, um ein elektrisches Bogenlichtsignal zu erzeugen, das entweder mit Augen, deren Leistungsfähigkeit dem menschlichen gleichkäme, oder aber mit Teleskopen von den anderen Planeten des Sonnensystems wahrgenommen werden könnten. Flammarion (1842-1925) veröffentlichte die Druckfassung des Vortrags in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Cosmos in den Ausgaben vom 21. und 28. August 1869 (3e série, tôme 5, Seite 192 und 215) unter dem Titel "Moyens de communication avec des planètes." Dieser Erstdruck findet sich leider nicht auf dem Weltnetz, dafür aber der Nachdruck, den Flammarion 1897 im Bulletin des la Société Astronomique de France et Revue Mensuelle d'Astronomie, de Météorologie et de Physique de Globe (puh...), Band I, S. 368-78, veröffentlichte.
Der gesamte Text kann hier nachgelesen werden.
Cros' Überlegung (denn mehr als ein prinzipieller Überschlag über die Rahmenbedingungen eines solchen Unterfangen stellt es nicht dar) blieb nicht unwidersprochen. Kritiker wendeten ein, daß die erforderliche Energieleistung technisch nicht zu bewerkstelligen sei, daß die Kosten eines solchen zweifelhaften Unterfangens astronomisch ausfallen würden, daß die Erde, wenn sie sich in größter Nähe zu den "angefunkten" Himmelskörpern befinde, von dort aus gesehen im Glast der Sonne verschwinde und es aussichtsreicher wäre, es bei größtmöglichem Winkelabstand zur Sonne zu versuchen, mit entsprechend größerem Abstand - und daß es die Adressaten womöglich gar nicht existieren würden. Damit hatten sie zwar recht, aber das verkennt die Natur eines solchen Überschlags, der eben eine Blaupause für eine Umsetzung darstellt, sondern ein Gedankenexperiment, ob ein als unmöglich erscheinendes Ziel überhaupt in den Bereich des zu Verwirklichenden gerückt werden könnte.
Cros ist heute eher als ein gescheiterter Erfinder bekannt (soweit sein Name überhaupt noch bekannt ist). Im gleichen Jahr, 1869, entwarf er eines der ersten Verfahren zur Farbphotographie, das auf der Addition der drei Primärfarben aus drei bei der Entwicklung übereinanderkopierten Einzelaufnahmen beruhte (bis zur Entwicklung eines dreischichtigen Farbfilms, der alle drei Filterungen des Spektrums auf demselben Negativ vereinte, in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, blieben die Hunderte von Pionierversuchen in diesem Bereich ein unpraktisches Provisorium). 1877 entwarf er, freilich nur theoretisch, ein Verfahren zur Aufzeichnung von Tönen, das durch die praktischen Demostrationsmodelle von Thomas Alva Edison und Emil Berliner Teil jener gescheiterten Parallel-Anläufe wurde, die so viele Bereiche technologischer Innovation kennzeichnen.
In Cros' Fingerübungen in Literatur findet sich sei Interesse an "interplanetarischer Kommunikation" ebenfalls, etwa im "Sonett astronomique" aus der Sammlung Le coffret de Santal von 1873 oder der kleinen Erzählung "Un drame interastral" von 1872.
III. 1919
Bei der dritten Station auf unserem Weg durch die Jahrzehnte handelt es sich mit um einen Fixpunkt, sondern um eine zufällige Illustration "einer Idee, die zu jenen Jahren in der Luft hing"; daß ihr Datum, vom September 1919, sich gut in die Serie der geraden Jubiläen einreiht, ist reiner Zufall. Damals nämlich, vor einem Jahrhundert und zwei Monaten, nahm die reichhaltig illustrierte Monatszeitschrift Popular Science Monthly, die seit 1872 den Fortschritt der Technik mit dem Flair eines Boulevardblattes begleitete, die Fertigstellung eines kleinen Zeichentrickfilms unter der Regie von Max Fleischer zum Anlaß, ein paar Standbilder zum Anlaß einer Photostrecke zum Thema "Hallo Mars!" mit kurzen Erläuterungen zu machen. Der österreichstämmige Fleischer (1883-1972) war in dem Jahrzehnt vor der Ägide Walt Disneys so etwas wie der "König des Animationsfilms". Seine Serien um Popeye the Sailor oder Koko the Clown waren die Vorläufer von Mickey Mouse oder Tom & Jerry (deren Dynamik und überdrehte Verve die Pioniere schnell altbacken aussehen ließen). Wer sich noch an Falsches Spiel mit Roger Rabbit erinnert, kennt vielleicht noch den ungelenken Auftritt von Fleischers ehemals bekanntestem Toon Betty Boop, dessen klotzige Unbeholfenheit neben dem lässig-laszivem Dahinfließen der femme fatale Jessica Rabbit an dieser Stelle der jetzt auch drei Jahrzehnte alten Komödie einen unerwarteten Touch von Wehmut verleiht. Ende der Zehnerjahre drehte Fleischer mit dem damals neuen Rotoskop-Verfahren mehrere kurze Zeichentrickstreifen für das Studio Goldwyn (das nach den späteren Fusionierungen im Hollywood-Giganten Metro-Goldwyn-Maier aufging), deren Sujet nicht Slapstick, sondern das zeitgenössische Interesse an Technik und Wissenschaft war. (Wir erinnern uns, daß 1919 das Jahr war, in dem Arthur Eddington der Nachweis der Einsteinschen Relativitätstheorie gelang und Einstein "eines Morgesn erwachte und sich als Berühmtheit wiederfand.") Neben All Aboard for the Moon war es in diesem Fall Hello Mars - This is the Earth! Freilich teilt dieser kleine Streifen, von dem einzig bekannt ist, daß er über eine Länge von einer Filmrolle verfügte, also maximal 11 Minuten lang lief (wahrscheinlich weniger) das Schicksal von Abertausenden von Kintopp-Amüsemangs de Stummfilmzeit: es handelt sich um einen "lost film", einen verlorenen Streifen, von dem kein Exemplar die Zeiten überstanden hat. (Das kann sich freilich ändern: es ist nicht selten, daß verloren geglaubte Filme beim Sichten der Rollen in den Filmarchiven oder auf nie durchforsteten Speichern wieder auftauchen. Bekannteste Beispiele sind die allererste "Frankenstein"-Verfilmung durch Edison von 1910 oder die erste Bewegtbebilderung des Untergangs der RMS Titanic, die Mime Misu 1912 für die Continental Film 1912 aus dem Berliner Müggelsee nachstellte.) Bis dahin stellen die Illustrationen in Popular Science Monthly die einzigen Spuren dieses nicht wirklich vermißten Meilensteins der Filmgeschichte dar.
Um einen Eindruck von dem heute etwas bizarr wirkenden Stil dieser Publikation zu vermitteln, sei es erlaubt, die beiden folgenden Seiten dieser Ausgabe ebenfalls herzusetzen - auch wenn sie mit unseren eigentlichen Thema nichts zu tun haben. Die Obsession für die Abenteuer der tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten ist absolut zeittypisch.
Im Popular Science Monthly herrscht noch das Spiegelsignal ("they do it all with mirrors!"). In der "wirklichen Welt" der Technikträume und phantastischen Imagination war dies zu dieser Zeit schon an die Marconi-Wellen, an die drahtlose Telegraphie abgegeben worden Der erste Vorschlag, "Hertz'sche Wellen" zum Behuf interplanetarischer Kommunikation einzusetzen, stammt aus dem Jahr 1899; in der praktischen Nutzanwendung der phantastischen Literatur wäre als Pioniertext Hans Dominiks Erzählung "Ein Experiment" zu nennen, die 1913 den 46. Band der Jugendbuchreihe Das neue Universum aufmachte: die meisten der 26 Seiten widmen sich den technischen Spezifikationen der gigantischen Gitterfunkantenne, der Generatorenbatterien, die von den Wassermassen der Niagarafällen angetrieben werden, und der Versicherung, daß eben Mars "eine Wiege des Lebens" sein müsse. Die Antwort der Marsbewohner auf die ausgestrahlten Primzahlfolgen stellt eine Serie stets gleichlanger Impulse mit unterschiedlichen Längenintervallen dar, und als diese über eine mit Phosphor beschichtete Glasscheibe von oben nach unten projiziert werden, zeichnet sich auf diesem wohl ersten Bildschirm vor den Augen der ehrfürchtig erstarrten Beobachter "das erste Bild des Bewohners einer anderen Welt" ab.
Das Gauss'sche Dreieck hingegen erlebt noch ein kleines Nachspiel, an unerwarteter Stelle. In der London Evening News vom 10. März 1945 erschien eine jener kleinen Erzählungen, mit denen der irische Pionier des Fantasy, Lord Dunsany (Edward Drax Moreton Plunkett, 18th Earl of Dunsany, 1878-1956) die zweite Hälfte seines langen Autorenlebens ausfüllte, nachdem die phantastischen Kurzerzählungen, die ihm seinen literarischen Ruf gesichert haben, die Wunder- und Legendenstoffe, die völlig in einer sekundären Welt von Drachen, Göttern, Dämonen und finster ironischen Wendungen stattfinden, nicht mehr sein Interesse fesselten: den Club-Erzählungen um Jorkens, der den staunend und meist ungläubig lauschenden Mitmitgliedern die unglaublichsten (und leider oft auch unglaublich platten) Münchhausiaden serviert. "The Rebuff", "die Abfuhr," 1948 in The Fourth Book of Jorkens in Buchform gesammelt, handelt darum, daß das Gauss'sche Projekt tatsächlich, wenn auch unter Verschluß, zur Ausführung gelangt ist: "We have been in communication with Mars for years." (Das Testament, in dem ein Geldpreis für die Kommunikation mit fremden Planeten ausgesetzt wurde, hat es tatsächlich gegeben: es handelt sich um den Priz Pierre Guzman, den die Witwe des Millionärs Marc Guzman, auf die Summe von 100.000 Franc beziffert, 1891 in ihrem Testament für eben diesen Zweck auslobigte. Freilich hat die französische Regierung dies nie angefochten; der Preis ist mehr fach vergeben worden, zuletzt 1969 an die Mannschaft von Apollo 11.)
"You may not know," said Rowston "that sometime in the last century a woman left a will providing money to communicate with Mars." ... "She was a Frenchwoman," he went on, "and the scientists to whom mone was left had decided to mark out in bonfires all over the North of France the diagram of that wonderful proposition from the first book of Euclid which proves that the square on the base of any right-angled triangle is equal to the sum of the squares on the sides."
...
"And what happened?" one of us asked.
"What happened," said Rowston, "that the French ogvernment decided the woman was mad, and her legacy frivolous, and refused to allow the money to go where she had directed." [...] "She was not mad," said Jorkens. "She was perfectly sane, and the sign was eventually made, and Mars answered."
"And why don't we know it?" asked Rowston.
"Because it was all hushed up," said Jorkens.
[...]
"They replied with another right-handed triangle, but with different arrangenemnts from ours. It had one of its sides produced to a distance about equal to its original length, while the other side was produced to about four times its length, stretching North to South across the plains of Mars." "You say the length of one of the sides was doubled and the other quadrupled," said Rowston judicially.
[...]
"But what was the message?" asked Rowston, which was what we all wanted to know.
"Well," said Jorkens, "you can see it for yourselves by drawing the figure on paper: it is very easily done, a long straight line, as I told you, going from North to South, and a shorter one at the top going away at right angles, then then -"
"Like a signpost," said an ordinary member with no taste for science.
"Wait a minute," said Jorkens. "You've forgotten the base of the triangle. Signposts don't usually have cross-bars."
"Why no," said another of us. "More like a gallows, you mean."
"The message," said Jorkens, "simply meant: go and hang yourselves."
Geht und hängt euch auf...
Um dies freilich nicht ganz in Sardonik ausmünden zu lassen, sei als musikalische Coda der Ragtime "A Signal from Mars" von Raymond Taylor aus dem Jahr 1901 hergesetzt.
SO geht Steampunk.
Puristen werden bemängeln, daß es sich hier strenggenommen nicht um "Ragtime" handelt und können auf die Phrasierung, die Synkopenläufe und ähnliches verweisen. Trotzdem: auch die meisten Ragtime-Stücke, einschließlich der bekannten Piecen von Scott Joplin, sind damals, wie hier, für mechanische Klaviere geschrieben worden und fanden eher nicht als Partituren für den Hausgebrauch, sondern als gestanzte Papierrollen für die Player pianos Verbreitung. Bevor jemand entgeistert fragt: was ist das für ein satanischer Leierkasten? - Es handelt sich um einen "American Fotoplayer", wobei sich der zweite Teil des Namens auf das gehobenere Synonym zu "movie" bezieht, "foto/photoplay". Im Grunde handelte es sich um ein automatisches Klavier, das azur Untermalung der Stummfilmstreifen in den frühen Kinos gedacht war; die ebenfalls von den Rollen angesteuerten Orgel- und Trillerpfeifen und das Pauken wurden durch die Tasten oberhalb der Klaviatur zugeschaltet, um bei Bedarf den Lärm in angemessener Weise zu vermehren. Zur Bedieung brauchte es keiner Musikausbildung; es reichte, das Geschehen auf der Leinwand mitzuverfolgen. "American Fotoplayer" war der Hauptproduzent auf diesem Gebiet, bis das Geschäft mit dem aufkommenden Tonfilm sein Ende fand. Zwischen 1912 und 1925 wurde zwischen 8000 und 11000 Exemplare angefertigt; heute sind noch etwas 50 davon erhalten, von denen sich noch ein Dutzend in spielfähigem Zustand befindet.
Der Titel des Stücks hat verdankt sich freilich dem topischen Zufall und hat nichts mit dem Roten Planeten zu tun: Zu Anfang des Jahres hatte Nikola Tesla in mehreren Zeitungsinterviews (etwa in San Francisco Examiner angegeben, bei seinen Experimenten mit drahtloser Signalübertragung mehrere Impulse empfangen zu haben, deren irdischen Ursprung er dezidiert ausschloß und die seinem Dafürhalten nur außerirdischen Ursprungs - also aller Wahrscheinlichkeit nach vom Mars stammten. Das markierte den Beginn seines Abschieds vom ernstzunehmenden Technik-Innovator hin zum ersten genuinen "Mad Scientist" der Technikgeschichte, der mit Ankündigungen von Taschenvibratoren, die Brücken und Hochhäuser zum Einsturz bringen konnten und Todesstrahlenkanonen endete.
Und weil es so schön war: hier noch "The Ben Hur Chariot Race" von 1894:
U.E.
© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.